- Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hÀtte - (1) - Wal Buchenberg, 05.04.2003, 09:53
Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hÀtte - (1)
-->Vorwort
Die Geschichte der Sowjetunion ist in allen Lagern als Fehlentwicklung anerkannt. Wer jedoch meinte, der eigene politische Standpunkt wĂŒrde durch den Zusammenbruch des Sowjetsystems gestĂ€rkt, war bald enttĂ€uscht. Weder wurde das âEnde der Geschichteâ erreicht, noch wurden âFriedensdividendenâ verteilt und spĂ€testens seit der krisenhaften Verfassung der Weltwirtschaft und dem offen ausgebrochenen Streit zwischen der Noch-Supermacht USA und einer Bald-Weltmacht Europa wĂŒnschen sich immer mehr Leute die Zeiten des Kalten Krieges zurĂŒck, als die Welt ĂŒbersichtlich in Gut und Böse aufgeteilt war.
Auf der anderen Seite bewiesen der Verlustschmerz und die Marginalisierung der sozialistischen und kommunistischen Traditionsparteien nach dem Ende der UdSSR, dass alle diese Parteien und ParteiansÀtze trotz gegenteiliger Beteuerungen und trotz aller Kritik an der Sowjetunion doch nur Kinder und Enkel des Roten Oktober von 1917 waren.
Die sozialistische und kommunistische Parteilinke im Westen brauchte die Sowjetunion als Vorbild. Aber selten wurde ihr sozialistisches Modell von der zeitgenössischen Geschichte und nie von der ganzen Geschichte der Sowjetunion verkörpert.
Jede marxistische Strömung, Gruppe oder Partei im Westen wÀhlte sich einen besonderen historischen Abschnitt der Sowjetunion, der von einer einzelnen marxistischen Strömung zum sozialistischen Modell verklÀrt wurde. Oder anders: Jede Geschichtsepoche der Sowjetunion fand im Westen einen politischen Resonanzboden, auf dem eine eigenstÀndige marxistische Richtung erwuchs. Auf diese Weise wurde die Sowjetunion von allen marxistischen Linken im Westen gleichzeitig idealisiert und kritisiert.
- Die Erinnerung an den nachrevolutionÀren Kriegskommunismus in Russland nÀhrt den Trotzkismus bis heute;
- die âNeue Ă-konomische Politikâ von 1921 bis 1928 mit ihrer Mischung von Staat und Markt blieb die heimliche Utopie von linken Sozialdemokraten;
- der âStalinismusâ von 1930 bis 1952 wurde zum Vorbild aller Marxisten-Leninisten;
- die Reformversuche unter Chruschtschow wie unter Gorbatschow machten linken Intellektuellen Hoffnungen auf einen âmenschlichen Sozialismusâ;
- die Erstarrung und Vergreisung der nachstalinistischen Sowjetunion schlug mit ihrer beeindruckenden militĂ€rischen Macht noch alle westlichen âRealsozialistenâ in den Bann.
Indem jede dieser politischen Strömungen einen einzigen historischen Abschnitt aus der Gesamtentwicklung der Sowjetunion herausgriff und idealisierte, wurde anhand dieses TeilstĂŒcks die ganze restliche Geschichte der UdSSR kritisiert und verworfen:
- Trotzkisten gehen davon aus, dass die sowjetische BĂŒrokratie nach dem Tod Lenins eine Konterrevolution durchfĂŒhrte.
- FĂŒr demokratische Sozialisten und linke Sozialdemokraten ist Stalin der groĂe KonterrevolutionĂ€r.
- Die Marxisten-Leninisten glauben, dass mit Chruschtschow eine Konterrevolution gegen die AnhÀnger Stalins siegte.
- Die heutige russische KP und die chinesische KP meinen, dass erst Gorbatschow eine Konterrevolution gegen den Sozialismus anfĂŒhrte.
Indem jede marxistische Linke auf einen historischen Einzelabschnitt schaute, suchte und fand sie in der Sowjetunion politische UnterstĂŒtzung fĂŒr ihre politische Doktrin. Die ganze Geschichte der Sowjetunion erscheint jedoch erst recht als ein Wirrwarr von sich gegeneinander ausschlieĂenden politischen Standpunkten, die sich gegenseitig widerlegen.
Die RĂ€tsel, die die Moskauer Sphinx aufgab, haben ihre politische Brisanz verloren. Es macht keinen Sinn mehr, die Debatten zwischen Stalin und Trotzki, Stalin und Tito oder zwischen Chruschtschow und Mao usw. zum x-ten Male zu deklamieren. Vielleicht ist jetzt endlich die Zeit gekommen, die ganze Geschichte der Sowjetunion zu begreifen.
Ein wirkliches Begreifen muss handfestere Belege liefern als öffentliche ErklĂ€rungen von Staats- und Parteichefs. Den SchlĂŒssel zum VerstĂ€ndnis des Sowjetsystems findet man nicht in den Verlautbarungen sowjetischer FĂŒhrer, sondern in den Daten und Fakten der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte. Karl Marx hatte in seiner Analyse und Kritik des Kapitalismus im âKapitalâ ĂuĂerungen politischer Persönlichkeiten allenfalls zur Illustration und nie zur wissenschaftlichen BeweisfĂŒhrung benutzt.
Diese Kritik der politischen Ă-konomie der Sowjetunion stĂŒtzt sich jedoch - in der wissenschaftlichen Tradition eines Karl Marx - keineswegs auf abstrakte ökonomische Kategorien, sondern analysiert den Gang der sowjetischen Wirtschaftsgeschichte, um zu verstehen, warum kommen musste, was gekommen ist.
Wal Buchenberg, 31.03.2003
1. Arbeitskraft und Produktionsmittel in der Sowjetwirtschaft
Die Meinung ist verbreitet, dass die russische Oktoberrevolution 1917 in einem rĂŒckstĂ€ndigen Land ohne Entwicklungsdynamik stattgefunden habe. So schrieb z.B. Iring Fetscher: âĂ-konomisch war Russland ein weithin rĂŒckstĂ€ndiges Land. Es gab lediglich AnfĂ€nge eigener Industrien (vor allem in der NĂ€he von St. Petersburg), die allerdings in modernen und stark konzentrierten GroĂbetrieben bestanden. Ein groĂer Teil dieser industriellen Anlagen gehörte auslĂ€ndischen âKapitalistenâ. Grundlage der Volkswirtschaft war die landwirtschaftliche Produktion...â
Das DDR-Schulbuch sah es nicht anders: âIn den Jahren nach 1907 stieg zwar die industrielle Erzeugung Russlands rasch an.... Doch im Tempo der industriellen Entwicklung blieb Russland noch immer hinter den anderen (sic!) kapitalistischen GroĂmĂ€chten zurĂŒck. Der Anteil der Industrie an der Gesamtproduktion betrug 1913 nur 42,5 Prozent, wĂ€hrend der Anteil der Landwirtschaft 57,5 Prozent ausmachte. Russland war ein Agrarland geblieben, in dem 76 Prozent der Bevölkerung von der Landwirtschaft lebten.â
TatsĂ€chlich war das zaristische Russland zwar sehr ungleich entwickelt, aber seine Wachstumszahlen lagen - anders als es das DDR-Schulbuch behauptet - mindestens seit 1900 ĂŒber den Vergleichszahlen der westeuropĂ€ischen LĂ€nder. Trotz des schweren Krisenjahres 1905 erreicht die russische Volkswirtschaft von 1900 bis 1913 ein durchschnittliches Jahreswachstum von fast 5 Prozent gegenĂŒber 2 Prozent der meisten kapitalistischen LĂ€nder. An seiner Wirtschaftskraft gemessen lag Russland 1910 an 10. Stelle in der Welt, ein Rang, den heute (2002) Spanien einnimmt. Niemand kĂ€me auf die Idee, Spanien als ein âweithin rĂŒckstĂ€ndiges Landâ zu bezeichnen.
Die russische Industrie war vor der Revolution 1917 fĂŒr damalige VerhĂ€ltnisse hochmodern, weil sie zum groĂen Teil importiert war. Im Jahr 1912 stammten 57 Prozent aller Anlagen aus dem Ausland. In auslĂ€ndischem Besitz waren 1915 noch rund 33 Prozent. Vor allem die Ă-lindustrie gehörte vorwiegend zu auslĂ€ndischem Kapital.
Abgesehen von der Ă-lindustrie konzentrierten sich die GroĂbetriebe - oft RĂŒstungs- und Eisenbahnbetriebe - auf den Raum von St. Petersburg, Moskau, das russische Polen und die Ukraine. Das sonstige Land war beherrscht vom kleinen Handwerk und der Landwirtschaft. Kleine Handwerksbetriebe beschĂ€ftigten im Jahr 1915 rund 67 Prozent aller Arbeiter oder 5,2 Millionen von insgesamt 7,76 Millionen Arbeitern bei einer Gesamtbevölkerung von rund 165 Millionen.
Wird fortgesetzt. Wal Buchenberg, 05.04.2003.

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