- OT: Free to Choose - Popeye, 13.01.2003, 15:02
OT: Free to Choose
--> Termin mit dem Tod
Jan Dirk Herbermann, Handelsblatt
Eine Schweizer Organisation offeriert ihren
Mitgliedern Sterbehilfe. Das Angebot kommt an,
auch wenn es viele verurteilen. Allein 75
Deutsche haben sich in den vergangenen
Jahren in einem Zürcher Appartement getötet -
die Chronik eines letzten Lebenstages.
Um 3.45 Uhr rattert zum letzten mal im Leben
Ernst-Karl Aschmoneits der Wecker. An diesem 9.
Januar 2003 will er sich töten. Der Parkinson-Patient
zieht das bereitgelegte weiĂźe Hemd und den grauen
Anzug an, dazu die rote Krawatte. Dann macht er
noch einmal sein Bett. „Das stehe ich durch“, sagt er
sich. Um 4.30 Uhr hält das Taxi vor der Tür des
Wohnstifts. Im Flughafen Hamburg isst Aschmoneit
sein letztes Frühstück, Käseschnitte und schwarzen
Tee. Kurz nach 7 Uhr hebt der Jet ab: zu Aschmoneits
letztem Termin, in ZĂĽrich.
Der Mann aus dem schleswig-holsteinischen Mölln ist
2003 der erste Deutsche, der in der Schweiz Suizid
verĂĽbt. In den vergangenen Jahren waren es 75
BundesbĂĽrger. Alle machten ihrem Leben bei der
ZĂĽrcher Sterbehilfeorganisation Dignitas ein Ende.
„Die Deutschen sind inzwischen die stärkste Gruppe,
die wir in den Freitod begleiten“, sagt Ludwig A.
Minelli, 70. Der Dignitas-Generalsekretär führt 940
Deutsche als Mitglieder - viele von ihnen werden
vielleicht auch irgendwann ihrem Leben ein Ende
setzen.
8.40 Uhr. ZĂĽrich Flughafen. Minelli nimmt Aschmoneit
in Empfang. „Der Flug war sehr anstrengend“, sagt
der pensionierte Oberingenieur Aschmoneit. „Aber
die HebebĂĽhne, mit der die mich aus dem Flugzeug
hievten, die war Spitze.“ Aschmoneit kann kaum noch
gehen, er ist die meiste Zeit an den Rollstuhl
gefesselt. Die Parkinsonsche Krankheit zerstört
langsam seinen Körper. Der groß gewachsene Mann
fühlt nur die Knochen, wenn er sitzt. Immer schärfer
peinigt ihn der Muskelschwund. „Ich könnte noch ein
paar Wochen normal leben“, sagt er. „Aber ich will
kein Pflegefall werden, deshalb mĂĽssen wir das jetzt
durchziehen.“
Vor sieben Jahren verlor er seine Frau, er hat nur
noch einen Neffen. Aschmoneits Augen sind mĂĽde,
sein weißer Vollbart bedeckt die Hälfte des Gesichts.
Der 81-Jährige lächelt. Die winterlichen Vororte
ZĂĽrichs rauschen an ihm vorbei, die Fahrt zu Minellis
Haus dauert 40 Minuten. Jetzt hat Aschmoneit eine
Pause.
Seit 1998 hat Minelli 144 Frauen und Männer den
Weg in den Tod gezeigt. Warum? „Es gehört zu
meiner Natur, Menschen zu helfen“, entgegnet der
Rechtsanwalt. „Jeder soll das Recht haben,
menschenwĂĽrdig zu leben und menschenwĂĽrdig zu
sterben.“ Die Schweizer haben sich die liberalste
Regelung der Sterbehilfe in ganz Europa gegeben.
Nur wer „selbstsüchtig“ anderen Menschen beim
Freitod assistiert, muss mit Strafe rechnen.
Die erfahrenen Dignitas-Helfer reichen den
Sterbewilligen eine Lösung Natrium-Pentobarbital in
Wasser. „Das wirkt schnell, sicher und schmerzlos“,
sagt Minelli.
Den tödlichen Trunk nahm auch Sigrid aus
Deutschland. Die 49-Jährige wollte nur noch von
ihrem Martyrium „erlöst“ werden. Nach sechs
Chemotherapien, Brustamputationen und Leukämie
hatte der Krebs auch ihre Knochen angefallen. Kurz
vor ihrem Tod zĂĽndete sich Sigrid eine letzte Zigarette
an. „Die gönne ich mir noch.“ Sie starb im
vergangenen Sommer.
Nicht jeder Suizidkandidat entscheidet sich wirklich fĂĽr
den finalen Schritt. Ein 21-jähriger Auszubildender aus
OsnabrĂĽck wollte 2001 bei Dignitas einen Termin fĂĽr
den Tod vereinbaren. Der junge Mann fĂĽhlte sich als
Versager, hatte angeblich sein Abitur erschwindelt
und kam soeben aus einer psychiatrischen
Einrichtung. Zwei Tage löcherte er Minelli mit der
Frage, wie er risikofrei sterben könne: Erhängen,
Einschlafen auf einem eisigen Gletscher oder
Verhungern? Dem Dignitas-Chef gelang es, seinem
lebensmüden Gast wieder Mut einzuflößen. Sie
gingen gemeinsam schwimmen, beobachteten mit
dem Teleskop den Sternenhimmel. „Heute geht es
dem jungen Mann prächtig“, erzählt Minelli. „Aber es
waren fünf harte Tage Arbeit.“
Um 12.30 Uhr trinkt Aschmoneit seinen letzten
schwarzen Tee. Er erinnert sich. Der Krieg. Beim
Luftgaukommando I war er in OstpreuĂźen stationiert.
„Wenn der Hitler in seinem Hauptquartier in unserer
Nähe saß, liefen die Drähte heiß.“ Kurz vor dem Sturm
der Roten Armee auf Deutschland dachte Aschmoneit
zum ersten Mal an Selbstmord. Er wollte nicht den
Russen in die Hände fallen. Später wurde der
Unteroffizier von den Amerikanern aufgegriffen. „Ich
hatte viel Glück im Leben.“ Aschmoneit lächelt.
Doch mehr als ein halbes Jahrhundert später ist
Aschmoneits Entschluss endgĂĽltig. In Deutschland
hätte er keine legale Sterbehilfeorganisation
gefunden. Die Regeln sind komplex. Die Begleiter
müssten spätestens nach der Einnahme der
todbringenden Tinkturen durch den Sterbewilligen
einen Notarzt alarmieren. Wenn nicht, muss sich die
Vertrauensperson auf eine Strafverfolgung wegen
Tötung durch Unterlassen gefasst machen. In der
Bundesrepublik baute man nach dem
Nazi-Massenmord an Behinderten vor: Jede
Erinnerung an die Euthanasie sollte vermieden
werden.
Um 13.30 Uhr hat Aschmoneit seinen letzten
Arzttermin. Der alte Herr aus Mölln bringt einen
ganzen Stapel Belege mit. Drei deutsche
Universitätskliniken diagnostizierten bei ihm
Parkinson. Eine Heilung sei ausgeschlossen. Der Arzt
fragt Aschmoneit, ob er wirklich aus dem Leben
scheiden wolle. „Ja.“ Dann schreibt der Mediziner ein
Rezept für den tödlichen Natrium-Cocktail. Die Visite
dauert eine Stunde. „Es war ein gutes Gespräch“,
sagt Aschmoneit. „Der Mann hatte Verständnis.“
Andere Mediziner in der Eidgenossenschaft lassen
kein gutes Haar an der Freitodbegleitung. FĂĽr Oswald
Oelz, Chefarzt fĂĽr Innere Medizin am Triemli-Spital in
Zürich, brauchen Suizidgefährdete Lebenshilfe. Keine
Sterbehilfe. Oelz rĂĽckt Minellis Organisation sogar in
die Nähe der „Dinge, die vor 50 Jahren in Europa
passierten“. Mehr will er dazu nicht sagen.
Sein Kollege Klaus Ernst, ehemaliger Leiter der
Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, fürchtet
einen „Werther-Effekt“. „Suizide haben
Modellwirkung“, erklärt der Professor. „Durch
organisierte Sterbehilfe erhöht sich die
Selbstmordrate in einer Gesellschaft.“
Auch Politiker wie die Abgeordnete Dorle Vallender
nehmen Minelli ins Visier. Sie will die Sterbehilfe auf
Personen beschränken, die in der Schweiz leben.
Dadurch solle verhindert werden, „dass Zürich, Bern
oder andere Städte zu einer Drehscheibe des
internationalen Sterbetourismus werden“.
Ebenso liegt die ZĂĽrcher Staatsanwaltschaft mit
Minelli im Clinch. Die Behörde muss nach jedem
Suizid ein Verfahren einleiten. Die Ermittler mĂĽssen
klären, ob ein Delikt vorliegt. Eine Anklageschrift
wurde Dignitas jedoch noch nie zugestellt.
15.30 Uhr. GertrudstraĂźe 84. ZĂĽrich. Minelli begleitet
Aschmoneit in das Dignitas-Appartement. Zwei
Betten, ein Tisch, vier StĂĽhle, einige Bilder. In dem
Raum neben der KĂĽche haben sich bereits Dutzende
Menschen das Leben genommen.
Minelli: „Herr Aschmoneit, wollen Sie einen Kaffee?“
Aschmoneit: „Wenn noch Zeit bleibt.“
Minelli: „Wir haben so viel Zeit, wie Sie wollen. Sie
können jederzeit von ihrem Entschluss zurücktreten.“
Später fragt Minelli seinen Gast ein letztes Mal, ob er
wirklich in den Freitod gehen will. Aschmoneit sagt
leise Ja. Minelli verabschiedet sich. Später schluckt
der alte Herr aus Deutschland die todbringende
Mixtur. Zwei Begleiter von Dignitas sind dabei.
Ernst-Karl Aschmoneit stirbt um 18.54 Uhr.
Quelle: Handelsblatt vom 13.1.03

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