- Kinder haften für ihre Eltern (aus Spiegel 13/03) - Sascha, 24.03.2003, 03:44
Kinder haften für ihre Eltern (aus Spiegel 13/03)
--><font size=5>Kinder haften für ihre Eltern</font>
Besorgte Söhne, einfühlsame Töchter, interessierte Enkel - die Entzweiung der Generationen scheint passé. Der sensationelle Kinoerfolg"Good Bye, Lenin!" und literarische Neuerscheinungen sprechen für eine wachsende Sympathie von Jung für Alt.
Eine Rakete steigt in den Himmel über Berlin. An Bord die Asche der toten Mutter. Der Weltraumbahnhof: das Dach eines Plattenbaus. Der Eindruck: Gott, wie rührend.
So endet"Good Bye, Lenin!", Wolfgang Beckers filmische Bestattung der DDR. Auf dass die vor 13 Jahren Verblichene hinfort in Frieden kreise, im All des Vergessens, schwerelos und fern.
Ein junger Mann beschützt die Lebenslüge seiner Mutter. Sie hatte das Bewusstsein verloren, kurz bevor die DDR unterging, dann ist sie erwacht. Dass auf immer verloren ist, was eigentlich nie zu retten war, diese Lektion der Geschichte, meint der Sohn von der Mutter fern halten zu müssen. Realitätsverweigerung als erste Kindespflicht.
Der Junge füllt Kaffee und saure Gurken in alte DDR-Verpackungen um, heuert Knaben von der Straße an, hängt ihnen blaue Halstücher um und lässt sie FDJ-Lieder vor der Mutter singen. Der alte Schuldirektor, nach der Wende zum Alkoholiker herabgesunken, muss auch mit DDR-Redensarten vor die Kranke treten, ein Kumpel des Sohnes produziert auf Video ausgedachte Folgen der DDR-Tagesschau"Aktuelle Kamera".
Fieberhaft und pflichtbewusst arbeitet der Ost-Berliner Potemkin - vom schmächtigen Wessi Daniel Brühl mit entschlossenem Ernst gespielt - an der Aufrechterhaltung der DDR im Dorfformat einer Plattenbausiedlung, als gälte für ihn das obligate Baustellenschild anders herum: Kinder haften für ihre Eltern.
Das sonderbare Märchen hat einen sensationellen Erfolg. Dem Publikum war es egal, dass Großkritiker beim Berlinale-Start von"Good Bye, Lenin!" das taten, was sie reflexhaft gern tun: den Zollstock herausholen und den Abstand des deutschen Films zum ach so großen US-Kino vermessen ("FAZ":"Eine mittlere deutsche Großproduktion... in anderen Produktionszusammenhängen wäre es vielleicht ein großer Film geworden").
Die Zuschauer strömten trotzdem, bisher 3,6 Millionen in fünf Wochen. Möglicherweise im Weltmaßstab bloß mittelgroß, war die Begeisterung riesig. Ungewöhnlich in der heutigen Kinoszene: Die Story vom lieben Sohn, der seiner Mutter ein gnädiges Ende bereitet - Katrin Saß spielt diese Rolle mit wunderbar langen, den liebevollen Schmu durchschauenden Blicken -, wollten Jung und Alt gleichermaßen gern sehen.
Eilig machten sich die Blätter an das Deuten des Erfolgs. Erst jetzt, nach dem Ende der Illusionen, gebe es die richtige zeitliche Distanz zu einer Totenmesse für den verflossenen Honecker-Staat, meinten die einen. Ostalgie sei ein unausrottbares Gefühl, sagten andere. Aber solche Deutung erklärt nicht den Erfolg des Films im Westen: Umverpackte Spreewaldgurken und verblasste Pionier-Halstücher sind dort nur Schemen aus einer fremden Welt.
Was diesen Film so beliebt macht, könnte vielmehr auf eine neue Zeitströmung hinweisen, auf ein Ende des Dauerzwists zwischen den Generationen. Nach den Aufständen der zornigen jungen Männer wider den Mief der Altenherrschaft in den Fünfzigern, der 68er-Abrechnung mit den Nazi-Vätern und der narzisstischen Selbstfeier der Generation Golf sind in neuen Büchern ähnliche Töne zu vernehmen, wie sie in"Good Bye, Lenin!" aufklingen: Die Schalmeien spielen das Lied vom Geist des vierten Gebots - ehret Vater und Mutter.
Mit Schalmeienklängen hat eine Schriftstellerin wie Judith Hermann, 32, Shootingstar am deutschen Literaturhimmel, eigentlich wenig am Hut, ihre Stärke ist die Präzision einer von Selbstdeutungen freien Prosa, die den Strom der Gefühle, Assoziationen und Erinnerungen ohne Bevormundung auf den Leser wirken lässt. Auch sie treibt das Thema Begegnung mit den Eltern um. Schon der Titel"Acqua Alta", Italienisch für Hochwasser, eines 31-Seiten-Stücks aus ihrem Erzählungsband"Nichts als Gespenster", verweist auf eine innere Überflutungsgefahr, der sich die Ich-Erzählerin aussetzt, als sie sich entschließt, ihre Eltern in Venedig zu treffen.
So kommen sie als Touristen zusammen, die Tochter und die Eltern, jeder aus den eigenen Lebensbezügen, die Alten mit ihrer Lust aufs Reisen, die Junge mit einer Liebesenttäuschung, in der wie eine Inszenierung wirkenden Lagunenstadt. Hermann gelingt es, hinter dem Fluss der Beobachtungen die Sehnsucht nach Nähe ebenso aufsteigen zu lassen wie die Trauer um deren unwiederbringlichen Verlust. Da klagt keine zornige Tochter an, da packt keine Nachgeborene die Waffen der Ironie und der Distanzierung wider ihre Erzeuger aus. Da hält vielmehr eine flügge Gewordene den Schmerz über den Verlust der Nestwärme aus. Nach dem Wutgeschrei der Jungen gegen die Alten ein ganz neuer Ton, keine Schalmei, aber eine neue, leise Melodie. Goodbye, Hysterie. Goodbye, Jugendwahn. Adieu, Generationenkrieg.
"Ich habe sie geliebt", das Romandebüt von Anna Gavalda, 32, der Pariser Erfolgsautorin, erzählt ebenfalls von der neuen Sympathie zwischen den Generationen. Chloé, die Mutter zweier Kinder, ist vom Ehemann wegen einer Geliebten sitzen gelassen worden. Verzweifelt und wütend fährt die Frau zu ihren Schwiegereltern. Der Leser macht sich schon auf das übliche Klagelied von den armen Frauen und den bösen Kerlen gefasst, da schlägt die Handlung einen überraschenden Weg ein: Der Schwiegervater erzählt nachts, wenn die Enkelinnen schlafen, seiner Schwiegertochter die Tragödie seiner großen Liebe, die er einst aus Feigheit vertan hatte.
Obwohl die junge Frau vom Phantasma der Einzigartigkeit ihres Kummers, typisch für die Moderne, überwältigt ist, nimmt sie die Geschichte des Älteren ernst. Ihr hilft, dass die Menschen vor ihr Erfahrungen gemacht haben, die ihrem Leben so fern nicht stehen. Die Kette der Generationen fesselt nicht nur, sie kann auch tragen.
Gavalda überrascht mit ihrer Versöhnlichkeit den gelegentlichen Leser französischer Literatur. Der hat noch immer den Wutton eines Michel Houellebecq im Ohr. Im Stil des zu kurz gekommenen Kindes wetterte der"Elementarteilchen"-Autor noch vor wenigen Jahren gegen seine Mutter, die genusssüchtige und treulose 68er-Schlampe, die ihren Sohn dazu brachte, als bindungsunfähiges Sexmonster mit den Frauen zu verkehren.
Ein Sensationserfolg wie die TV-Doku-Soap"Schwarzwaldhaus", für die es in der vergangenen Woche den Adolf-Grimme-Preis gab, erklärt sich auch mit der Entdeckung, welche Vorteile der Zusammenhalt zwischen den Generationen bietet. Die Großstadt-Familie Boro übersteht die Schwierigkeiten, in einem Bauernhaus ohne Klo und fließend Wasser mit einem quiekenden Schwein und miesem Wetter wie vor hundert Jahren zu überleben, weil Töchter und Sohn mitziehen und den Traum der Mutter vom heilen alternativen Leben wider besseres Wissen unterstützen.
Familie muss keine Einbahnstraße auf das Ziel der maximalen Entfaltung der Kinder hin sein, wie es die 68er-Pädagogik forderte, die die Familie immer nur als eine im Grunde zu überwindende Institution begriff. Rücksichtnahme verdienen die Jungen, aber eben auch deren Eltern.
Noch erscheint eine Welt ohne Generationenauseinandersetzung als äußerst gewöhnungsbedürftig. Mode und Zeitgeist haben sich an die Abgrenzungsrituale gewöhnt. Zur Ikonografie der fünfziger Jahre gehört neben dem Nierentisch auch eine Figur wie James Dean, dieser Junge, der armeschlenkernd und verlegen grinsend den Blick der Älteren nicht aushalten kann und der sich doch - wie im Kultfilm"Jenseits von Eden" - nach nichts mehr sehnt, als vom Vater anerkannt und gesegnet zu werden.
Als - nicht zuletzt wegen der Verstocktheit der Väter - die Versöhnung ausblieb, machten die 68er Tabula rasa. Der Konflikt zwischen Alt und Jung wurde ideologisch überhöht: Hier die guten Jungen, dort die bösen Nazi-Eltern und Großeltern. Elternliebe galt auf einmal als raffinierte Herrschaftstechnik, das Verhältnis von Vater zu Tochter und Sohn zur Mutter erklärte eine Populärpsychologie zur ödipusverseuchten Zone, die hoch begabten Kinder mussten aus dem Gefängnis Familie befreit werden.
Film und Literatur gewährten Älteren in ihren Werken nur einigermaßen wohlwollendes Asyl, wenn sie reuige Nazi-Sünder, schrullige Außenseiter oder archaisch-jenseitige Wesen wie das Schabbach-Personal in Edgar Reitz'"Heimat"-Chronik waren.
Die Abgrenzung war nicht nur radikal - auf beiden Seiten. Sie setzte einen Mechanismus in Gang. Selbst wer als Junger eigentlich gar nichts anderes anstrebte als die Alten, musste sich mit Generationsgehabe ausstatten. Jeder Jahrgang stimmte sein eigenes Lamento an, auch wenn es noch so lächerlich erschien. Der Erfinder der"Generation Golf", Florian Illies, 31, gab allen Ernstes zu Protokoll, eine schwierige Wahl seiner Jugend sei gewesen, sich zwischen Geha- und Pelikan-Füllern zu entscheiden.
Mariam Lau erinnert in ihrer neuen Harald-Schmidt-Biografie an einen Ausspruch des Journalisten Gustav Seibt: Wo wenig Klasse ist, ist viel Generation. Man weiß nicht, wer man ist, und lotst sich deshalb am Generationenkonzept durch den Markt der Identitätsangebote.
Die künstliche Stichelei der Jungen gegen die Alten, die sich oft nur über Betroffenheits-Habitus, die falschen Klamotten oder den unangesagten Musikgeschmack der Väter und Mütter aufregt, überzeugt kaum noch. Man darf nicht vergessen: Es gibt immer weniger Jugend. Seit 1950 sank der Anteil derjenigen, die jünger als 20 Jahre sind, von einem Drittel auf ein Fünftel der Bevölkerung. In 40 Jahren werden nur noch 15 Prozent jung sein.
Umfragen bestätigen das Bild einer folgsam-braven Nachwuchsgeneration: Innerhalb der letzten 15 Jahre ist der Teil junger Menschen, die ihre Kinder genauso erziehen würden, wie sie von ihren Eltern erzogen wurden, von 53 auf 72 Prozent gestiegen. Auch der Trend zur Kleinfamilie trägt dazu bei: Einzelkinder akzeptieren die Eltern als Ersatz-Geschwister.
Angesichts von 30 Erstklässlern in den vorderen Reihen und den sich bei der Einschulungsfeier hinter ihnen drängenden 300 Verwandten, bestehend aus Eltern, Großeltern, Urgroßeltern, Onkeln und Tanten, sieht der Soziologe Karl Otto Hondrich besonders für die Zukunft die Gefahr der Überintegration, den drohenden totalen Ausfall jeder Auseinandersetzung zwischen Jung und Alt. Das würde die Kreativität einer Gesellschaft schädigen. Das überlange Zusammenleben von Kindern und Eltern ("Hotel Mama"), die Flucht von jungen Geschiedenen mit Kindern unter die Fittiche ihrer Erzeuger, beides oft aus materiellen Gründen, sind bedenkliche Anzeichen eines äußeren Freiheitsverlustes der Jugend.
Der neue Kuschelkurs zwischen den Generationen ist manchen Beobachtern unheimlich. Autoren wie der Soziologe Wolfgang Engler fragen, warum die jungen Ostdeutschen nach dem Scheitern des kommunistischen Experiments keinen Konflikt mit den Eltern ausfechten, sondern, wie die Zeitschrift"Literaturen" schreibt,"mit ihrer Selbstinszenierung befasst sind, in der die Eltern eine warme Ecke finden". Jana Hensel ("Zonenkinder") habe, bemerkt der"Literaturen"-Rezensent, ihr Buch sogar ihrer Mutter gewidmet.
Engler hält solche Milde für das Ergebnis einer gescheiterten Arbeitsgesellschaft. Warum soll sich der Osten, dem die Jungen ohnehin weglaufen, noch einen Generationenkonflikt leisten und sich nicht lieber selbst ein herzliches"Goodbye, Lenin, wir Verlierer" zurufen?
Sind Tage des jugendlichen Zorns auch bei der Beschäftigung mit Krieg und Nationalsozialismus vorbei?"Opa war kein Nazi" heißt eine jüngst erschienene Studie, in der 40 Familien- und 142 Einzelgespräche ausgewertet wurden. Wenn die lieben Verwandten plaudern, dann müsste die Geschichte des Nationalsozialismus neu geschrieben werden.
Der Enkelgeneration erscheinen die Opas in der Familie als couragierte Widerstandskämpfer, an Verbrechen gegen die Juden kann sich der eigene Clan kaum erinnern. Besonders Abiturienten glauben die Geschichten vom Widerstand der Familie. Das weise, sagt der Sozialpsychologe Harald Welzer, darauf hin, dass"kognitives Geschichtswissen und emotionale Geschichtsgewissheit zwei völlig verschiedene Dinge sind".
Aber das letzte Wort sind solche Befunde nicht. Die Eltern- und Großelterngeneration, solange sie noch mit ihren Kriegserinnerungen lebt, wird sich trotz der Entspannung zwischen Jung und Alt nicht in die Friedhofsruhe des Vergessens zurückziehen können.
Dafür sorgt zum Beispiel ein Buch wie das des"Tagesspiegel"-Redakteurs Christoph Amend, 29. Er hat sich nicht durch eine Aversion gegen 68er-Eltern und -Erzieher abhalten lassen und hat die Generation der Großväter von Richard von Weizsäcker bis zum zeitweise in Tränen ausbrechenden Psychoanalytiker Horst-Eberhard Richter nach ihren Kriegserinnerungen befragt.
Am Schluss seines Buchs"Morgen tanzt die ganze Welt" (Blessing Verlag) steht ein Satz, der nicht mehr nach Kampf, aber auch nicht nach billiger Harmonie klingt:"Meine Generation kann von den Alten nicht lernen, wie es weitergehen soll, von den Großeltern nicht und auch nicht von den Eltern. Den Weg, unseren Weg, müssen wie allein finden. Fangen wir an?"
NIKOLAUS VON FESTENBERG

gesamter Thread: