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- Die Amerikaner hatten kein Verdun - Praxedis, 24.03.2003, 03:18
"Relativ surrealistisch"
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Die europäischen Regierungschefs wissen nicht, wie sie die Staatengemeinschaft aus der durch den Irak-Krieg ausgelösten Krise steuern sollen. Deutsche und Franzosen planen bereits eine kleine, feine Kern-EU.
Es war der Gipfel der Scheinheiligkeit. Von"Perspektiven zur neuen Einigkeit", von den"Gemeinsamkeiten der Europäer" redete Gerhard Schröder nach dem Abendessen der Staats- und Regierungschefs am vorigen Donnerstag in Brüssel - als wäre alles wie immer. Eine"ganz normale" Sitzung sei das gewesen, so der Bundeskanzler. Jetzt müsse man"nach vorne sehen und nach vorne gehen", erklärte Schwedens Ministerpräsident Göran Persson.
Der Brite Tony Blair und der Franzose Jacques Chirac schüttelten sich, wenn auch kurz, die Hände, tauschten Höflichkeitsfloskeln aus. Die 15 Herren stritten ein wenig über Milchquoten und erklärten sich einmütig zu humanitärer Hilfe im Irak bereit.
Mit keinem Wort erwähnten die Gipfelteilnehmer in den offiziellen Sitzungen der anderthalbtägigen Konferenz den schweren Konflikt in den eigenen Reihen über den Angriff auf den Irak ohne Uno-Mandat. Kein Wort über die Hetztiraden Blairs gegen Paris, das französische Verhalten im Sicherheitsrat habe die friedliche Entwaffnung Saddam Husseins verhindert. Kein Wort über die abfälligen Bemerkungen Chiracs über die US-Vasallen in den Reihen der Europäer.
Er habe, so das bissige Fazit von Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker,"an einer relativ surrealistischen Veranstaltung teilgenommen".
ZWEI IN ETWA GLEICH STARKE STAATSGRUPPEN, JEWEILS GESCHART UM ZWEI ANFÜHRERSTAATEN, STEHEN SICH FAST FEINDSELIG GEGENÜBER.
Jeder habe erwartet, sagt Juncker, dass die schweren Differenzen zwischen Befürwortern und Gegnern des Kriegs auf den Tisch gepackt würden. Doch die Runde habe"kollektiv versagt". Die Staatenlenker schafften es nicht, die Gemeinschaft zumindest ansatzweise aus ihrer bisher schwersten Krise herauszusteuern.
Dabei herrscht Alarmstufe Rot in Brüssel: Die Entwicklung, ja sogar der Fortbestand der Europäischen Union ist gefährdet. Die EU ist so tief gespalten wie nie zuvor.
Der entscheidende Unterschied zu früheren Krisen: Erstmals stehen sich zwei in etwa gleich starke Staatengruppen, jeweils geschart um zwei Anführerstaaten, hier Großbritannien und Spanien, dort Frankreich und Deutschland, fast feindselig gegenüber. Der Riss, der in der Irak-Frage aufgebrochen ist, kann sich leicht in andere Politikfelder der Gemeinschaft hineinfressen, etwa in die heiklen Finanzangelegenheiten, und den europäischen Einigungsprozess zum Stillstand bringen.
Der erfahrene Luxemburg-Premier flüchtet sich in Sarkasmus. Ob sich denn Spanien wieder ins europäische Boot ziehen lasse, wurde Juncker vor der Presse gefragt. Seine Antwort: Er wisse nicht mehr, in welches Boot, es gebe ja schon mehrere."Und bald ist jeder im Wasser und niemand mehr im Boot."
Die Krise erschüttert die Gemeinschaft zu einer Zeit, in der sie ohnehin schon vor schwierigen Aufgaben steht. Die Erweiterung nach Osten ist beschlossen, aber noch lange nicht bewältigt. Und das gesamte innere Macht- und Verwaltungsgefüge bedarf der raschen Neuordnung, die in einer hochkarätigen Reformrunde seit Monaten vorbereitet wird.
Valéry Giscard d'Estaing, der Präsident des Verfassungskonvents, bangt um den Erfolg des ehrgeizigen Projekts. Seine Zusage, am Gipfel teilzunehmen, hatte der Franzose zurückgezogen, denn die zerstrittenen EU-Führer waren nicht bereit, über neue Gemeinsamkeiten im Rahmen der künftigen Verfassung zu diskutieren.
In zwei Kernbereichen, von denen die Handlungsfähigkeit der auf 25 Länder erweiterten Union abhängt, wird es im Konvent, so Giscard, voraussichtlich keine Verständigung geben: bei der dringend notwendigen Neukonstruktion der Brüsseler Institutionen - EU-Kommission, Ministerrat, Europäisches Parlament - und beim Ausbau der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik. Nun will der frühere französische Staatschef auf Zeit spielen und die Reformrunde nicht wie geplant bis Juni, sondern bis September tagen lassen.
Doch die lähmenden Folgen der Irak-Krise sind bereits absehbar. Die britische Labour-Regierung, die wegen ihrer Kriegsteilnahme vollauf mit innenpolitischer Schadensbegrenzung beschäftigt ist, wird sich bei ihrem Europa-skeptischen Wahlvolk nicht mit einem Ja zum Ausbau der EU zusätzlichen Ärger einhandeln wollen.
London hat Konventspräsident Giscard signalisiert, mit den bisherigen, nur für Brüssel-Kenner interessanten Ergebnissen könne man leben - beispielsweise der Verbindlichkeit der Menschenrechts-Charta und dem Namen"Verfassung" für den neuen Vertrag. Mehr sei nicht drin.
Die Briten sagen Nein zur Wahl des europäischen Kommissionspräsidenten, die ihn in den Rang eines Regierungschefs befördern würde, Nein zur Stärkung des Europaparlaments, Nein zu Mehrheitsentscheidungen und zum Verzicht auf ihr Vetorecht in wichtigen Fragen, vor allem in der Außen- und Sicherheitspolitik. Die Positionen erscheinen unvereinbar. Was die Briten für"nicht akzeptabel" erklären, erscheint den deutschen Chefdiplomaten als höchst erstrebenswertes Ziel. Unbeirrt propagiert Joschka Fischer,"dass wir einen starken europäischen Außenminister brauchen" - gerade als Lehre aus dem tiefen Zerwürfnis (siehe SPIEGEL-Gespräch Seite 49).
Londons führender Verhandler im Konvent, Peter Hain, ficht das nicht an. In seinem Kampf gegen den"Brüsseler Superstaat" will er auf die EU-Neulinge im Osten setzen. Länder, die unlängst noch unter der Knute Moskaus standen, hätten, so Hain,"keinerlei Bedürfnis, sich Brüssel zu unterwerfen".
Frankreichs Präsident sieht sich in seiner Skepsis gegenüber der massiven Osterweiterung der EU bestätigt. Der Gaullist fürchtet, die auf Amerika fixierten neuen Mitgliedsländer würden der Union die Chance nehmen, sich als eigenständiger politischer Akteur auf der Weltbühne zu etablieren - mit starker französischer Steuerung.
Seinen Landsmann Giscard ließ Chirac wissen, er sei inzwischen entschieden gegen die Einführung von Mehrheitsentscheidungen über außen- und sicherheitspolitische Fragen. Dabei hatte er in einem gemeinsamen Brief mit Schröder an den Konvent vor kurzem noch dafür plädiert. Eine schlichte Rechnung stimmte den Franzosen nun nachdenklich: 14 Staaten der künftigen EU der 25 haben sich gegen sein Veto zum Krieg gestellt.
Chirac ließ bereits die Drohung streuen, eine künftige Verfassung, die seinen Wünschen nicht Rechnung trage, werde dem französischen Volk vorgelegt - um dann in einem Referendum im Herbst 2004 zu scheitern.
"Der Schwung bei der Erweiterung ist raus", stellte betrübt der deutsche EU-Kommissar Günter Verheugen nach seinen Kontakten mit den Regierungen der Alt-Mitglieder fest. Häufig bekomme er nun zu hören, die von ihm vorangetriebene Ostausdehnung, die unumkehrbar ist, sei wohl doch ein großer Fehler gewesen.
Die künftigen Partner von Estland bis Slowenien sorgen weiterhin für Irritationen. So tönte der tschechische Außenminister Cyril Svoboda, sein Land, das Chemiewaffen-Experten an den Golf geschickt hat, gehöre selbstverständlich zur"Koalition der Willigen". Regierungschef VladimÃr µpidla jedoch widersprach: Tschechischen Soldaten seien nur"humanitäre Einsätze" erlaubt. µpidla:"Wir sind nicht Bestandteil der Koalition."
Gewackel auch in Slowenien. Unmittelbar vor den ersten Luftangriffen distanzierte sich Präsident Janez Drnovsek von der proamerikanischen Erklärung, die Außenminister Dimitri Rupel kürzlich im litauischen Vilnius unterschrieben hat. Die Ergebenheitssignaturen der zehn Unterzeichner wurden offenbar auch auf Grund erpresserischen Drucks von jenseits des Atlantiks geleistet. Der slowenischen Regierung sei, so Rupel, gedroht worden, die heiß begehrte Aufnahme des Landes in die Nato könne im US-Senat noch leicht gekippt werden.
Hohe polnische Kleriker verbreiten, ihr Land sei aus Washington mit dem Hinweis gefügig gemacht worden, sonst würden Zusagen über US-Investitionen in Höhe von sechs Milliarden Dollar zurückgezogen.
Erschrocken über die Geister, die sie riefen, planen der französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler bereits eine neue EU, die wieder mehr die alte wäre.
Errungenschaften wie der gemeinsame Binnenmarkt oder die gemeinsame Währung von 12 Ländern sollen in der EU der 25 erhalten bleiben. Daneben aber möchten Chirac und Schröder ein neues Bündnis jener EU-Staaten betreiben, die zu verstärkter Zusammenarbeit in der Außen- und Sicherheitspolitik bereit sind.
Dieses Kern-Europa ließe sich, so der kürzlich verabredete Plan, aus Frankreich, Deutschland, Italien und den Beneluxländern, den sechs Gründerstaaten der Gemeinschaft, bilden. Es solle offen sein für andere ernsthafte Bewerber. Wenn es nicht gelinge, diesen Kern innerhalb der EU-Verträge zu organisieren, auch darin sind sich der Deutsche und der Franzose einig, dann müsse das eben anders geschehen.
"Mit Nachdruck", so Außenminister Fischer am Donnerstag in Brüssel, wollen die Alt-Europäer einen deutsch-französischen Vorstoß zur gemeinsamen Verteidigung weiterverfolgen. Danach sei die EU in eine"Sicherheits- und Verteidigungsunion" fortzuentwickeln, die wie die Nato einer kollektiven Beistandspflicht unterliegt.
Da die Vertreter mehrerer Mitgliedstaaten den Vorschlag im Konvent bereits als inakzeptabel abgelehnt haben, will man auf eigene Faust vorrücken. Deutsche, Franzosen und die sympathisierenden Belgier verabredeten bereits für April ein Sondertreffen zur neuen Verteidigungsinitiative. Andere Länder würden wohl dazustoßen - für den Luxemburger Juncker"die logische Konsequenz aus der Situation in der EU, die wir jetzt zu beklagen haben".
So vertieft sich die Spaltung Europas weiter. Denn auch das andere Lager sieht sich gestärkt. Die Unterstützung für seinen Kurs durch eine wesentliche Zahl der EU-Mitgliedstaaten sei klarer denn je, erklärte Premierminister Blair am Freitag in Brüssel:"Das hat sich hier erwiesen."
WINFRIED DIDZOLEIT, DIRK KOCH, JAN PUHL, MICHAEL SONTHEIMER

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