- Alles verfressen - vladtepes, 18.01.2003, 11:08
- Traurig und wahr - Yak, 18.01.2003, 11:21
- Re: Traurig und wahr - chiron, 18.01.2003, 15:24
- Traurig und wahr - Yak, 18.01.2003, 11:21
Alles verfressen
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Kommentar
Alles verfressen
Harald Jähner
Ein einfacher, blau gestrichener Holztisch, auf den Sand gestellt, mit Blick aufs Mittelmeer. Vier Stühle, eine karierte Tischdecke. Auf einem weißen Teller ein wenig Essig - und Ã-l mit der in Oliven konzentriert gespeicherten Energie tausender Sonnenstunden. Weißes Brot, über dessen Geschmack man, namentlich bei der knusprigen Kruste, eine halbe Stunde diskutieren könnte. Fisch, der nur wenige Kilometer Autofahrt hinter sich hat und vor Stunden noch im Wasser schwamm. Ein Wein aus der Region, der auf einzigartige Weise mit der Luft zu harmonieren scheint. Nimmt man ihn mit nach Hause, über die Alpen, schmeckt er nicht mehr. Und noch der Käse, der auf seine gereifte Weise die Kräfte von Gras, Vieh und Boden enthält, verkoppelt die Menschen mit den Elementen. Es ist die Erde, die sie gesund erhält. Was sie dort tun an diesem Tisch, ist das Wichtigste im Leben. Sie essen.
Der blaue Tisch gehört zu einem Traum vom Urlaub und er ist zugleich der Schlüssel dafür, warum der Urlaub erholsam ist. In den Ferien rückt man das, was im Leben wichtig ist, wieder ins Zentrum. Nicht, dass die Arbeit unwichtig wäre, aber ihr ursprünglicher gattungsgeschichtlicher Zweck, genügend Essen in den Magen zu bekommen, hat sich im Laufe der Arbeitsteilung so gut wie verflüchtigt. Im Verlauf unserer Alltagsgeschichte hat sich das Essen von einer täglich wiederholten Urszene des Lebens zu einer hastig absolvierten Nebensache zurückentwickelt. Mit dem Blick auf den Fernseher wird jetzt ein geschmacklich undefinierbarer Papps aus der Mikrowelle eingenommen, dessen Geschmack weniger vom Gericht selbst als von seinem italienisch oder französisch klingenden Namen suggeriert wird. Zusammen mit einem lügenhaften Foto auf der Packung wird auf diese Weise statt des Essens nur noch dessen Idee hervorgebracht.
Es gibt zahllose Deutsche, die ihrem Sechs-Zylinder-Auto niemals Schlechteres als Super-Plus-Benzin gönnen würden und nur das teuerste Synthetiköl, welches sogar für einen Ferrari übertrieben ist. Für sich selbst aber halten sie ein Ei, das wirklich nach Ei schmeckt, für überteuert. Nur noch ein winziger Teil der Arbeitskraft wird in Deutschland für das Essen verausgabt, und er gehört zu den eher gering geachteten. Im gesellschaftlichen Ansehen steht der Koch, von der Spitzengastronomie abgesehen, hinter dem Kellner. Wer sich zum Hausfrauen- oder Hausmanndasein bekennt, wird noch immer mit Verachtung gestraft. Er schafft nach der überkommenen deutschen Werteskala ja nichts Bleibendes. Appetit gilt vielen als Befindlichkeitsstörung, die den Körper am Erhalt der Ideallinie hindert.
Derart missachtet, sinkt die Bereitschaft, für das tägliche Essen Geld auszugeben, kontinuierlich. Der Anteil der Nahrungs- und Genussmittel am Verbrauch privater Haushalte lag 1965 noch bei 40 % und ist inzwischen auf 18 % gesunken. Die Deutschen liegen damit im europäischen Vergleich hinsichtlich der Missachtung der eigenen Körper vor den Niederlanden an vorletzter Stelle. Angeführt wird die Liste vom opulent schlemmenden Griechenland (35,3 %) und von Portugal.
Im scheinbaren Gegensatz zu den absoluten Zahlen zeigt ein Blick in die meisten Supermärkte eine deutliche Besserung des Lebensmittelangebots: Die Palette von gutem Brot, von Bio-Eiern, hochwertigem Fleisch und gutem Gemüse wird größer. Statistisch gesehen schrumpft aber das mittlere Preissegment: Immer mehr Leute greifen zu erstklassigen und immer mehr zu ganz billigen Waren. Daraus lässt sich der Schluss ziehen, dass geringer Verdienende zuerst am Essen sparen. Der gesellschaftliche Prestigekampf wird bei Autos, vielleicht noch bei der Kleidung ausgefochten: dort, wo es niemand sieht, bei sich selbst, wird zum Billigsten gegriffen. Die fortgesetzte Gesundheitsverletzung hat soziale Ursachen, und Renate Künast ist gut beraten, ihren Kampf für eine Verbesserung der Nahrungsmittelqualität nicht als Angriff der Toskana-Fraktion auf das Portmonee der einfachen Bevölkerungsschichten missverstehen zu lassen.
Eine Gesellschaft, die mehr Geld für das Autofahren ausgibt als für das Essen, kann sich hinsichtlich der permanenten Missachtung des eigenen Lebens nicht pauschal mit materieller Not herausreden. Viel eher handelt es sich hier um eine physische Verelendung, die mit einem völlig verdrehten Verständnis von Wohlstand zu tun hat. Er hat alles verfressen, sagt man hier zu Lande noch immer über jemanden, der nach seinem letzten Atemzug nur Sperrmüll hinterlässt. Er hat eben einfach nur gelebt.
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