- Letzter Aufruf: ZDF 22:30 Kampf dem Terror - Kampf dem Islam? (1/4) - HB, 26.01.2003, 22:36
- Sehr gut gemacht. - stocksorcerer, 26.01.2003, 23:33
- Die Ã-sterreicher sind schon raus aus Afghanistan - HB, 26.01.2003, 23:49
- Danke für den weiteren Auszug:-) - stocksorcerer, 27.01.2003, 08:38
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Letzter Aufruf: ZDF 22:30 Kampf dem Terror - Kampf dem Islam? (1/4)
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Sonntag, den 26.01.2003
22.30 - 23.15
Kampf dem Terror - Kampf dem Islam? (1/4)
Afghanistan, ein trügerischer Sieg
Das Taliban Regime ist zerschlagen, die Freischärler von El Qaida sind verschwunden. Nach dem Ende des Krieges in Afghanistan hat Amerika scheinbar seine wesentlichen Kriegsziele erreicht, doch die entscheidenden Probleme bleiben ungelöst. Die Macht der Warlords ist ungebrochen und steht in Rivalität zur Regierung in Kabul.
Peter Scholl-Latour analysiert die politische Lage in Afghanistan und die Gefahren, denen die deutschen Soldaten in Kabul ausgesetzt sind.
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AFGHANISTAN
»Nicht östlich, nicht westlich -
Islamisch!«
Panzerwracks im Pandschir-Tal
Pandschir-Tal, im September 2002
Im Hindukusch gibt es so manche Schlucht, deren gelb,
rötlich und violett schimmernde Felsmassen sich fast berühren
und nur einen schmalen Spalt knallblauen Himmels freigeben.
In der Höhe drohen gewaltige Steinklötze, als warteten sie nur
darauf, von irgendwelchen Unholden auf fremde Eindringlinge
herabgeschleudert zu werden. Das Pandschir-Tal, das
nordöstlich von Sharikar ins Hochgebirge abzweigt, hat
zusätzliche Sehenswürdigkeiten zu bieten. Hier säumen die
Panzerwracks der Sowjetmacht zu Dutzenden den engen
Durchlaß. Die Tanks vom Modell T-54 und T-62 waren in
massiven Rudeln in diese urweltliche Falle vorgeprescht. Von
den russischen Kommandeuren wurden sie immer wieder der
Vernichtung durch die Bazookas der Mudschahidin, durch
Haftladungen an den Steilwänden ausgesetzt. Die Tanks
brannten aus oder wurden ins Flußbett gekippt.
Gleich zweimal in der jüngsten Kriegsvergangenheit
Afghanistans hat das Pandschir-Tal eine entscheidende Rolle
gespielt. Hier zerbrachen sämtliche sowjetischen Offensiven, die
den Salang-Paß absichern sollten. Dessen Tunnel war für den
russischen Nachschub unentbehrlich. Hier blieben auch die
Horden der Taleban-Krieger, die neunzig Prozent Afghanistans
überrannt hatten, im Feuer des tadschikischen Partisanenführers
Ahmed Schah Massud stecken. Am Pandschir erkannten die
Russen, daß ihr Eroberungsfeldzug gescheitert war. Zwölf Jahre
später diente dieses Réduit, das sich gegen die »Koranschüler«
behauptete, den Milizen der sogenannten »Nord-Allianz« als
Ausgangspunkt für ihren erfolgreichen Gegenangriff gegen das
Regime des Mullah Omar.
Ahmed Schah Massud ist am 9. September 2001, zwei Tage
vor dem Attentat auf das World Trade Center, durch einen als
Reporter getarnten arabischen Terroristen ermordet worden.
Normalerweise würde man einen Zusammenhang zwischen
diesen beiden Daten konstruieren, aber selbst die CIA spricht
nur von einer Koinzidenz. Im Volk wird gemunkelt, der
pakistanische Geheimdienst habe hinter dem Anschlag auf den
Tadschiken-Führer gestanden. Die Vorgeschichte der
amerikanischen Kriegführung am Hindukusch ist eben extrem
verworren und nicht gerade ein Ruhmesblatt für die USA.
In Haarnadelkurven winden wir uns das Pandschir-Tal hinauf.
Unser Ziel ist die Grabstätte, die Ahmed Schah Massud errichtet
wurde. Gelegentlich weitet sich das Flußbett, bietet Raum für
Maisfelder und Obstplantagen. Die Dörfer sind zerstört und
leergebrannt. Unweit von Bazarak entdecken wir das
bescheidene Mausoleum Massuds auf einer beherrschenden
grünen Höhe. Von dort schweift der Blick nach Norden, wo die
Schlucht sich zu einer Talmulde verbreitert. Am Ende der
Strecke befindet sich der Anjuman-Paß in 4 400 Meter Höhe
und leitet zur Provinz Takhor über. Das Ehrenmal für den
Nationalhelden Afghanistans besteht aus einem weißen
Rundbau und wird von einer verbeulten grünen Blechkuppel
gekrönt. Vor dem Eingang wurde ein museumsreifer russischer
Panzer vom Typ T-34 aufgestellt. Sein verrostetes Rohr richtet
sich auf eine Delegation aus Kunduz, die gerade zur Pilgerfahrt
angereist ist. Die Leiche Massuds ruht unter einer grünen, mit
Koransprüchen bestickten Decke. Ringsherum stapeln sich
silberne Kränze von seltener Häßlichkeit.
Ich bin Ahmed Schah Massud nie persönlich begegnet. Sein
schmales, energisches Antlitz unter der platten Tadschiken-
Mütze, die man »Pakul« nennt, blickt heute von zahllosen
Plakaten und Wandmalereien, wird sogar als Teppichstickerei
dargestellt. Dieser kriegerisch hochbegabte Mudschahid hatte
als Jüngling das französische Istiqlal-Gymnasium von Kabul
besucht. Die dort erworbenen Sprachkenntnisse verschafften
ihm später große Popularität bei den Pariser Medien. Der Mode-Philosoph
Bernard-Henri Lévy gehörte zu seinen glühendsten
Bewunderern, was nichts an der Tatsache ändert, daß Ahmed
Schah Massud ein überzeugter »fundamentalistischer« Muslim
war, daß er bei seinen ersten Verschwörungen zur Schaffung
eines islamischen Gottesstaates in Kabul mit dem späteren
Hezbe-Islami-Führer Gulbuddin Hekmatyar eng verbunden war,
ehe er sich mit ihm unversöhnlich überwarf. Beide gehörten zur
Gruppe der sogenannten »Maktabi«, zu den europäisch
erzogenen, auf moderne Technologie erpichten Intellektuellen
der koranischen Erneuerung und stießen - fast ebenso heftig wie
ihre marxistischen Altersgenossen - auf Ablehnung, auf
Verwerfung durch die traditionelle Geistlichkeit, die
abergläubischen, unwissenden Dorf-Mullahs und deren
feudalistische Schutzherren.
Im Sommer 1994 hatte ich mich mit dem erbitterten
Gegenspieler Ahmed Schah Massuds, dem sowjetischen
Fallschirmgeneral Alexander Lebed, über dessen Erfahrungen
im Kampf gegen die Mudschahidin des Pandschir-Tals
ausführlich unterhalten. Das Gespräch fand in Moldawien statt,
genau gesagt in Tiraspol, wo Lebed mit seiner kleinen, gut
trainierten Truppe, Achte Armee genannt, den Schießereien
zwischen den Rumänen von Kischinew und der russischen
Minderheit Transnistriens ein Ende setzte. Später sollte der
General, dessen Boxergesicht und dröhnende Stimme den
Eindruck geballter Kraft vermittelten, von Jelzin zur Beilegung
des Tschetschenien-Konflikts eingesetzt werden. Tatsächlich
gelang es ihm, mit diesen unbändigen Kaukasiern und deren
»Präsidenten«, dem Artillerie-Oberst Maskhadow, der unter
Lebed gedient hatte, einen kurzfristigen Waffenstillstand
auszuhandeln. Lebed war im Pandschir-Tal mit seinen Speznatz-Soldaten
immer wieder hinter den feindlichen Linien abgesetzt
worden. Dreimal wurde er bei diesen Operationen vermißt,
einmal tot gemeldet. Für Ahmed Schah Massud, den »Löwen
von Pandschir«, wie er bei seinen Gefolgsleuten hieß, empfand
der bullige Russe einen an Bewunderung grenzenden Respekt.
»Ich habe in Afghanistan meine sehr persönlichen
Erfahrungen mit den fanatischen Kriegern des Islam gemacht,
mit der Todesverachtung und einer religiös motivierten
Bereitschaft zur Selbstaufopferung«, meinte Lebed damals in
Tiraspol. »In deren Kulturkreis haben wir nichts zu gewinnen.«
General Lebed hatte später eine politische Karriere in Moskau
eingeschlagen, sich sogar um die Präsidentschaft beworben, aber
den Intrigen des Kreml war dieser Haudegen nicht gewachsen.
Er wurde auf den Gouverneursposten von Krasnojarsk in
Westsibirien abgeschoben und kam bei einem Hubschrauber-Absturz
ums Leben.
Eines sollte man aus den bitteren Kenntnissen dieses
wackeren Soldaten immerhin festhalten: Falls bei den
Amerikanern nach der kläglichen, überstürzten Auflösung des
Taleban-Regimes der Eindruck aufkäme, die afghanischen
Mudschahidin seien lediglich Maulhelden und heimtückische
Heckenschützen, dann sollten sie sich die Militärrapports der
sowjetischen Armeeführung genau ansehen wie auch die
vertraulichen Berichte des britischen »Special Air Service«,
dessen Agenten die »Gotteskrieger« in ihrem Kampf gegen die
»Schurawi« begleiteten. Sonst könnten die Planer des Pentagon,
die allzu oft nach dem Motto »we know better« agieren,
peinliche Überraschungen erleben.
Im Pandschir-Tal haben sich die Russen die Zähne
ausgebissen, und den Taleban ist es nicht besser ergangen. An
dieser Stelle muß die Vorgeschichte der fanatisierten
Kriegerschar von Koranschülern in Stichworten erwähnt
werden. Nach der Vertreibung der Sowjetarmee aus Afghanistan
im Februar 1989 konnte sich deren kommunistischer Statthalter,
Präsident Nadschibullah, wider alle Erwartung noch knappe drei
Jahre behaupten. Zumindest kontrollierte er Kabul und die
wichtigsten Provinzstädte gegen die islamischen Fraktionen, die
unterdessen ihre persönlichen Rivalitäten und die
verhängnisvollen ethnischen Erbfehden zwischen Paschtunen,
Tadschiken, Hazara und Usbeken in einem bluttriefenden
Bruderkrieg austrugen. Es kam zwar zu verschiedenen
Versuchen, eine Koalition der widerstreitenden Kräfte zu bilden,
nachdem der Marxist Nadschibullah endlich aus seinem Amt
verjagt war. Unter der Präsidentschaft des tadschikischen
Korangelehrten Burhanuddin Rabbani konstituierten sich
alternierende Regierungsgremien, aber die unüberwindlichen
Gegensätze zwischen dem Tadschiken Massud, dem Paschtunen
Hekmatyar, dem Usbeken Dostom und der schiitischen Hazara-Formation
»Hezbe-Wahdat« dauerten an. Bei den Konflikten
wurde Kabul durch Granat- und Raketenbeschuß verwüstet. Das
Land verlor sich in mörderischer Anarchie. Zahllose »War
Lords« installierten sich als Regionalfürsten, plünderten die
Bevölkerung, vergewaltigten die Frauen, schufen einen
unerträglichen Zustand der Unsicherheit.
In den späten achtziger Jahren war es den Vereinigten Staaten
durch systematische Unterstützung der Mudschahidin im
Verbund mit dem pakistanischen Nachrichtendienst ISI
gelungen, der Sowjetmacht in Zentralasien eine irreparable
Schlappe zuzufügen. Zuletzt hatte die Belieferung der Afghanen
mit Boden-Luft-Missiles vom Typ Stinger die sowjetische
Hubschrauber-Armada gelähmt und damit den Konflikt
entschieden. Die CIA war schon sehr früh dazu übergegangen -
in Zusammenarbeit mit Spendern und Förderern aus Saudi-Arabien
-, eine »Grüne Legion« muslimischer Freiwilliger in
aller Welt anzuwerben. Die Rekrutierung erstreckte sich von
Algerien bis Indonesien. Es kam zur Konstituierung des
verschworenen Haufens, der später einmal unter dem Namen
»El Qaida« Schlagzeilen machen sollte. Am Aufbau dieser
Truppe gegen die Sowjets war ein gewisser Scheikh Omar
Abdurrahman beteiligt, ein blinder Korangelehrter, der heute
unter Anklage der Komplizenschaft an dem ersten Anschlag auf
das World Trade Center im Februar 1993 in einem
amerikanischen Gefängnis einsitzt. In diesem Zusammenhang
wurde auch der Sohn einer hochangesehenen Bauunternehmer-
und Milliardärsfamilie Saudi-Arabiens erwähnt, Osama Bin
Laden, der sich als einflußreicher Geldbeschaffer und wackerer
Partisanenführer hohen Ansehens erfreute. Diese positive
Einschätzung durch die amerikanischen Gönner dürfte sich im
Laufe der folgenden Jahre gründlich geändert haben.
Was die Afghanen sämtlicher politischer Lager dem Westen
und vor allem den USA nach dem Abzug der Russen vorwarfen,
war deren Passivität angesichts der fürchterlichen Tragödie ihres
Landes. Die Mudschahidin hatten ihre Schuldigkeit getan. Jetzt
überließ man sie ihren selbstzerstörerischen Instinkten und
ihrem Elend. Die Situation wandelte sich erst, als die Auflösung
des sowjetischen Staatsverbandes einsetzte, als Moskau die
Kontrolle über die abgefallenen Teilrepubliken im Kaukasus
und in Zentralasien verlor, als die dort vorhandenen immensen
Schätze an Erdöl und Erdgas im internationalen Wettbewerb zur
Disposition standen.
Es ging für die großen amerikanischen Konsortien nicht nur
darum, die Förderrechte in Aserbaidschan, Kasachstan,
Turkmenistan und Usbekistan zu erwerben, sondern auch den
Transport des »schwarzen Goldes« sicher und kostengünstig
unter eigene Kontrolle zu bringen. Die bestehenden russischen
Leitungen wollten die amerikanischen Prospekteure nach
Möglichkeit umgehen, um nicht den Bedingungen und
Pressionen Moskaus ausgeliefert zu sein. Die iranische Route
kam für Washington auf Grund der vorherrschenden Feindschaft
gegen die Mullahs von Teheran nicht in Frage. Also entschieden
sich texanische Investoren für den Bau einer eigenen Pipeline
durch Afghanistan. Ein argentinischer Konkurrent war schnell
aus dem Feld geschlagen. Nun galt es, diese Trasse, die von
Turkmenistan über Herat, Shindand und Kandahar nach
Belutschistan und zum Indischen Ozean führen sollte, politisch
und militärisch zu stabilisieren. Nicht aus Dankbarkeit für ihren
heldenhaften Kampf gegen den Sowjet-Giganten nahm man sich
der Afghanen wieder an, sondern aus schnödem Kalkül und
merkantiler Habgier.
Das Ergebnis dieses Unternehmens erwies sich als desaströs.
Als Instrument der Befriedung am Hindukusch fiel nämlich den
zuständigen amerikanischen Diensten und den Ã-l-Multis nichts
Besseres ein, als die pakistanische Armee zu beauftragen, in den
Auffanglagern ihrer Nordwestregion, wo etwa zwei Millionen
überwiegend paschtunische Flüchtlinge kampierten, eine Armee
von jungen »Koranschülern« oder »Taleban« auszuheben, sie in
Schnellkursen halbwegs auszubilden und mit einem
reichhaltigen Waffenarsenal zu versehen. Die Folge ist bekannt.
Im Herbst 1994 begann unter Anleitung pakistanischer Offiziere
der Einmarsch der Taleban in ihre alte Heimat. Die
Stammesführer und War Lords wurden systematisch bestochen
und gefügig gemacht. Jeder Widerstand erlahmte.
In einem Blitzfeldzug bemächtigten sich die Koranschüler,
meist ohne einen Schuß abzufeuern, der großen Provinzzentren,
rückten im Herbst 1995 in Herat ein und vertrieben den
amtierenden Staatspräsidenten, den Tadschiken Rabbani, aus der
Hauptstadt Kabul. Der umstrittene Regierungschef Hekmatyar
flüchtete später nach Teheran. Nur Ahmed Schah Massud
verhinderte mit gewohnter Tatkraft, daß die letzten zehn Prozent
afghanischen Territoriums im Nordosten nicht auch noch in die
Hände dieser unheimlichen Gesellen fielen. Dabei genoß der
»Löwe von Pandschir« - der Frontwechsel ist bezeichnend für
die labilen Verhältnisse am Hindukusch - die tatkräftige
Unterstützung Rußlands.
Auch aus der Indischen Union, die darauf bedacht war, jede
pakistanische Expansion einzudämmen, erhielt er Beihilfe, wie
ebenfalls aus Persien, wo man die Taleban sofort als Instrument
amerikanischer Interessen identifizierte. Die Nord-Allianz - das
Wort war damals noch nicht geläufig - gruppierte sich also
ursprünglich unter Führung Ahmed Schah Massuds in klarer
Gegnerschaft zu den strategischen Plänen Washingtons.
Es waren seltsame Verbündete, die Präsident Clinton für die
Sache der »Freien Welt« am Hindukusch aufgeboten hatte. Die
Taleban - von der Bevölkerung erst freudig begrüßt, weil sie mit
unerbittlicher Härte für Ruhe und Ordnung sorgten - erwiesen
sich als religiöse Exzentriker der schlimmsten Art. Weit über die
Vorschriften der »Scharia« hinaus, im Stammesgesetz des
»Paschtunwali« wurzelnd, verhängten sie das grausame Diktat
eines willkürlichen Gottesstaates. Die schiitischen Ayatollahs
von Teheran waren über die Auswüchse dieser religiösen
Fehlinterpretation, über die theologische Ignoranz der
»Steinzeit-Islamisten« entsetzt. Vor allem durch ihre
frauenfeindlichen Exzesse erregten die Taleban die zunehmende
Entrüstung der Weltöffentlichkeit und der humanitären
Organisationen. Bei den »Schwarzen Khmer«, wie man sie auf
Grund ihrer Turbanfarbe nannte, herrschte zudem der
paschtunische Anspruch vor, die traditionelle Vorherrschaft
dieser Volksgruppe, die etwa vierzig Prozent ausmacht, über die
übrigen Ethnien Afghanistans wiederherzustellen.
In Moskau war man sich der Gefahr eines Übergreifens der
ungezügelten »Dschihad« auf die benachbarten GUS-Republiken
voll bewußt, hatte man auch die »Grüne Legion«
muslimischer Freiwilliger aus aller Welt, die später als El Qaida
Terror verbreiten sollte, als bedrohliches Ferment des Umsturzes
rechtzeitig erkannt. Deren Vorhut war ja bereits in
Tschetschenien aktiv geworden. In den amerikanischen
Wirtschafts- und Regierungskreisen schien jedoch niemand
ernsthaft Anstoß daran zu nehmen, daß die Taleban die
afghanischen Frauen unter die »Burqa« zwangen und ihnen
jeden Bildungszugang verweigerten, daß die Männer Barte
tragen mußten, daß im Stadion von Kabul öffentliche
Hinrichtungen stattfanden und düsterer Obskurantismus zum
obersten Gesetz wurde.
Die texanische Ã-lfirma Unocal war nämlich inzwischen mit
dem mysteriösen Führer der Taleban - einem bislang
unbekannten Dorf-Mullah, der sich Mohammed Omar nannte,
nie in der Ã-ffentlichkeit auftrat und sich in seiner Hochburg
Kandahar den hochtrabenden Kalifen-Titel »Befehlshaber der
Gläubigen« angemaßt hatte - grundsätzlich über Bau und
Abschirmung der lukrativen Pipeline einig geworden. Eine
Investitionssumme von zwei Milliarden Dollar war
ausgehandelt. Zu jener Zeit hausten in der kriegsverwüsteten
Stadt Kandahar drei sehr unterschiedliche Komplizen in ihren
jeweiligen Residenzen nebeneinander. Da war der
Bevollmächtigte der texanischen Oil Company Unocal unweit
vom Hauptquartier Mullah Omars installiert, und in dessen
Nachbarschaft wohnte auch der saudische Bauunternehmer,
Multimillionär und »Gotteskrieger« Osama Bin Laden. Letzterer
hatte sich durch kluge Familienpolitik - durch die
Verehelichung seiner Tochter mit einem Sohn Mullah Omars -
Wohlwollen und Schutz verschafft.
Wer sich als Feind der gottlosen Sowjetunion bewährt hatte,
war noch längst kein Freund Amerikas. Das hätte man in
Langley eigentlich wissen müssen. Als ich im Sommer 1981 die
Mudschahidin Hekmatyars begleitete, hatte ich am Lagerfeuer
ihrem Lied gelauscht: »la sharqi, la gharbi, Islami - nicht
östlich, nicht westlich, Islamisch wollen wir sein!« Die bösen
Ahnungen hinsichtlich der Koranschüler verdichteten sich
inzwischen in Washington. Doch der wahre
Meinungsumschwung zuungunsten der Taleban trat erst ein, als
die amerikanischen Botschaften von Nairobi und Dares-Salam
im Sommer 1998 gesprengt wurden und diese Anschläge auf die
Anstiftung Osama Bin Ladens zurückgeführt wurden. Jetzt ließ
Bill Clinton von den Schiffen der US-Navy im Indischen Ozean
die Ausbildungslager von El Qaida in der afghanischen Provinz
Paktia durch Cruise Missiles beschießen und veranlaßte
nebenbei die Vernichtung einer absolut harmlosen
Pharmazeutik-Fabrik im Sudan. Mit einem Schlag endeten auch
die bislang engen Beziehungen des amerikanischen Erdöl-Business
zu den Koranschülern und ihrem einäugigen Anführer
Mullah Omar. Amerika mußte entdecken, daß es wieder einmal
ein »Frankenstein-Monster« gezüchtet hatte.
Der 11. September 2001 bewirkte den totalen und radikalen
Frontwechsel. Die Taleban, die den Terroristen von El Qaida
eine Operationsbasis geboten hatten und sich weigerten, Osama
Bin Laden an die USA auszuliefern, verkörperten von nun an für
Präsident George W. Bush die Mächte der Finsternis, die es mit
allen Mitteln auszumerzen galt. Die tadschikischen und
usbekischen Widerstandsbewegungen im äußersten Nordosten
Afghanistans hingegen wurden in aller Eile mit Waffen
überschüttet und unter der Bezeichnung Nord-Allianz als
Kerntruppe, als »proxies« der US-Bodenoffensive gegen die
Taleban, also gegen die Verbündeten von gestern, ins Feld
geschickt.
Der stürmische Vormarsch begann am 7. Oktober 2001 mit
vernichtenden Bombardements der US-Air Force. Nach ein paar
hilflosen Stellungskämpfen bei Kunduz, Mazare-Scharif und
Bagram, für die diese unerfahrenen Freischärler Mullah Omars
nicht im geringsten gerüstet waren, verschwanden sie ebenso
plötzlich, wie sie gekommen waren, und überließen die
Hauptstadt Kabul ohne jede Gegenwehr den Kriegern der Nord-Allianz.
An deren Spitze wurde die Abwesenheit Ahmed Schah
Massuds schmerzlich vermerkt.
Ein Leichnam herrscht über Kabul
Kabul, im September 2002
Die Trauer paßt gut zur trostlosen Hauptstadt Afghanistans.
Die Regierung hat angeordnet, daß überall schwarze Fahnen
gehißt werden. Selbst die ärmlichsten Baracken haben sich einen
düsteren Flor zugelegt. Aber hier gedenkt man nicht der Opfer
des World Trade Center in New York, und niemand befürchtet,
daß der erste Jahrestag des 11. September von irgendwelchen
Talebanoder El Qaida-Resten mit einem sensationellen Attentat
begangen wird. Das fromme Gedenken der Kabuli gilt einzig
und allein dem ermordeten Mudschahidin-Kommandeur Ahmed
Schah Massud. Sein Todesdatum am 9. September 2001 ist
Anlaß zu der makabren Stimmung, die sich durch die
Zurschaustellung seines Porträts - es beherrscht sogar in
riesigem Ausmaß diverse Hügelkuppeln rund um die Hauptstadt
- zu einem bizarren Heiligenkult steigert.
Ein Leichnam herrscht über diese menschenwimmelnde,
häßliche Metropole, die vom Krieg so grausam verstümmelt
wurde. Gerade weil die Machtverhältnisse an der Spitze
Afghanistans extrem verworren sind, gewinnt der tote Massud
eine so überdimensionale Bedeutung. Gewiß, es gibt da den
Interimspräsidenten Hamed Karzai, einen Paschtunen aus
vornehmem Geschlecht, der der Königsfamilie aus Kandahar
nahesteht. Karzai ist in der Stunde des großen Gedenkens an den
Tadschiken Massud in die USA abgereist. »Dort gehört er auch
hin«, sagen die Afghanen; denn längst ist dieser ehemalige
Pfründenempfänger der texanischen Ã-l-Firma Unocal in den
Augen des Volkes zur amerikanischen Marionette geworden. In
Washington hatte man den extravagant gekleideten Feudalherrn,
dessen Anhang weggeschmolzen ist, wohlwollend als »Gucci-Mudschahid«
belächelt. In Kabul ist man weniger nachsichtig.
Dort weiß man, daß die kuriose Versammlung auf dem
Petersberg bei Bonn, die ihn im Herbst 2001 zur tragenden Figur
des Post-Taleban-Regimes proklamierte, eine fremd gesteuerte
Farce war, bei der die CIA die Strippen zog. Der afghanische
US-Bürger und Businessman Zalmay Khalilzad hatte von
Anfang an als Graue Eminenz und als Vertrauensperson des US-Präsidenten
über entscheidenden Einfluß verfügt und seinen
Freund Karzai ins Spiel gebracht.
Kabul wimmelt von Soldaten und Milizionären, deren
Zugehörigkeit und Legitimierung unüberprüfbar sind. Diese
rauhen, bärtigen Gestalten blockieren mit ihren Kontrollen den
Verkehr, aber die Untersuchungen des Kofferraums und der
Motorhaube werden so dilettantisch durchgeführt, daß
unerlaubte Waffen oder Sprengstoff nur selten entdeckt werden.
Deshalb mutet es wie ein Wunder an, daß der Bazar - unweit
der Goldhändler-Innung bislang nur einmal durch eine gewaltige
Detonation erschüttert wurde. Das passierte präzis zur Stunde
meiner Ankunft aus Islamabad am 5. September, und die Zahl
der Toten wurde auf sechsunddreißig geschätzt.
Fast zur gleichen Zeit wurde auf Präsident Karzai in Kandahar
ein Attentat verübt, dem er nur um Haaresbreite entging. Der
dortige Provinzgouverneur wurde schwer verletzt. Sein
Überleben verdankte der Staatschef der professionellen
Reaktion seiner amerikanischen Leibwächter, und auch das ist
ein Symbol für die dortige Situation: Die Sicherheit Karzais ist
nicht seinen bewaffneten Stammesbrüdern anvertraut, sondern
speziell trainierten Angehörigen der US-Rangers. Was nun den
Bombenanschlag im Herzen der Hauptstadt betrifft, so war in
den offiziellen Verlautbarungen natürlich von El Qaida die
Rede. In Wirklichkeit, so vermuten westliche
Nachrichtendienste, wurden hier Rivalitäten innerhalb der
divergierenden Herrschafts-Clans ausgetragen, denen die
bevorstehenden Feierlichkeiten zu Ehren Ahmed Schah
Massuds nicht ins politische Konzept paßten.
In der Führungsriege des »Islamischen Staates Afghanistan«
so die offizielle Bezeichnung - sind die alten Gegnerschaften
längst nicht ausgeräumt. In der westlichen Presse wurde von
einer beginnenden »Demokratisierung« geschwafelt, als im Juni
2002 die Monsterversammlung der »Loya Jirga« in Kabul
stattfand. Stammesführer und Dorfälteste, Mullahs und War
Lords, ein paar Intellektuelle und - pro forma - auch ein
Kontingent weiblicher Delegierter waren unter dem riesigen Zelt
zusammengetrommelt worden, das von der deutschen
»Gesellschaft für technische Zusammenarbeit« aufgespannt
worden war. Jedermann in Kabul wußte, daß bei dieser
Beratung, die in die Ära des mongolischen Welteroberers
Dschingis Khan gepaßt hätte, die überwältigende Wahl Hamed
Karzais zum Interimspräsidenten nur durch massive
amerikanische Pression und Bestechung in Bargeld erzielt
wurde. Doch hier sollte die Erkenntnis gelten, »daß man die
Afghanen nicht kaufen, sondern bestenfalls mieten kann«. Der
siebenundachtzigjährige König Mohammed Zäher Schah, den
man aus seinem dreißigjährigen römischen Exil heimgebracht
hatte, wurde auf Drängen amerikanischer Experten von der
Kandidatur kurzerhand ausgeschlossen.
Die Experten aus Washington hatten nicht verhindern können
- vielleicht wollten sie es auch gar nicht -, daß bei der
Aufteilung der Schlüsselministerien ein krasses ethnisches
Ungleichgewicht entstand. Jetzt zahlte es sich für die den
Persern verwandten Tadschiken, die einen iranischen Dialekt -
»Dari« - sprechen, vorteilhaft aus, daß sie unter dem Banner
Ahmed Schah Massuds als einzige dem Machtanspruch der
Taleban erfolgreichen Widerstand geleistet hatten. Vor allem
jene regionale Minderheit, die im strategisch wichtigen
Pandschir-Tal beheimatet ist und sich durch besondere
Tapferkeit hervortat, hatte sich bereits auf dem Petersberg der
wichtigsten Positionen bemächtigt. An die Stelle Massuds war
sein ehemaliger getreuer Gefolgsmann Mohammed Fahim
getreten und besetzte mit dem Verteidigungsministerium die
zentrale Machtposition. Als Außenminister fungierte ein anderer
»Pandschiri«, der weltgewandte Massud-Vertraute Abdullah
Abdullah, während der Dritte im Bunde, Yunis Qanuni, diskrete
Sicherheitsaufgaben übernahm.
Das Mißverhältnis war flagrant. Seit der Gründung eines
afghanischen Emirats waren stets die Paschtunen - eine
indoeuropäische Völkerschaft, die etwa vierzig Prozent der
Bevölkerung ausmacht und im benachbarten Pakistan jenseits
der »Durand-Line« ebenfalls mit etwa sechs Millionen
Menschen vertreten ist - als herrschendes Staatselement
aufgetreten. Jetzt sahen sie sich durch die Tadschiken - knapp
dreißig Prozent - aus den wesentlichen Führungsämtern
verdrängt. Doch selbst innerhalb dieser iranischen Ethnie wurde
Beschwerde darüber laut, daß die regionale Gruppe der
Pandschiri, die in einem Land von fünfundzwanzig bis dreißig
Millionen »Staatsbürgern« nur über hunderttausend Menschen
verfugt und eine verschwindende Minderheit ausmacht, so
prominent nach vorne drängt. Dazu gesellte sich mit knapp
zwanzig Prozent die reine Mongolen-Rasse der Hazara,
angeblich Nachkommen einer kriegerischen »Tausendschaft«
des großen Dschingis Khan, die sich zur schiitischen
Glaubensform des Islam bekehrt hatte und in die unterste soziale
Kategorie herabgesunken war. Rund sechs Prozent Usbeken
hingegen, die erst nach der sowjetischen Gleichschaltung
Zentralasiens in die nordafghanische Ebene am Amu Daria
geflüchtet waren, stellten unter dem brutalen Bandenführer
»General« Abdurraschid Dostom ein beachtliches kriegerisches
Potential, das von Präsident Karimow aus Taschkent aktiv
unterstützt wurde.
Es brodelt weiter in Afghanistan, und schon erscheint die
amerikanische Militärpräsenz am Hindukusch, die sich auf etwa
8 000 GIs diverser Waffengattungen stützt, als eine zeitlich
begrenzte Peripetie. Mit der Verherrlichung des toten
Partisanenführers Ahmed Schah Massud wollen die Pandschiri
wohl ihren Anspruch auf eine führende Sonderstellung
legitimieren und dem zerrissenen Land - in Ermangelung einer
lebenden charismatischen Führergestalt - das Gespenst der
Ermordeten als Symbol einer fiktiven Einheit oktroyieren. Die
Massendemonstration vom 9. September findet in eben jenem
Stadion statt, wo die Taleban einst die Hinrichtung von
Kriminellen, Sündern und Regimegegnern als öffentliches
Schauspiel zelebrierten.
Allen düsteren Warnungen zum Trotz verläuft die
Kundgebung ohne den geringsten Zwischenfall. Die Sitzreihen
füllen sich mit Uniformierten, Schulklassen und zu guter Letzt
mit einer Frauendelegation. Bemerkenswerterweise tragen sie
nicht die hellblaue Totalvermummung der »Burqa«, die in
Kabul - in den ländlichen Gebieten ohnehin - weiterhin die
Normalkleidung der Afghaninnen geblieben ist wie zur Zeit der
Taleban und davor. Die weibliche Gruppe im Stadion von Kabul
bekennt sich auf ihre Weise zur Emanzipation des »zweiten
Geschlechts«. Als Zeichen dieses Traditionsbruchs haben sie die
Burqa gegen den »Tschador« eingetauscht, jene schwarze
Nonnentracht, die im Iran der Ayatollahs Pflicht ist und
immerhin das Gesicht freiläßt. An afghanischen Zuständen
gemessen, könnte also die düstere Rabentracht, die der
Ayatollah Khomeini vorgeschrieben hatte, als Zeichen toleranter
Modernisierung erscheinen, was so manches aussagt über den
Zustand des Regimes. Eine dieser Damen tritt ans Mikrophon
und trägt im pathetischen Rhythmus persischer Dichtung eine
Huldigung an Ahmed Schah Massud vor. Auch eine solche
Szene würde nach Teheran passen.
Auf der Ehrentribüne hat ein beachtliches Aufgebot von
Politikern und Militärs Platz genommen. Der ehemalige
Präsident Burhanuddin Rabbani sitzt nicht weit von dem
paschtunischen Feudalherrn Ahmed Pir Geilani, der als
angeblicher Propheten-Nachkomme der weitverzweigten
Qadiriya-Bruderschaft Afghanistans vorsteht. Die meisten
Kabinettsmitglieder sind zugegen. Die Blicke richten sich
immer wieder auf die untersetzte Gestalt des
Verteidigungsministers Mohammed Fahim, der sich - seit jeder
War Lord, der über eine Hundertschaft Partisanen verfügt, sich
zum »General« beförderte - den Titel eines »Marschalls«
zugelegt hat. Hamed Karzai ist abwesend, und der gefürchtete
Usbekenführer Dostom hielt es nicht für nötig, nach Kabul zu
kommen.
Die äußere Sicherheit wird im wesentlichen durch deutsche
Fallschirmjäger wahrgenommen, die zwar in erhöhter
Bereitschaft stehen, sich das aber nicht anmerken lassen. Sie
haben das weinrote Barett nicht mit dem Helm vertauscht. Diese
Männer tragen schwer an ihren kugelsicheren Westen von
sechzehn Kilogramm Gewicht, in denen sie sich wie
Schildkröten vorkommen müssen und die im Ernstfall ihre
Bewegungsfähigkeit ernsthaft behindern dürften. Einige
Bundeswehroffiziere und -unteroffiziere sind mir aus dem
Kosovo und aus Bosnien bekannt. Wir begrüßen uns herzlich.
Unterdessen lösen sich die Redner auf einem erhöhten Podest
ab. Ihre Ansprachen finden kein Ende. Zwischendurch erklingt
die Nationalhymne. Die Anwesenden erheben sich, und auf
einer Betonfassade wird das riesige Porträt Ahmed Schah
Massuds enthüllt. Deutsche Hubschrauber umkreisen das
Stadion und überwachen das Umfeld. Sie bewahren ausreichend
Distanz, um die Feier mit ihrem Rotorengeräusch nicht zu
stören. Das ändert sich schlagartig, als ein afghanischer
Militärhelikopter der Nord-Allianz - die Piloten sind stets
Amerikaner - im Tiefflug über die Versammlung braust und mit
seinem metallischen Knattern die Stimmung der Trauernden
gegen sich aufbringt.
»So sind sie nun einmal, unsere amerikanischen
Verbündeten«, bemerken die deutschen Soldaten; »sie können
es einfach nicht lassen, die Cowboys und die Rambos zu
spielen.« Es besteht wenig Kontakt und schon gar keine
Verbrüderung zwischen den US-Streitkräften, die im
Kriegseinsatz »Enduring Freedom« aktiv sind, und der
internationalen ISAF-Brigade (International Security Assistance
Force), in der die Deutschen das stärkste Kontingent bilden. Auf
höchste Weisung haben die Amerikaner sich weitgehend von
ihren Alliierten abgeschottet. Deren Auftrag in Kabul beinhaltet
ja keinerlei Kriegführung, sondern »Friedensstiftung« und
»nation building«, was immer das in diesem chaotischen Umfeld
bedeuten mag.
Der Höhepunkt der Veranstaltung ist erreicht, als der
dreizehnjährige Sohn Ahmed Schah Massuds unter dem
beherrschenden Antlitz seines toten Vaters das Wort ergreift.
Der Knabe hat noch eine kindliche Stimme, aber er verfügt
bereits über eine erstaunliche rhetorische Begabung. Er muß ein
äußerst eigenwilliger Junge sein, denn als Karzai ihn bei einer
früheren Begegnung väterlich auf die Stirn küssen wollte, stieß
der kleine Massud den Präsidenten mit heftiger Geste von sich.
Mein Gefährte und Freund Wali Kabir, den ich seit mehr als
zwanzig Jahren kenne, horcht plötzlich auf. »Der Junge spricht
ja ganz anders als seine Vorgänger«, flüstert er mir zu. »Was er
sagt, ist gar nicht regierungskonform.« Immer wieder betont der
Sohn Massuds das Wort »Dschihad«, und diese Erwähnung des
Heiligen Krieges löst bei den meisten Zuhörern jubelnde
Zustimmung aus. Er gedenkt ebenfalls ohne Ausnahme all jener
Mudschahidin, die in den vergangenen zwei Jahrzehnten für die
Freiheit und die Ehre Afghanistans kämpften und starben. Auch
das ist ungewohnt.
In feierlicher Prozession werden Dutzende riesiger Kränze
durch ein Spalier aufgeregter Kameramänner und Fotografen
getragen. Die Ehrengarde hat die goldstrotzende Uniform der
früheren königlichen Garde angelegt und quält sich im
Stechschritt. Angeführt ist jede Gruppe von einem Offizier mit
gezogenem Säbel, dessen martialische Mimik fast komisch
wirkt. Am Ende bahnt sich der Sohn Massuds einen Weg durch
das enge Spalier. Man hatte die kindlichen Grußworte eines
Maskottchens erwartet. Statt dessen ist der eigenwillige,
frühreife Knabe plötzlich zum Volkshelden geworden, und auf
sein ernstes Gesicht richten sich manche Hoffnungen.
Es hätte ja auch ganz anders kommen können im Sportstadion
von Kabul. Die Zeremonie zu Ehren Ahmed Schah Massuds war
von ihren Veranstaltern zweifellos als eine propagandistische
Konsolidierung, ja als Sakralisierung des tadschikischen
Führungsanspruchs gedacht. Aber bei solchen Projekten ist man
in Afghanistan niemals sicher, und ich war an diesem Vormittag
mindestens ebenso auf der Hut vor Zwischenfällen wie die
Fallschirmjäger aus dem saarländischen Lebach. Wenn von
Versöhnung die Rede ist, bleibt am Hindukusch extreme
Vorsicht geboten. So hatte ich es im April 1990, etwa zwanzig
Kilometer von Herat entfernt, im Dorf Pashtun-Zarghun hautnah
erlebt. Die Russen waren ein Jahr zuvor über den Amu Daria
abgezogen, aber ihr Vertrauensmann, der kommunistische
Präsident Nadschibullah, harrte in Kabul gegen den Ansturm der
Mudschahidin aus. Gelegentlich nahm er sogar die
Unterwerfung ganzer Stämme entgegen. Ich gebe meine
Erfahrung von damals, die heute als warnender
Anschauungsunterricht dienen kann, im Wortlaut wieder.
Der Tod des Mudschahid
Rückblende: Pashtun-Zarghun, im April 1990
Während der Militärhubschrauber vom sowjetischen Typ MI-17
mit vorsichtigen Schleifen auf einen gelblichen Stoppelacker
in der afghanischen Westprovinz Herat zukreiste, fühlte ich
mich um fünfunddreißig Jahre nach Marokko zurückversetzt.
Damals waren die Berberstämme aus ihren Bergen rings um
Kuribga hervorgestürmt, um über französische Siedler
herzufallen und sie zu massakrieren. In einer schnellen
Gegenaktion hatten Fallschirmjäger der Fremdenlegion die
Rebellion niedergeschlagen. Dann hatte der kommandierende
französische General eine farbenprächtige
Unterwerfungsfeierlichkeit inszeniert, einen »Aman«.
Ähnliches geschah jetzt auch hier nahe der Dörfergruppe von
Pashtun-Zarghun. Etwa dreitausend Mudschahidin - meist
Persisch sprechende Tadschiken - hatten sich auf einem weiten
Feld versammelt, um sich von den Aufständischen loszusagen
und ihre Loyalität gegenüber dem prosowjetischen Regime des
Präsidenten Nadschibullah zu betonen. Wir waren in dieser
äußersten Nordwest-Ecke Afghanistans knappe hundert
Kilometer von der sowjetischen und der iranischen Grenze
entfernt. Dennoch glichen die festungsähnlichen Dörfer mit
ihren hohen gelben Lehmmauern den »Qusur« der fernen Atlas-Bewohner.
Die schneebedeckten Berge im Hintergrund waren
den kahlen Höhen des marokkanischen Rif zum Verwechseln
ähnlich. Sogar der Menschentypus - prächtige wilde Gesichter
unter dem Turban - schien den Berbern verwandt zu sein.
Identisch auch das Zeremoniell: Die Stammesführer und
Ältesten gingen auf die Regierungsvertreter aus Kabul zu, in der
Mehrheit Militärs im Generalsrang, und küßten sie dreimal zum
Zeichen der Versöhnung. Gleichzeitig wurde in einem
urzeitlichen Ritual zwei Stieren die Gurgel durchgeschnitten, so
daß das Blut in einem dicken Strahl zwei Meter weit spritzte.
Beim Rundgang der Gäste im Karree der Mudschahidin, der
einer Inspektion ähnelte, fiel mir auf, daß diese Kämpfer des
Heiligen Krieges mit imponierender Bewaffnung gekommen
waren. Neben den landesüblichen Kalaschnikows, von denen es
russischen Angaben zufolge allein in Südafghanistan eine halbe
Million Exemplare gibt, waren panzerbrechende RPG-7,
Granatwerfer und schwere Maschinengewehre auf die
Ehrengäste gerichtet. Zur Begrüßung der Militärbefehlshaber
und Spitzenfunktionäre eines Regimes, das noch kurz vor dem
Abzug der Sowjetarmee sein Festhalten an den gottlosen Thesen
des Marxismus-Leninismus beteuert hatte, stießen die
Mudschahidin den Ruf »Allahu akbar« - Gott ist groß aus.
Als der Gouverneur von Herat, designierter Regierungschef
von Kabul und als Generalleutnant der afghanischen
Regierungsarmee gleichzeitig Vizeminister des gefürchteten
Sicherheitsdepartements, zu einem kurzen Gespräch anhielt und
sich einem ganz in Weiß gekleideten bärtigen Hünen zuwandte,
wurde das Feuer auf die Gäste eröffnet. Die Salven schienen aus
mehreren Richtungen zu kommen. Der Gouverneur brach
schwer verwundet zusammen, zwei Generale waren sofort tot.
Die Leibwächter der Regierungsdelegation durchsiebten die
vermeintlichen Attentäter mit ihren Kugelgarben. Zu spät: Diese
Männer waren ohnehin bereit, ihr Leben zu opfern. Eine
ungezügelte Schießerei war ausgebrochen. Das weite Feld war
im Nu mit Leichen und Verwundeten übersät.
Drei Meter von mir entfernt richtete ein Soldat der
Regierungsarmee sich unvorsichtig auf und legte das Gewehr
an. Eine Kugel durchschlug ihm die Aorta, und das Blut
sprudelte ihm -ähnlich wie bei den geschlachteten Stieren - in
dickem Strahl aus dem Hals. So flach ich konnte, preßte ich
mich gegen den Ackerboden. Mit Befriedigung stellte ich fest,
daß mich keine Spur von Panik erfaßte, daß ich eine seltsame
Distanz zu dem Gemetzel bewahrte. Schon überlegte ich mir, ob
ich - im Falle einer fatalen Isolierung in diesem feindseligen
Land - meinen Fluchtweg in Richtung auf die iranische oder die
sowjetische Grenze antreten sollte. Die persische Alternative
erschien mir vernünftiger. Es beruhigte mich irgendwie, daß der
Tod trotz meines fortgeschrittenen Alters kein Entsetzen in mir
auslöste, daß mir sogar - während die Stoppeln des abgeernteten
Getreidefeldes mein Gesicht kitzelten - ein Goethe-Zitat in den
Sinn kam über »diese Unmöglichkeit, die plötzlich zur
Wirklichkeit wird«.
Panzer rollten nach vorn und feuerten in die Menge. Doch die
Masse der Mudschahidin griff nicht in den Kampf ein. Sie
zerstreute sich in der Landschaft und strebte ohne sonderliche
Eile, wie mir schien, ihren Dörfern zu - ganz wie das Publikum
eines Fußballstadions nach dem Ende des Spiels. Mit zwei
russischen Reportern sprang ich auf den letzten Hubschrauber,
der gerade abheben wollte. Er war voller Toter und
Verwundeter. In Herat hatte eine Antonow-Maschine bereits die
Motoren angeworfen, um die Verletzten in die Hauptstadt zu
transportieren. Auf dem Rückflug war ich zutiefst beeindruckt
von der Gelassenheit oder, besser gesagt, der Gottergebenheit
der Schwerverwundeten. Niemand wußte zu sagen, wer von
ihnen Widerstandskämpfer oder Regimeanhänger war. Oft
waren sie gräßlich getroffen, aber nicht einer klagte, schrie oder
jammerte; nicht einmal ein Stöhnen hörte ich.
Zu meinen Füßen starb ein etwa dreißigjähriger Krieger, dem
der Turban vom kahlrasierten Schädel gerutscht war. Ich schob
ihm meine Feldtasche unter den Kopf. Seine Lippen bewegten
sich zum Gebet, der Blick war verschleiert. Wie zu einer
brüderlichen Geste hob er die Hand, die ich ergriff. Ich spürte,
wie sie langsam erkaltete. Der Mudschahid stieß einen letzten
Seufzer aus, und zu seinen Ehren rezitierte ich leise die »Fatiha«
als Totengebet. So würdevoll wie dieser unbekannte Afghane
müßte man eines Tages sterben können!
Der Überfall von Pashtun-Zarghun, ein präzis geplanter
Anschlag, hatte vermutlich dem Staatschef Nadschibullah
gegolten, der seine Teilnahme an der
Unterwerfungsveranstaltung angekündigt, aber in letzter Minute
abgesagt hatte. Das Attentat war exemplarisch für die
unberechenbare Tücke des Heiligen Krieges am Hindukusch.
Die beiden russischen Kollegen, die mir in der Antonow
gegenübersaßen, waren keine Neulinge in diesem rauhen Land.
Auch sie wirkten erschüttert angesichts des Blutrausches, der
sich da plötzlich einer kleinen Gruppe islamischer
Selbstmordkandidaten und deren Gegner, der
Regierungssoldaten, bemächtigt hatte.
Gefahr für die Bundeswehr
Kabul, im September 2002
Beim Besuch des umfangreichen Militärcamps der ISAF-Brigade
an der Ausfallstraße in Richtung Jalalabad überkommt
mich ein ungutes Gefühl. Im Gegensatz zum deutschen
Hauptquartier von Prizren im Kosovo erscheinen mir die 1 200
deutschen Soldaten am Rande von Kabul fehl am Platz. Gewiß,
es handelt sich hier um eine vorzügliche Truppe, und ich werde
freundschaftlich aufgenommen. Es gibt auch keine unnötige
Geheimniskrämerei. Der höchste deutsche Offizier, General
Schlenker, beeindruckt durch seine heitere Gelassenheit. Die
Beziehungen zu den übrigen Kontingenten - Holländer,
Ã-sterreicher, Franzosen, Türken, auch ein paar Engländer -
verlaufen reibungslos. Im Juni 2002 hat der türkische General
Hilmi Akin Zorlu das ISAF-Commando vom britischen
Vorgänger übernommen. Für diese heikle Aufgabe hat Ankara
offenbar einen seiner besten, international versierten Männer
geschickt.
Die Frage stellt sich auf den ersten Blick: Was ist die Aufgabe
dieser Friedenserhaltungstruppe in achttausend Kilometer
Luftlinie Entfernung von ihrer europäischen Heimat? Es gilt
angeblich, den Einwohnern von Kabul ein Gefühl von Sicherheit
und Rechtsstaatlichkeit zu vermitteln. Vor allem - das entspricht
wohl der amerikanischen Vorstellung, die hinter diesem Einsatz
steckt - soll das Regime des Präsidenten Karzai, das zutiefst
umstritten aus der Loya Jirga hervorgegangen ist, durch
internationale Truppenpräsenz abgeschirmt und gefestigt
werden. Präzis an diesem Punkt stellen sich die schweren
Bedenken ein. Über welche Legitimität verfügt denn überhaupt
die Übergangsregierung, die im Jahr 2004 durch »demokratische
Wahlen« ihre höheren Weihen erhalten soll? Eine
abenteuerliche Vorstellung am Hindukusch.
Auf dem Balkan hätte die Bundeswehr - wenn endlich in den
westlichen Kanzleien eine Zukunftsvorstellung für das frühere
Jugoslawien reifen sollte - einen eindeutigen europäischen
Auftrag zu erfüllen. Dort agiert sie auch im unmittelbaren
nationalen Interesse. Aber was hat sie in Zentralasien verloren?
Noch herrscht relative Ruhe in und um Kabul, aber die
deutschen Offiziere wissen, daß die ISAF, der ja eine rein
defensive Funktion zugewiesen wurde und die nur zum eigenen
Schutz von der Waffe Gebrauch machen darf, in dieser
überquellenden Masse von drei Millionen ethnisch und
konfessionell gespaltenen Asiaten - mehrheitlich Zuwanderer
aus den Kriegsgebieten - über minimale Übersicht und geringe
Kenntnis der realen Strukturen und Stimmungen verfügt. Die
Security-Brigade ist ungefähr fünftausend Mann stark, von
denen im Ernstfall höchstens tausend für einen Kampfeinsatz in
Frage kämen. Das wäre im Falle revolutionärer oder religiöser
Unruhen »eine Träne im Ozean«. Den ISAF-Soldaten bliebe in
der Extremsituation nur der Rückzug auf die locker befestigten
Stützpunkte und die schleunige Evakuierung durch
amerikanische Hubschrauber übrig.
General Schlenker zeigt mir auf der Karte seinen begrenzten
Patrouillen-Bereich. Allenfalls fahren die deutschen
Schützenpanzer gelegentlich auf die nahen Höhen, die die
Mulde von Kabul einschließen, eine strategische Lage, die
Erinnerungen an den Kessel von Dien Bien Phu im fernen
Indochina weckt. Dort trifft man auf bewaffnete einheimische
Zivilisten, die sich der Bundeswehr gegenüber recht positiv
verhalten, deren politische Zuordnung aber auch den G-2-
Offizieren schleierhaft bleibt. Die Truppe leistet in Kabul einen
langweiligen, recht entbehrungsreichen Dienst in ihren
abgeschirmten Bastionen. Die Verpflichtung auf sechs Monate
erscheint wie eine Ewigkeit. Wirklich bedruckend kommt hinzu,
daß an freien Stadtausgang überhaupt nicht zu denken ist.
Von den Amerikanern werden die ISAF-Stäbe sehr kärglich
über ihre Offensivaktionen in den Südostprovinzen an der
Grenze zu Pakistan informiert. Dort könnte allenfalls jene
Hundertschaft deutscher KSK-Soldaten Auskunft geben, die
gemeinsam mit den
US-Special Forces operieren. Die amerikanische Luftwaffe
hat den ehemals sowjetischen Stützpunkt Bagram exklusiv für
sich beansprucht und den Alliierten die relativ bescheidene
Rollbahn des Flugplatzes Kabul zugewiesen. Was sich in
Bagram abspielt, ist nur den wenigsten bekannt. Die
amerikanischen Streifen, die bei akuten Bombendrohungen in
den Straßen der Hauptstadt auftauchen, gebärden sich ganz
anders als die Deutschen und vor ihnen die Briten. Statt die
Bevölkerung durch lockeres Auftreten - soweit das möglich ist
- freundlich zu stimmen und den Eindruck einer fremden
Besatzung zu vermeiden, ducken sich die GIs in voller
Kampfmontur hinter ihre schweren Maschinengewehre und
ziehen auf den breitachsigen Humwee-Fahrzeugen kriegerische
Runden. Das Gerücht ist aufgekommen, hinter den Schutzwällen
von Bagram fänden »robuste« Verhöre von Gefangenen und
Verdächtigen statt, die in Gegenwart von CIA-Beamten durch
afghanische »Spezialisten« vorgenommen werden.
Unser Kamerateam hat an einer deutschen Patrouille in Kabul
teilgenommen. Zunächst stellt sich heraus, daß die Orientierung
in diesem heillosen, von sukzessiven Kriegen verwüsteten
Gassengewirr äußerst schwierig ist. So mutet es wie ein Wunder
an, daß es noch zu keinem gravierenden Zwischenfall kam. Im
Gegensatz zu den Briten, denen der alte Kolonialanspruch des
Empire anhaftet, stoßen die jungen Deutschen auf
überschäumende Sympathie. Woher diese »Affenliebe« der
Afghanen für alles Deutsche rührt, ist nicht ganz ersichtlich.
Alte Querverbindungen, die bis in den Ersten Weltkrieg
zurückreichen, spielen dabei eine Rolle, aber auch die
hochgeschätzte Hilfe, die die Bundesrepublik bei diversen
wirtschaftlichen Entwicklungsprojekten, vor allem unter
Mitwirkung der GTZ, gewährte. Die Polizeiausbildung unter
dem letzten König ist in bester Erinnerung geblieben. Dazu
gesellt sich das Kernargument, das jeder Deutsche immer wieder
zu hören bekommt: »Afghanen und Deutsche sind enge
Verwandte; wir sind doch beide arische Völker.« Die
bescheidene Luftlinie Afghanistans trägt denn auch den stolzen
Namen »Ariana«.
Bevor sie nach Zentralasien entsandt wurden, hat man den
deutschen Soldaten wohl beigebracht, wie man mit einer
exotischen Bevölkerung umgeht. Sie haben gelernt, wie heftige
Protestkundgebungen mit einem Minimum an Gewalt und viel
gutem Zureden zerstreut werden, daß es sich immer lohnt, nett
zu den Kindern zu sein, daß ärztliche Hilfe hoch geschätzt wird,
kurzum, daß man als Freund und nicht als potentieller Gegner
auftritt. Die Rechnung ist bislang so gut aufgegangen, daß jedes
Fahrzeug mit dem Balkenkreuz durch unaufhörliche
Kinderchöre mit dem gellenden Ruf »thank you, thank you!«
begleitet wird. Gelegentlich mischt sich darunter auch der
Wunsch nach einem »Bakschisch«. Aber all das ist beinahe zu
schön, um wahr zu sein. Diese strahlenden afghanischen »Kids«
erinnern mich an die kleinen Vietnamesen, die beim Sichten
einer amerikanischen Streife im Mekong-Delta den
markerschütternden Schrei »Okay, okay, okay!« anstimmten
und damit den Vietcong-Partisanen rechtzeitig das Signal gaben,
in ihren Bodenlöchern zu verschwinden. So weit ist man in
Kabul keineswegs, aber Gefallen kann ich an diesen »thank
you«-Rufen nicht finden.
Vielleicht hat man bei der Ausbildung in den Heimatkasernen
doch versäumt, diesem Expeditionskorps zu erklären, in welch
ungeheuer gefährliche und tückische Umgebung es sich
hereinwagen würde, wie extrem unstabil die Verhältnisse dort
sind. Auf britische Soldaten ist gelegentlich geschossen worden,
und bei den Amerikanern gehen mitunter schlecht gezielte
Raketen nieder. Bei den Deutschen wäre das zur Zeit
unvorstellbar. Aber ein deutscher Major verweist zu Recht
darauf, daß sich besonders skrupellose Rebellen oder auch
politische Kräfte, die sich durch die ISAF-Präsenz in der
Hauptstadt in ihren politischen Ansprüchen gehemmt fühlen,
gerade die Sympathischsten, die Deutschen, aussuchen könnten,
um durch Inszenierung blutiger Zwischenfälle ein besonders
krasses Exempel zu statuieren, den Verbleib der internationalen
Brigade in Frage zu stellen und in der deutschen Heimat einen
psychologischen Schock auszulösen, den Briten und Franzosen
weit besser verkraften würden. Wer dächte da nicht an den
»guten Römer« in der »Hermannschlacht« Heinrich von Kleists,
den Arminius ausdrücklich töten läßt, weil er dem negativen
Feindbild nicht entsprach?
Noch sind die verantwortlichen Regierungen vernünftig
genug gewesen, sich der Forderung Präsident Karzais nach
massiver Aufstockung der ISAF und deren Stationierung in den
wichtigsten Provinzstädten zu widersetzen. In den versprengten
Garnisonen würde ihnen höchste Gefahr, ja Untergang drohen.
Die Erfahrung haben noch unlängst die Russen gemacht, aber
am schlimmsten hatte es im 19. Jahrhundert die Engländer am
Hindukusch getroffen. Die Geschichte wiederholt sich nicht,
und die heutigen Waffen sind denen der klassischen britischen
Indien-Armee weit überlegen. Ganz vergessen sollte man
dennoch nicht, was sich im Januar 1842 abgespielt hat.
Die Engländer hatten sich bereits als Herren Afghanistans
gewähnt, als ihr Expeditionskorps plötzlich umzingelt und
belagert wurde. Der überstürzte Versuch, aus Kabul nach Süden
durchzubrechen, endete in einer Katastrophe. Die afghanischen
Stammeskrieger, um deren Gefügigkeit London vergeblich
gebuhlt hatte, richteten unter den Soldaten des Empire und deren
Begleitpersonal, darunter zahlreiche Frauen und Kinder, ein
gnadenloses Gemetzel an. 16 000 Untertanen der Queen
Victoria fanden binnen weniger Tage in den Schluchten
zwischen Kabul und Jalalabad den Tod. Ein einziger
Überlebender, der Militärarzt Brydon, hat mit letzter Kraft die
englischen Vorposten erreicht. Er konnte Kunde geben von dem
bis dato beispiellosen Untergang einer hochgerüsteten
europäischen Kolonialarmee.
Die Fallschirmjäger von Kabul könnten meine Enkel sein, und
gerade weil ich über unendlich mehr Kriegserfahrung verfüge
als die ehemaligen Pazifisten, die uns heute regieren, blicke ich
mit Sorge auf diese sympathischen jungen Leute. Der
Kameramann Alexander, der sie auf ihrer abendlichen Patrouille
filmte und ungefähr gleich alt ist wie sie, war von der an
Naivität grenzenden Freundlichkeit dieser Truppe überrascht,
die - in einer Genuß- und Spaßgesellschaft aufgewachsen - sich
die extreme Härte und Grausamkeit zentralasiatischer
Lebensverhältnisse und Reaktionen überhaupt nicht vorstellen
kann. »Die Jungs sind viel zu harmlos für ihren Job«, meint
Alexander, der in diversen Kontinenten kritische Situationen
erlebt hat. Wissen die Berliner Politiker, die - um sich nach den
antiamerikanischen Ausfällen ihres Wahlkampfes nun wieder in
Washington anzubiedern - ihre Bereitschaft verkünden, das
Kommando von ISAF zu übernehmen, überhaupt, worauf sie
sich einlassen? Mit einer zeitlich unbegrenzten Truppenpräsenz
am Hindukusch stützt man den proamerikanischen Vasallen
Karzai ab und erlaubt den Energiekonzernen der USA einen
lukrativen und relativ sicheren Abtransport von Erdgas und
Petroleum in Richtung Indischer Ozean. Dafür wird das Leben
deutscher Soldaten aufs Spiel gesetzt im Auftrag einer
Parlamentarierriege, die sich früher zu dem törichten Spruch
bekannte: »Frieden schaffen ohne Waffen.«
Die euphorischen Kommentatoren der Heimatredaktionen und
die im Troß eines Ministers flüchtig anreisenden
Korrespondenten ignorieren offenbar, wie ein asiatischer
Partisanenkrieg aussieht. Die deutschen Soldaten in Kabul
müssen vielleicht in Kauf nehmen, daß der eine oder andere von
ihnen eines Tages von einer feindlichen Kugel getroffen wird.
Aber im Gegensatz zu den in Übersee-Einsätzen geübten
Engländern und Franzosen ahnen sie nicht, was es bedeutet,
wenn man einen vermißten Kameraden auffindet, der von
wüsten Freischärlern gefoltert und verstümmelt wurde. Das sind
keine Schauermärchen, sondern eigene Erfahrungen aus
Südostasien und Nordafrika.
In diesem Zusammenhang sollte das Berliner Kabinett
bedenken, daß illusorische »Friedensstiftung« viel gefährlicher
und verlustreicher sein kann als eine mit adäquatem Material
und massiver Luftunterstützung vorgetragene Offensive.
Ähnliche Perspektiven wie für Kabul, so wird in den Stäben der
Bundeswehr gemunkelt, würden von der deutschen Regierung ja
auch schon im Hinblick auf den Irak erwogen, wo nach
Zerschlagung des Saddam Hussein-Regimes europäische
Hilfstruppen dann die Aufgabe des »nation building«, das heißt
einer dauerhaften und extrem riskanten Okkupation Bagdads
übernehmen sollen. Daß deutsche Minister, die unlängst noch
gegen den amerikanischen Unilateralismus wetterten, um die
Bundestagswahl zu gewinnen, sich neuerdings mit der Idee einer
»globalen Einsatztruppe« der NATO anzufreunden scheinen -
Peter Struck sprach von einem »interessanten Vorschlag« -,
läuft auf eine Degradierung der Bundeswehr hinaus. Diese
»Rapid Deployment Force« würde nämlich unter NATO-, das
heißt unter US-Commando stehen und beliebig »out of area«
eingesetzt, wo es dem übermächtigen Verbündeten gerade
zweckmäßig erschiene. Man spräche von »Friedensstiftung«; in
Wirklichkeit würde es sich um die Drecksarbeit der sogenannten
»Pazifizierung«, um die Unterdrückung von Aufständischen
handeln.
Ausgerechnet das wilde Afghanistan scheint von der
deutschen Diplomatie auserkoren, ein vorbildliches Experiment
der demokratischen Zähmung, des Aufbaus einer friedlichen
Nation vorzuführen. Sollte die Absicht wirklich bestehen, dann
wäre man in Berlin auf dem besten Weg, mit total
unzureichenden Kräften eine wilhelminische Maxime
aufzugreifen. »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen«,
hieß es damals. Ist das etwa der von Bundeskanzler Schröder
erwähnte »deutsche Weg«? Vielleicht habe ich den einen oder
anderen deutschen Offizier schockiert, als ich der ISAF-Truppe
den Rat erteilte, so schnell wie möglich diese »Bärenfalle« - das
ist der Titel eines fundierten russischen Buches über
Afghanistan - zu verlassen und sich dringenderen europäischen
Aufgaben in unmittelbarer Nachbarschaft der Heimat zu stellen.
Daß Deutschland den afghanischen Freunden weiterhin
wirtschaftlich unter die Arme greift, daß vor allem das
Schulwesen mit deutscher Hilfe entwickelt wird und deutsche
Polizisten wie in der Vergangenheit aktive Ausbildung leisten,
sollte sich von selbst verstehen. Aber woher wissen wir denn, ob
die ISAF-Brigade, an die sich der Opportunist Karzai klammert,
überhaupt den Wünschen und Vorstellungen eines im Islam
wurzelnden Volkes und seiner unberechenbaren Stammesführer
entspricht?
Den ehemaligen Kolonialmächten England und Frankreich
kommt bei solchen Einsätzen die Erfahrung jüngster Übersee-Einsätze
zugute, ob sie nun in Sierra Leone, am Kongo oder an
der Elfenbeinküste stattfanden. Zu ihrer Vertrautheit mit
Völkern anderer Kulturkreise gesellt sich vor allem auch eine
gesunde Dosis Skepsis. Mit einem französischen Freund,
Colonel Henri W., der in Südfrankreich mein Nachbar ist und
den ich vor drei Jahren schon in Pristina traf, stimme ich
überein, daß die Gallier am Hindukusch sind, um auf Geheiß
Jacques Chiracs Flagge zu zeigen und die Entwicklung zu
beobachten, aber bestimmt nicht, um den revolutionären Idealen
von »Liberté, Egalité, Fraternité« zum Durchbruch zu verhelfen.
Statt dessen bilden französische Instrukteure gemeinsam mit den
Amerikanern Rekruten der neuen afghanischen
Regierungsarmee aus, die auf 80 000 Mann gebracht werden
soll. Das geschieht sehr lässig, denn jeder Afghane ist ein
geborener Mudschahid. Man muß den Kriegern vor allem
beibringen, daß sie das Magazin der Kalaschnikow nicht gleich
mit einer Salve leerschießen und daß man den Feind mit einer
einzigen gezielten Kugel ausschalten kann. Diesen Männern, die
sich aus dem Staub machen, sobald der monatliche Sold von 32
US-Dollar nicht pünktlich ausgezahlt wird, muß auch
eingetrichtert werden, daß der Feind oft klüger ist, als man
selber denkt.
<ul> ~ Kampf dem Terror - Kampf dem Islam? </ul>

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