- Flassbeck:"Es muss wohl noch schlimmer kommen" - Philipp Steinhauer, 15.03.2003, 16:50
- "Es muss wohl noch schlimmer kommen", damit faster back es auch merkt - Dieter, 15.03.2003, 17:22
- Re:"Es muss wohl noch schlimmer kommen", damit faster back es auch merkt - chiquito, 15.03.2003, 17:54
- Konsum oder Investition - Dieter, 15.03.2003, 18:26
- Re:"Es muss wohl noch schlimmer kommen", damit faster back es auch merkt - chiquito, 15.03.2003, 17:54
- Re:...und eine Stimme sprach vom Himmel:... - Tassie Devil, 15.03.2003, 22:28
- Re: Flassbeck:"Es muss wohl noch schlimmer kommen" - Aristoteles, 16.03.2003, 00:14
- Re: Flassbeck: - Kasi, 16.03.2003, 10:56
- "Es muss wohl noch schlimmer kommen", damit faster back es auch merkt - Dieter, 15.03.2003, 17:22
Flassbeck:"Es muss wohl noch schlimmer kommen"
-->"Es muss wohl noch schlimmer kommen"
Heiner Flassbeck, ehemals Staatssekretär im Kabinett Schröder,
kommentiert
in einem Gastbeitrag für die"FR" die Kanzlerrede
Mit Einschnitten für Arbeitslose, Rentner und Beschäftigte will
Bundeskanzler Gerhard Schröder den Sozialstaat zukunftsfähig gestalten.
Eine
Herausnahme des Unfallschutzes aus den Leistungen der Krankenkassen aber
hat
er in seiner Rede im Bundestag abgelehnt. Dies war die einzig größere
Überraschung in der mit Spannung erwarteten Regierungserklärung. Das
meiste
war schon in den Tagen zuvor durchgesickert. Das Investitionspaket zur
Belebung der Wirtschaft fällt bescheiden aus. Die konjunkturellen Folgen
analysiert Heiner Flassbeck, Chefökonom der UN-Organisation Unctad. Auf
der
folgenden Seite sind einige Kommentare aus Wissenschaft und Wirtschaft
zusammengefasst.
Von A wie Arbeitslosengeld bis Z wie Zahnersatz reicht die"Agenda
2010",
mit der der Bundeskanzler gestern die Wende in der Wirtschaftspolitik
einläuten wollte. Hatten wir so etwas nicht schon einmal gehört. Seltsam
vertraut klangen die Begriffe, die uns da präsentiert wurden: Das
"milliardenschwere" Kreditprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau
(KfW)
etwa fehlte in keinem der vielen 20-, 40- oder 90-Punkte-Programme, mit
denen uns schon Kanzler Kohl alle paar Jahre weismachen wollte, jetzt
werde
alles anders.
Kündigungsschutz lockern, Sozialausgaben senken, Bürokratie abbauen,
Gesundheit bezahlbar machen, alles schon mal da gewesen, alles nichts
gebracht. Nach der monatelangen Hartz-Arie, die die Arbeitslosigkeit
halbieren sollte, jetzt also eine Agenda 2010. Dass die Beibehaltung der
Leistungen für Zahnersatz weder Wachstum noch Arbeitsplätze schafft,
muss
man nicht lange erläutern, dass man aber im Jahre 2003 immer noch ohne
rot
zu werden vorgeben kann, mit dem"Spielgeld" der Kreditanstalt
konjunkturell
etwas bewegen zu wollen, ist beeindruckend.
Dass die Binnennachfrage darniederliegt, hat man erkannt, aber welche
Schlussfolgerungen sind daraus gezogen worden? Zu Recht hat der
Bundeskanzler festgestellt, dass"ohne konjunkturpolitisches
Gegensteuern
die Reformen ins Leere laufen". Er hat aber zugleich deutlich gemacht,
dass
die Investitionsförderung via KfW keine"kurzfristiges
Konjunkturprogramm
mit Strohfeuereffekt sein wird, weil dafür weder neue Schulden
aufgenommen
werden, noch die Steuern erhöht werden".
Genau damit hat er aber dem"konjunkturpolitischen Gegensteuern" von
vorneherein jeden Sinn genommen. Im Kern läuft die Ã-konomie der Agenda
folglich darauf hinaus, durch die Kürzung des Arbeitslosengeldes und die
Umfinanzierung der Sozialhilfe die Gemeinden zu entlasten und auf diese
Weise ein paar öffentliche Investitionen zu finanzieren. Oder anders:
Die
Arbeitslosen finanzieren jetzt den Straßenbau der Gemeinden. Ist das
nicht
eine gute Idee, fragten schon vor einigen Wochen die Kolumnisten einer
Reihe
von"Fachzeitschriften": Wir finanzieren öffentliche Investitionen statt
den
Konsum der Transferempfänger. Das ist nicht nur für die Bauindustrie
gut, es
schafft auch Arbeitsplätze für die älteren und arbeitslosen Bauarbeiter,
die
nun nur noch Sozialhilfe statt Arbeitslosengeld erhalten.
Nichts zeigt besser als ein solcher Kurzschluss, wie groß die Konfusion
in
der wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland ist. Nein, es ist eine
absurde Idee und bei einem Hauch von Vernunft würden Unternehmen und
Gewerkschaften gemeinsam dagegen auf die Barrikaden gehen. Wenn man die
Leistungen für Arbeitslose um drei Milliarden kürzt, sind im gleichen
Augenblick drei Milliarden Gewinne der Unternehmen und ein paar tausend
Arbeitsplätze verloren. Den Menschen nahe am Existenzminimum bleibt
nämlich
nichts übrig, als ihren Gürtel noch enger zu schnallen und, so schwer es
jedem einzelnen fallen mag, auf drei Milliarden Ausgaben insgesamt zu
verzichten, die den Unternehmen fehlen. Wenn die Gemeinden mit den neu
gewonnenen drei Milliarden Straßen bauen, entstehen zwar neue
Arbeitsplätze
und neue Einkommen an anderer Stelle, aber per Saldo ist außer
Umverteilung
nichts gewesen.
Der Bundeskanzler hat jedoch erstaunlicherweise die ganze Rede unter das
Motto gestellt"Wir können nur verteilen, was wir vorher erwirtschaftet
haben". De facto hat er mit dieser Agenda ein Programm vorgestellt, das
nur
umverteilt, ohne etwas zu erwirtschaften. Um die Unternehmen anzuregen,
etwas Neues zu wagen, in Kapital und in Arbeit zu investieren, genügt es
bei
andauernder wirtschaftlicher Flaute nicht, mit ein paar Millionen einige
Kredite durch die KfW verbilligen zu lassen. Diese werden mitgenommen
von
Betrieben, die ohnehin investieren wollten, ohne dass sich das Geringste
an
der Lage ändert. Wer etwas für Investitionen und neues Wachstum tun
will,
muss richtiges Geld in die Hand nehmen.
Richtiges Geld wären, sagen wir, 20 Milliarden für öffentliche
Investitionen
oder für ein Vorziehen der gesamten Steuerreform. Solches Geld aber ist
nicht da, sagt Wolfgang Clement seit Wochen, obwohl auch er gerne etwas
mehr
ausgeben möchte. Hier liegt der Hund begraben. Offenbar hat die deutsche
Wirtschaftspolitik nicht begriffen, dass man mit Geld, das schon da ist,
auf
keinen Fall Wachstum und Beschäftigung fördern kann. Der Staat verfügt,
ohne
Kredite aufzunehmen, immer nur über Geld, das er anderen abgenommen hat.
Wer
anderen Geld abnimmt, um es selbst wieder auszugeben, bewirkt
selbstverständlich wieder genau nichts außer Umverteilung. Das ist oft
sinnvoll in einer sozialen Marktwirtschaft, hat wiederum aber mit der
Nachfrageseite der Volkswirtschaft, die der Bundeskanzler doch
hochzuhalten
vorgibt, nichts zu tun.
Wer tatsächlich glaubt, dass"die Reformen ohne konjunkturpolitisches
Gegensteuern ins Leere laufen", muss sich trauen, wie das die
französische
Regierung tut, den Europäischen Stabilitätspakt und seine unsinnige
Knebelung der Finanzpolitik in der längsten Stagnationsphase der
Nachkriegsgeschichte, offensiv und massiv in Frage zu stellen. Wer das
glaubt, muss auch eine weit offensivere Politik der Europäischen
Zentralbank
einfordern, wenngleich es jetzt für effektive Zinssenkungen wohl schon
zu
spät ist. Das Missverständnis, das die ganze Schrödersche Agenda
durchzieht,
ist der Glaube, es gebe zu den klassischen, die Konjunktur anregenden
Maßnahmen wie Zinssenkung und staatliche Defizitpolitik irgendeine
ernsthafte Alternative. Das angebotene Sammelsurium von
Angebotspetitessen,
Umverteilung zulasten der Arbeitslosen und das Spielgeld der
Kreditanstalt
werden verpuffen wie bei allen anderen Programmen dieser Art vorher.
Nur wenn der Staat neue Kredite aufnimmt, also die vorhandenen
Ersparnisse
der privaten Haushalte nutzt, um selbst zu investieren, oder das
Einkommen
anderer - ohne Umverteilung - zu erhöhen, können die Gewinne der
Unternehmen
wirklich steigen, kann Neues geschehen, kann sich die Volkswirtschaft
aus
der Stagnation lösen. Das mag man Strohfeuer nennen, weil es natürlich
nur
für eine Zeit wirkt, wenn sich die Unternehmen durch die Verbesserung
ihrer
Situation nicht selbst zu neuer Kreditaufnahme anregen lassen. Ohne
dieses
Strohfeuer am Anfang gibt es aber gar kein Feuer, keine Wärme und keine
Verbesserung der Lebensbedingungen. Wer aber immer noch glaubt, die
Kombination von temporär höherer staatlicher Verschuldung und - im
gleichen
Atemzug höheren Gewinnen der Unternehmen - sei eine Belastung
zukünftiger
Generationen, muss Berater haben, für die das kleine Einmaleins hohe
Wissenschaft ist.
Dafür spricht einiges, denn sonst wäre der Bundeskanzler von diesen
Beratern
auch darauf hingewiesen worden, dass - jenseits der alltäglichen
Propaganda
von Interessenvertretern - Deutschland weder ein Lohn- noch ein
Lohnnebenkostenproblem hat. Die Löhne zuzüglich der Lohnnebenkosten
steigen
in Deutschland seit zwanzig Jahren weniger stark als die Produktivität.
Insbesondere seit 1996 ist diese Tendenz stärker ausgeprägt als jemals
zuvor
und stärker als in allen vergleichbaren Ländern der Welt. Der"für eine
gewisse Zeit substanzielle Abschlag des Lohnanstiegs von der neutralen
Lohnrate", den die Bundesbank jüngst in ihrer Kampfschrift einforderte,
existiert längst. Er hat nur nichts bewirkt - außer eine
binnenwirtschaftliche Nachfrageschwäche. Weil die Reallöhne seit Jahren
nicht mehr steigen und die Beschäftigung zugleich sinkt, stagniert der
private Verbrauch, und nicht, weil die Verbraucher verunsichert wären
oder
gar den"Käuferstreik" proben.
Im Februar dieses Jahres waren - unter Ausschaltung von Saisoneinflüssen
-
4,35 Millionen Menschen arbeitslos. Allein in den letzten beiden Monaten
sind 150 000 Menschen zusätzlich arbeitslos geworden. Dem standen 380
000
offene Stellen gegenüber. Wer glaubt, man müsse Arbeitslose"ermutigen",
Arbeit zu suchen, um das Problem zu lösen, wird kläglich scheitern. Es
muss
wohl noch schlimmer kommen, bevor es besser wird. In weniger als sechs
Monaten wird über richtiges Geld gesprochen werden und, nicht zu
vergessen,
über richtige Politik.
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 14.03.2003 um 18:40:01 Uhr
Erscheinungsdatum 15.03.2003

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