- Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte 4): Lohn oder Unterhaltszahlung? - Wal Buchenberg, 08.04.2003, 07:26
Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte 4): Lohn oder Unterhaltszahlung?
-->Die letzte Folge steht hier: Gesellschaft als Fabrik
Lohn oder Unterhaltszahlung?
In der Versorgungsnot der nachrevolutionären Jahre 1918 bis 1921 und der daraus folgenden Inflation hatten viele russische Betriebe ihren Belegschaften Lebensmittelrationen ausgegeben, statt Löhne zu zahlen. Jeder von uns wird Inflation und Lebensmittelrationen für Zeichen der Not halten. Der sowjetische Parteitheoretiker Bucharin erklärte sie jedoch zu Anzeichen des baldigen Kommunismus: „Das Geld stellt jene dinglich gesellschaftliche Bindung, jenen Knoten dar, zu dem das ganze entfaltete Warensystem der Produktion geschürzt ist. Begreiflich, dass in der Übergangsperiode, im Prozess der Vernichtung des Warensystems als solchen, ein Prozess der ‚Selbstverneinung’ des Geldes stattfindet. Er drückt sich erstens in der sogenannten ‚Geldentwertung‘ aus, zweitens darin, dass die Verteilung der Geldzeichen von der Verteilung der Produkte unabhängig wird und umgekehrt. Das Geld hört auf, ein allgemeines Äquivalent zu sein... Der Arbeitslohn wird zur Scheingröße, die keinen Inhalt hat.... Vom Arbeitslohn bleibt bloß seine äußere Hülle erhalten - die Geldform, die zusammen mit dem Geldsystem der Selbstvernichtung entgegengeht.“ Eine seltsame Logik, die die Befreiung von der Lohnarbeit darin entdeckt, dass sich die Arbeiter nichts mehr von ihrem Lohn kaufen können. Bucharin verstand das „wachsende Naturalsystem“ nicht als atavistische Rückentwicklung in vorkapitalistische Tauschverhältnisse, sondern sah in diesen Not- und Verzweiflungsmaßnahmen einen historischen Fortschritt.
Bucharin behauptete: „Im System der proletarischen Diktatur erhält der ‚Arbeiter‘ einen gesellschaftlichen Anteil, aber keinen Arbeitslohn.“
In Bucharins Sicht waren die sozialistischen Arbeiter und die anderen Werktätigen nicht sich selbst verantwortliche Schöpfer und Herren der Produktion, die über ihre Arbeit selbst bestimmten und über ihr Arbeitsprodukt frei verfügten, vielmehr waren sie passive Empfänger, die von Dritten etwas „erhielten“. Was erhielten sie und von wem? Sie erhielten einen Teil des Arbeitsprodukts, das sie selber geschaffen hatten. Und von wem erhielten sie es? Von der Planerbürokratie, die die Verwalter des gesamten sowjetischen Arbeitsprodukts waren. Da jedoch diese Verwalter nur sich selber verantwortlich waren, waren sie nicht Treuhänder der Gesellschaft, sondern wirkliche Eigner des gesamten Arbeitsprodukts.
Lohn ist Bestandteil eines Kaufvertrages. Jeder Lohnarbeiter im Kapitalismus handelt bei seiner Einstellung mit einem kapitalistischen Unternehmer einen Preis für die produktive Vernutzung seiner Arbeitskraft aus. Die Höhe dieses Preises hängt von der besonderen Konkurrenzsituation der eigenen speziell ausgebildeten Arbeitskraft wie von der gewerkschaftlichen Kampfkraft aller Lohnarbeiter, das heißt dem erreichten Lebensstandard ab.
Im Sowjetsystem dagegen mussten und konnten die Werktätigen ihre Arbeitskraft nicht an einen beliebigen Käufer verkaufen, ihnen stand der Staat als ein „einziger Unternehmer“ gegenüber. Die sowjetischen Werktätigen wurden von ihrer Planungsbürokratie dienstverpflichtet und diese hatte als Gegenleistung eine Unterhaltsverpflichtung. Sie wies ihren Arbeitern eine Unterhaltszahlung zu, anfangs noch in Naturalien, später wieder in Geldform. Die Planungsbürokratie entschied sowohl über Menge wie Art dieses Unterhalts der Werktätigen. Die Konsummenge für die Werktätigen wurde bewusst knapp gehalten, damit möglichst viel Produktivkraft in den raschen Aufbau der Industrie gesteckt werden konnte.
Im Kapitalismus leben die Lohnarbeiter, vom einfachen Hilfsarbeiter bis zur hochbezahlten Managerin in einer prinzipiellen Existenzunsicherheit. Sie wissen nie, ob ihr Unternehmen noch ihre Arbeitskraft benötigt oder ob ihre Arbeitskraft weiter ihren Dienst tut. Sobald ein Lohnarbeiter dem Kapital nicht mehr profitabel erscheint, dann wird er in die Armut entlassen. In der Sowjetunion hatte die Planerbürokratie eine „väterliche“ oder patronale Fürsorgepflicht für alle Sowjetbürger, die zur Arbeit dienstverpflichtet waren. Die Arbeitskraft war im Sowjetsystem zwar keine Ware, für die ein Käufer gefunden werden musste, statt dessen galten die sowjetischen Werktätigen ihrer Planerobrigkeit nicht viel mehr als willenlose Arbeitstiere, die von ihren Besitzer gefüttert wurden.
Aus einem Brief Stalins an Molotow aus dem Jahr 1930 wird ganz deutlich, dass Stalin die sowjetischen Arbeiter nicht als selbstbestimmte Produzenten ansah, sondern als Untergebene der Planerbürokratie, der das gesamte Arbeitsprodukt gehört, und die davon nach Belieben Lohnzahlungen als Disziplinierungsinstrument einsetzen kann: „Um die Sache unseres Aufbaus richtig auf den Weg zu bringen, müssen wir noch eine andere Seite der Sache anpacken. Ich spreche von der ‚Fluktuation’ in den Betrieben, vom Rückgang der Stammarbeiter, vom sozialistischen Wettbewerb.... Gegenwärtig sieht es so aus, dass einige Arbeiter ehrlich und nach dem Wettbewerbsprinzip arbeiten; andere aber (die Mehrheit) arbeiten liederlich und ‚flattern’ von Betrieb zu Betrieb; sie sind aber genauso (wenn nicht sogar besser) versorgt wie die ersteren, nutzen die gleichen Privilegien, was Urlaub, Sanatoriumsaufenthalte, Versicherung usw. betrifft. Ist das nicht eine Schande?... Zusätzlich zu diesem Unfug reißen wir auch noch alle Arbeiter, die nur irgendwie Initiative zeigen, aus der Produktion heraus (‚Beförderung’) und stecken sie in irgendwelche Behörden, wo sie in der ungewohnten Umgebung vor Langeweile umkommen; zugleich bauen wir aber damit den Facharbeiterstamm in der Produktion ab... Diese Zustände weiter zu dulden hieße, gegen die Interessen des sozialistischen Aufbaus zu handeln. Was ist zu tun? Wir müssen:
a) die Versorgungsgüter für die Arbeiter... in den wichtigen, entscheidenden Regionen konzentrieren...
d) Die Delegierung von Arbeitern von der Werkbank weg in alle möglichen Apparate verbieten und eine Beförderung nur innerhalb der Produktion... zulassen.
e) mit Tomskis kleinbürgerlichen Traditionen bei Bummelei und schlechter Arbeitsdisziplin brechen... gegen Bummelanten in breitem Umfang Arbeitsgerichte einsetzen und sie aus den Gewerkschaften ausschließen;
f) mit Tomskis kleinbürgerlichen Traditionen in der Frage der Arbeitslosen brechen,... die Listen der Arbeitslosen systematisch von zufällig dorthin gelangten und zweifellos nicht arbeitslosen Elementen säubern und ein solches Regime einführen, dass ein Arbeitsloser, der eine angebotene Arbeit zweimal abgelehnt hat, automatisch das Recht auf Arbeitslosengeld verliert;
g) und so weiter und so fort...
Das ist natürlich eine ernste und komplizierte Angelegenheit. Sie muss gründlich durchdacht werden. Kann man diese Maßnahmen sofort und in allen Industriezweigen anwenden - auch das ist ein Problem. Aber trotz allem ist dies eine sehr notwendige und unvermeidliche Sache.“
So offen wie Stalin hier gegenüber seinem Vertrauten Molotow deutlich macht, dass es ihm nicht um Abschaffung der Lohnarbeit und Beseitigung der Klassenunterschiede geht, sondern um Steigerung der Produktion, so offen haben sich die Sowjetführer nie öffentlich geäußert. Aber den sowjetischen Sozialismus kann man nicht aus öffentlichen Erklärungen der Sowjetführer verstehen oder kritisieren - genauso wenig wie man den Kapitalismus aus den öffentlichen Äußerungen kapitalistischer Regierungen verstehen oder kritisieren kann.
Wird fortgesetzt, Wal Buchenberg, 8.4.2003.

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