- PISA und die Spaßgesellschaft - Sascha, 06.03.2003, 18:31
- Allein: Auch dies hat seine tiefere Ursache in Wirtschaft & Geldystem... (owT) - Frank, 06.03.2003, 20:01
- Oder: Wer das Paradies auf Erden will, schafft nur eine weitere Hölle. (owT) - Zardoz, 06.03.2003, 20:26
- Allein: Auch dies hat seine tiefere Ursache in Wirtschaft & Geldystem... (owT) - Frank, 06.03.2003, 20:01
PISA und die Spaßgesellschaft
--> Hier ein m.E. interessanter Artikel. Auch wenn ich nicht in allen Details mit dem Autor übereinstimme so sind darin doch auch viele Wahrheiten enthalten.
PISA und die Spaßgesellschaft
<font size=5>Ein Plädoyer für Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit</font>
Von Josef K r a u s
Das desaströse Abschneiden der deutschen Schüler in der PISA-Studie hat die Republik erschüttert. Die schulpolitische Diskussion greift aber zu kurz. Die Studie zeigt auch Symptome der deutschen Gesellschaft: In der Freizeit Hedonisten und in der Arbeitszeit Spartaner?
Bislang dachte man bei „Pisa“ an einen schiefen Turm, jetzt ist „Pisa“ für ein Weilchen Symbol für eine andere Schieflage: Deutschlands Schüler rangieren unter den Schülern der 32 beteiligten OECD-Länder auf Rängen zwischen dem mittleren und unteren Drittel der Skala. Die deutschen Medien und die deutschen Bildungspolitiker reagierten darauf heftig, die meisten begnügten sich freilich mit reichlich monokausalen Erklärungen und mit engen Patentrezepten (Pflichtkindergarten, Ganztagsschule, autonome Schule, andere Lehrerbildung usw.). Dabei wäre es an der Zeit, die Diskussion jetzt endlich ohne Tabus und mit Hartnäckigkeit zu führen, ehe es sich Bildungsdeutschland wieder bequem in seinem Sessel macht.
Gründe lange bekannt
Wirklich neu ist nichts an den PISA-Ergebnissen. Die maßgeblichen Gründe für die schwachen Schülerleistungen sind bekannt, die schulpolitische Schweigespirale hat sie nur nicht zum Gemeingut im öffentlichen Diskurs werden lassen. Kritische Diagnostiker blieben Rufer in der Wüste. Als Hartmut Schiedermair im Jahr 1995 den Rücktritt aller sechzehn Schulminister forderte, weil sie das Abitur hätten verkommen lassen, ging man „souverän“ über diese vermeintlich bloße Polemik hinweg, ohne sich ernsthaft Gedanken über den Wert der Schulabschlüsse zu machen. Und nonchalant läßt man die Schul-„Reformer“ sich weiter austoben. Stets werden neue Fluchtrichtungen angegeben - Hauptsache man muß das eigene Sturmgepäck nicht öffnen und nachschauen, was man da an Ballast so mitschleppt: die Diskreditierung und in der Folge die Liberalisierung der schulischen Notengebung; die Diskriminierung der Fächer und des konkreten Wissens; den Nihilismus des Geltenlassens von schlechterdings allem durch eine weitgehende Egalisierung der Inhalte; die Vernachlässigung solider muttersprachlicher Bildung; den orthographiereformerischen Kniefall vor der fortschreitenden Legasthenisierung der Sprachkultur; den Verzicht auf Auswendiglernen und Kopfrechnen; die Abschaffung des Eignungsprinzips beim Zugang zu weiterführenden Bildungseinrichtungen; die Verwechslung von Studienberechtigung mit Studierfähigkeit; die Atomisierung der Schullandschaft unter dem Diktum der Schul-„Autonomie“; die stete Verdrängung von Leistungsdiagnosen, die Professoren oder Kammern ihrer Klientel ausstellen usw. usw.
Solche Fehlentwicklungen abzustellen, das hat nichts mit restaurativer Schulpolitik zu tun, sondern mit Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit im Umgang mit der heranwachsenden Generation.
Symptomatisch für die Gesellschaft
Wahrscheinlich müssen die Fragen sogar noch umfassender gestellt werden und weit über die Schule hinaus reichen. Das PISA-Ergebnis hat nämlich mit dieser unserer Nation insgesamt zu tun. Das deutsche PISA-Ergebnis scheint jedenfalls symptomatisch zu sein für diese Gesellschaft. Zumindest fällt auf, daß so manch andere Merkmale, die diese Nation auszeichnen, mit dem deutschen PISA-Rang korrelieren: Deutschland ist Schlußlicht im Wirtschaftswachstum, und Deutschland ist Freizeitweltmeister.
Wenn wir mit unseren jungen Leuten und deren Bildungsniveau nicht zufrieden sein können, dann hat das wohl auch gesamtgesellschaftliche Gründe. Tatsächlich hat sich das Verhältnis von Ernst und Spaß, von Arbeit und Freizeit bereits in der Erwachsenenwelt drastisch gewandelt. Wir hatten noch vor eineinhalb Generationen die 48-Stunden-Woche, jetzt haben wir - die 30 Stunden fest im Blick -die 35/38-Stunden-Woche. Die Wochen-Arbeitszeit hat sich in dieser Zeit also um rund 30 Prozent reduziert. Nur rund sieben Prozent der Lebenszeit (650.000 Stunden; entsprechend ca. 75 Jahre) sind heute Arbeit (ca. 45.000 Stunden). Seit den 90er Jahren haben die Menschen in Deutschland erstmals mehr Stunden zur freien Verfügung, als sie für den Erwerb ihres Unterhalts aufwenden müssen. Folge: Der weltweit sprichwörtliche fleißige deutsche Michel ist „out“. Bei den Begriffen"Fleiß" und"Arbeit" denkt man heute eher an die Japaner und die"vier kleinen Tiger" Singapur, Hongkong, Taiwan und Süd-Korea als an die Deutschen. In den 90er Jahren betrug die Jahresarbeitszeit eines Deutschen 1600 Stunden, die eines Briten oder Franzosen ca. 1700 Stunden, die eines US-Amerikaners 1900 Stunden und die eines Japaners 2100 Stunden. Ein böses Wort sagt: Die Deutschen - die sind in der Freizeit Hedonisten, in der Arbeitszeit Spartaner.
Wandel der Werteprioritäten
Außerdem erleben wir seit ca. 30 Jahren einen dramatischen Wandel der Werteprioritäten. Seit Ende der 60er Jahre werden Pflicht- und Akzeptanzwerte (z.B. Disziplin, Gehorsam, Pflichterfüllung, Treue, Unterordnung) durch Selbstentfaltungswerte (z.B. Emanzipation, Partizipation, Individualismus, Autonomie) zurückgedrängt. Damit einher geht ein zunehmender Verfall von Arbeitsdisziplin und Leistungsbereitschaft. Aber: Alles zu dürfen und nichts zu sollen, das funktioniert nirgends, weder in der Gesellschaft noch in der Erziehung.
Es mag ja „logisch“ sein, daß eine Spaßgesellschaft eine Spaßpädagogik erzeugt. Aber dann müssen wir uns nicht wundern, wenn die jungen Leute keine 45-Stunden-Schul-und-Hausaufgabenwoche wollen. Wir brauchen auch keine freudlosen, sterilen Paukschulen. Wir brauchen aber einen mentalen Paradigmenwechsel: Schule soll Freude machen, nicht Spaß. Solche Freude-Erlebnisse sind nie ein Geschenk, das wie der Lotto-Treffer plötzlich da ist. Letzteres wäre das flüchtige und oberflächliche Ergebnis eines Zufalls. Gemeint ist hier Freude vielmehr als ein Geschenk, für dessen Erwerb man aktiv etwas tun kann - nämlich Fleiß, Anstrengung und Ausdauer zu investieren. Nur bei solcher Investition - Psychoanalytiker würden sagen: unter Triebaufschub - ist das tiefere Erleben von Freude, von Stolz oder gar von Glücklichsein möglich. Spaß ist etwas anderes als Freude. Spaß ist augenblicksorientiert und im Kern selbstsüchtig. Außerdem bedarf der Spaß der steten Reizerneuerung, sonst kehrt ja permanent Langeweile ein. Spaß ist das Vertreiben von Zeit. So jedenfalls erschließt sich auch sprachgeschichtlich das Wort Spaß. Es kommt nämlich vom italienischen"spasso" (lat. ex-passare = zerstreuen; expandere = ausbreiten), was nichts anderes heißt als"Vergnügen und Zeitvertreib". Zum Zeitvertreib aber ist die Zeit in der Schule zu kostbar. Von daher ist Skepsis gegenüber einer Spaß-Schule angebracht. In eine Analogie gebracht, heißt das: Spaß verhält sich zu Freude wie Oberfläche zu Tiefgang. Spaß verhält sich zu Freude wie Flüchtigkeit zu Dauerhaftigkeit. Deshalb, wegen des Tiefgangs und wegen der Dauerhaftigkeit, ist eine Schule der Freude an Leistung einer Schule des Zeitvertreibs unbedingt vorzuziehen.
Andernfalls sind wir auch gesamtgesellschaftlich dabei, nicht nur unsere natürlichen Ressourcen aufzubrauchen, sondern auch unsere ideellen:"... und dabei ist das Eis, das uns trägt, so dünn geworden: Wir fühlen alle den warmen unheimlichen Atem des Tauwindes - wo wir noch gehen, da wird bald niemand mehr gehen können!" (Friedrich Nietzsche).
Quelle: Aus"Forschung & Lehre" - Heft 2 / 2002

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