- Fundsache zur Gesundheitspolitik, etwas älter, noch aktuell, nix neues - Baldur der Ketzer, 25.02.2003, 21:20
Fundsache zur Gesundheitspolitik, etwas älter, noch aktuell, nix neues
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Moralische und wirtschaftliche Grenzen des Sozialstaats und seine Zukunft
Gekürzte Fassung des Vortrags anIäßIich des Kongresses,,GesundheitspoIitik - Fit für die Zukunft" des Gesundheitspolitischen Arbeitskreises der CSU (GPA) am 20. Juni 1998 in Ingolstadt.
Das Subsidiaritätsprinzip stammt aus der katholischen Gesellschaftslehre, aus der Zeit, als sich die Kirche gegen die Übergriffe des totalitär ausgerichteten Staates zur Wehr setzen wollte. Es ging darum, die sozialen Funktionen des Individuums, der Familie, der Kirchen, der Dorfgemeinschaft, der Vereine, der Verbände gegenüber den Zentralisierungsansprüchen des Staates zu stärken. Das Subsidiaritätsprinzip ist dann verwirklicht, wenn die Problemlösungskapazitäten der kleinen Gemeinschaften möglichst weitgehend ausgenutzt werden und wenn der Staat sich auf die Lösung jener Probleme beschränkt, die weder der Markt noch die kleine Gemeinschaft - wie etwa die Familie - lösen kann: So viele dezentrale Lösungen wie möglich, so wenig Staat wie nötig.
Totalitarismus im Namen der Gerechtigkeit
Es ist kein Zufall, daß der totalitäre Staat alle gesellschaftlichen Veranstaltugen in seine Abhangigkeit bringen wollte und keine von ihm unabhängigen Vereinigungen und Veranstaltungen duldete. Er hatte dafür eine Ideologie - die bis heute kräftig wirksame Ideologie der Gerechtigkeit. Popper zeigt in seiner"Offenen Gesellschaft" die geistigen Wurzeln des Totalitarismus bei Platon. Dort ist Gerechtigkeit definiert durch den Satz:"Gerecht ist, was dem Ganzen nützt." So ist der gerechte Staat der, der die Handlungen seiner Bürger am Gemeinwohl ausrichtet. Um dieses effektiv zu tun, muß er die individuelle Freiheit beseitigen. Er muß die Familie, das Vereinswesen, die Verbände unter seine Vormundschaft stellen. Sie alle sollen nachgeordnete Organe des allmächtigen Staates werden. Damit höhlt er sie aus, er zerstört im Namen der Gerechtigkeit die Vielfalt der Gesellschaft.
Der Wohlfahrtsstaat: Totalitarismus im neuen Kleide
Nun könnte man meinen, der Totalitärismus sei passé. Aber seine Ideologie lebt fort in dem, was man den Wohlfahrtsstaat nennt. Dieser Wohlfahrtsstaat ist dem Prinzip der Gerechtigkeit verpflichtet. Man spricht hier von Solidarität. Es gilt als unsolidarisch, als Ausdruck der sozialen Kälte, den Abbau des Wohlfahrtsstaates zu fordern.
Der Wohlfahrtsstaat ist aber in eine Finanzkrise geraten. Warum? Ich glaube, sie kommmt daher, daß nicht nur der tolalitäre Staat, sondern auch dieser Wohlfahrtsstaat langsam, aber sicher das soziale Kapital vernichtet, das für die Prosperität einer Gesellschaft so entscheidend wichtig ist. Und die Ideologie des Wohlfahrtsstaates ist dem Subsidiaritätsprinzip genauso feindlich entgegengesetzt wie die Ideologie der Gerechtigkeit im totalitären Staat. Die Ideologie dieses Wohlfahrtsstaates manifestiert sich in der Haltung, die in den 70er Jahren dominierte, nach der jede Ausweitung der sozialen Leistungen als ein Fortschritt deklariet wurde. Dieser Gedankenwelt entspricht das auf den Kopf gestellt Subsidiaritätsprinzip: Soviel Staat wie möglich, so wenig dezentrale Lösungen wie unbedingt nötig.
Vom Kunden zum Untertan
Dieses auf den Kopf gestellte Subsidiaritätsprinzip wird von der Politik gerechtfertigt im Namen der Gerechtigkeit. Es ist zum Beispiel ungerecht, daß der Reiche eine bessere medizinische Behandlung erfährt als der Arme. Daher wird die Finanzierung des Gesundheitssystems kollektiviert. Und deshalb werden die Patienten von Kunden des Gesundheitssystems zu seinen Untertanen. Das soziale Kapital des frei und kompetent auswählenden Kunden verkümmert im Gesundheitssystem und wird ersetzt durch die reglementierten, Schlange stehenden Untertanen eines die Knappheit bürokratisch verwaltenden Herrschaftssystems.. Die alls im Namen der Gerechtigkeit.
Strukturdefekte des Wohlfahrtstaates
Indem der Wohlfahrtsstaat wuchs und sich immer weiter verästelte, begann die Bevölkerung, ihr Verhalten darauf einzustellen. Es gibt all diese Geschichten über die illegale Ausnutzung des Sozialstaates, zum Beispiel Schwarzarbeit bei gleichzeitiger Inanspruchnahme der Arbeitslosenversicherung. Die Schätzungen über das Wachstum der Schattenwirtschaft sind naturgemäß unpräzise, aber niemand bestreitet im Ernst das dynamische Wachstum dieses Teils unserer Volkswirtschaft. Man kann natürlich die Schwarzarbeit in einem Überwachungsstaat mit Lauschangriff und so weiter wesentlich besser bekämpfen als in einem Staat mit funktionierendem Datenschutz. Aber wie war das noch mit der Behauptung, der Wohlfahrtsstaat habe nichts mit Totalitarismus zu tun?
Das Rentensystem und der demographische Teufelskreis
Indessen glaube ich, die Form der Ausnutzung des Wohlfahrtsstaates, dei vor allem für seinen zu erwartenden Finanzkollaps verantwortlich ist, ist die vollkommen legale Form. Der Wohlfahrtsstaat erlaubt es einem, auf Kinder zu verzichten. Die traditionelle Form der Altersvorsorge ist die durch das Aufziehen von Kindern in einer Familie und durch Erziehung dieser Kinder zur Dankbarkeit gegenüber den Eltern. Dieses Verfahren wird bis heute in der dritten Welt praktiziert und führt dort zu großem Bevölkerungsdruck. In Deutschland haben wir wegen zu geringer Geburtenzahlen zunehmend das umgekehrte Problem. Der Wohlfahrtsstaat mi seinem System der der großzügigen Altersrente, entlastst die Menschen von der Last, die Kinder aufziehen zu müssen. Daraus wiederum resultiert die Erosion der Netzwerke der Verwandschaft. Wenn man im Durchschnitt zwei Geschwister hat, hat man im Durchschnitt 48 Vettern und Cousinen ersten und zweiten Grades, also rund 50 Verwandte in der gleichen Generation. Wenn man im Durchschnitt, wie in Deutschland, ein halbes Geschwister hat, so hat man im Durchschnitt vielleicht sieben Vettern und Cousinen ersten und zweiten Grades.. Entspechendes gilt für die anderen Verwandten. Natürlich kann ein derart kleines Netzwerk ungleich weniger soziale Funktionen der Risikoabsicherung, der gegenseitigen Hilf übernehmen als die traditionell großen Verwandschaftsnetze. Ist es ein Zufall, daß Länder mit einem besonders großzügigen Rentensystem besonders niedrige Geburtenraten haben?Eine andere Form der Ausbeutung des Wohlfahrtstaates ist der Trend zum immer früheren Eintritt in den Rentenstatus. Die Höhe der Rente ist dafür ganz wesentlich verantwortlich. Niemand würde sich nach der Frühverrentung drängen, wenn er im Vergleich zu seinem Arbeitseinkommen nur sehr schmale Rente bezöge. Die Frage, ob die Renten noch sicher sind, ob sie überhaupt noch bezahlt werden können, beruht auf demographischen Entwicklungen wie geringer Geburtenzahlen und einer steigenden Zahl von durchschnittlichen Rentenjahren pro Rentner. Aber diese demographischen Entwicklungen sind nicht gottgegeben. Sie sind selbst Folge des hypertrophen Wohlfahrtsstaates.
Hausgemachte Beschäftigungsprobleme
Nun kann man einwenden, die Frühverrentung sei Ergebnis der mangelnden Beschäftigungsmöglichkeiten, die Frühverrentung sei deshalb eine besonders sinnvolle und humane Form der Umverteilung knapper Arbeitsmöglichkeiten. Es ist deshalb nötig, daß wir die Ursachen der Arbeitslosikeit untersuchen.
Die Rationalisierung der Arbeit nehme uns die Jobs weg: Der Computer ist der Sündenbock. Nur: Das Land mit dem intensivsten Einsatz von Computern hat im vergangenen Jahr mehr als drei Millionen Arbeitsplätze zusätzlich geschaffen; in den USA besteht kein Problem mangelnder Beschäftigung. Die Arbeitgeber suchen händeringend nach Arbeitskräften, trotz aller Rationalisierung.
Hypertropher Sozialstaat
Auch die Vorstellung, die Niedriglohnkonkurrenz der Schwellenländer sei schuld an unserer Arbeitsmarktmisere, ist durch die USA widerlegt. Die USA müßten unter diesem Aspekt der Globalisierung mindestens so leiden wie Europa. Aber sie haben kein Problem unzureichender Arbeitsgelegenheiten, Nein, unsere Beschäftigungsprobleme sind ausschließlich hausgemacht. Sie sind Folge unseres Hypertrophen Sozialstaates.
Unser Arbeitsrecht ist bestimmt durch den Gedanken, daß dem Schwächeren, dem Arbeitnehmer, geholfen werden müsse. Insbesondere schützt dieses Recht nur den Arbeitnehmer, der einen Arbeitsplatz hat. Außerdem bewirkt dieser Arbeitnehmerschutz - zum Beispiel der Kündigungsschutz, die Mitbestimmung und die Ausnahme vom Kartellverbot der für Arbeitnehmer - eine Stärkung der Verhandlungsmacht der Gewerkschaften in der Aushandlung von Tariflöhnen, die als Minimum für Effektivlöhne gelten. Damit ist das Lohnniveau bei gegebenem Arbeitsangebot und gegebener Nachfragefunktion nach Arbeit höher als im Regime der Vertragsfreiheit. Dies führt zu einer weiteren Senkung der Nachfrage nach Arbeit, also zu höherer Arbeitslosigkeit. Schließlich führt die Lohnbildung über Kollektivverhandlungen zu einer Lohnstruktur, die nicht marktgerecht ist, so daß viele Personen deshalb keine Arbeit finden, weil sie"zu teuer" sind im Verhältnis zu den Qualifikationen, die sie aufweisen.
Nicht vergleichbar mit den USA
Mit Recht wird in der Standortdebatte seitens der Gewerkschaften darauf hingewiesen, daß die Löhne der Industrie international wettbwerbsfähig sind, was sich an der guten Exportleistung zeigt. Aber das ist gar nicht die Frage. Entscheidend ist, daß die institutionell Stellung der Arbeitnehmer hierzulande im Lohnkampf mit den Arbeitgebern erst bei hohen Arbeitslosenraten zu einem Machtgleichgewicht führt, während in den USA, bei minstitutionell wesentlich schwächerer Stellung Stellung der Arbeitnehmer, das Kräftegleichgewicht zwischen Arbeitgebern und -nehmern sich schon bei wesentlich geringeren Arbeitslosenraten einstellt. Die Arbeitslosenquote ist quasi der"Thermostat der Arbeitsmärkte". Durch sie werden Arbeitgeber und Arbeitnehmer diszipliniert, stabilitätskonforme Lohnverträge zu schließen. Ist die Arbeitslosigkeit niedriger als ihr Gleichgewichtswert, so werden inflatorische Lohnsteigerungen folgen. Diese werden dann von der Zentralbank durch Verknappung von Geld und Kredit bekämpft, wodurch die Konjunktur sich abschwächt und die Arbeitslosigkeit in Richtung aif ihren Gleichgewichtswert steigt. Umgekehrt führt eine Arbeitslosigkeit über dem Gleichgewichtswert zu einem zurückbleiben der der Löhne hinter dem stabilitätskonformen Lohnauftrieb. Die Zentralbank sieht keine Inflationsgefahr und stellt Geld und Kredit reichlicher zur Verfügung. Das führt zu niedrigeren Zinsen, höheren Gewinnen, eventuell einer Abwertung der heimischen Währung - alles Faktoren, die die Investitionstätigkeit anregen. wodurch die Konjunktur besser wird, und die Arbeitslosigkeit in Richtung auf ihren Gleichgewichtswert sinkt.
Die Wirkung des ausgebauten Sozialstaates in Deutschland ist also, daß die gleichgewichtige Arbeitslosenquote hier wesentlich höher liegt als in den USA, wo der Sozialstaat einen weit geringeren Einfluß auf die Arbeitsmärkte ausübt. Wenn insoweit die höhere Arbeitslosigkeit unseren Sozialstaat in die Finanzkrise bringt, ist erselbst die Ursache für seine Finanzprobleme.
Solidarität ist nicht gleich Solidarität
Der Wohfahrtsstaat wird mit dem Begriff der Solidarität begründet. Aber er hat die Form der Solidarität, die vor ihm existierte, etwa in der Familie, in der Kirche, wenn nicht zerstört, so doch stark reduziert. Er hat uns weit egoistischer gemacht, als unsere Vorfahren es früher gewesen sind.
Es ist von einer gewissen Bedeutung, die unterschiedlichen Wirkungen der privaten Hilfe - etwa innerhalb der Familie - und der staatlichen Hilfe im Rahmen des Wohlfahrtsstaates zu verstehen. In der Solidarität im Kleinen, etwa zwischen Geschwistern, besteht direkter Kontakt zwischen Helfer und Unterstütztem. In der Solidarität im Großen besteht der direkte Kontakt zwischen dem Bürokraten, der nicht mit seinem eigenen Geld hilft, und dem, der die Hilfe erfährt.
Man wird erwarten, daß die Wirkung dieser zwei Formen von Hilfe ganz verschieden ist. Die Hilfe im Kleinen funktioniert ganz automatisch als Hilfe zur Selbsthilfe, denn der Helfer hat ein Eigeninteresse daran, daß die Hilfe bald nicht mehr nötig sein wird. Die Hilfe ist verbunden mit einem Prozeß der sozialen Kontrolle und der Erziehung zur Eigenständigkeit. Dem gegenüber hat die bürokratische Hilfe genau den gegenteiligen Effekt. Der Bürokrat ist letztlich an einer Beendigung der Hilfsbedürftigkeit des Klienten gar nicht interessiert. Sein Job bleibt genau dann bestehen, wenn der"Klient" als Hilfsbedürftiger erhalten bleibt. Und die staatliche Hilfe im Fall der Hilfsbedürftigkeit setzt so genau die Anreize zur Perpetuierung dieser Hilfsbedürftigkeit.
Raubbau an der Substanz
Der Wohlfahrtsstaat läßt die privaten Netze der Hilf zur Selbsthilfe verkümmenr. Er schafft damit die Bedingungen eines Lebens ohne Kontrolle des Verhaltens im Interesse der Volkswirtschaft. Damit trägt er zur individuellen Freiheit bei, aber einer Freiheit auf Kosten anderer, einer Freiheit, die zur Ausbeutung des Wohlfahrtsstaates und damit zu seinem finanziellen Kollaps führt.
Unser Sozialstaat ist ein System, das nicht auf Nachhaltigkeit angelegt ist. Er lebt schon heute massiv von der Substanz. Er ist zutiefst unökologisch, weil er nur durch hohes wirtschaftliches Wachstum noch einige Zeit länger finanzierbar wäre. Indem wir ihn verteidigen, so wie es die beiden Kirchen in ihrem"Gemeinsamen Wort" getan haben, versündigen wir uns an den nachfolgenden Generationen.
Professor Dr. C. Christian von Weizsäcker, Universität zu Köln
Quelle: Bayerisches Zahnärzteblatt 10/98

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