- Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte 7): Zwangsarbeit im Gulag - Wal Buchenberg, 11.04.2003, 07:35
Was Marx am Sowjetsystem kritisiert hätte 7): Zwangsarbeit im Gulag
-->Hier steht die letzte Folge:
http://de.indymedia.org/2003/04/48540.shtml
Stahl statt Butter
1.3. Zwangsarbeit im Gulag
Dass die von der Partei im ersten Fünfjahrplan festgelegte „maximale Entwicklung der Produktion von Produktionsmittel“ nur auf Kosten der Lebensverhältnisse aller Werktätigen zu schaffen sei, muss allen ökonomisch halbwegs Gebildeten klar gewesen sein. Während der Produktion von Produktionsmitteln werden von den Arbeitenden Konsumtionsmitteln zwar verzehrt, aber keine neuen Konsumtionsmittel hergestellt. Für einen solchen Verzehr ohne Ersatz gab es nach den Krisenjahren 1927/28 kaum öffentliche Vorräte. Da griff die Partei auf Mittel zurück, die nicht nur in Russland unselige Tradition hatten: „Auf den unentwickelteren Stufen der kapitalistischen Produktion werden Unternehmungen, die eine lange Arbeitsperiode, also große Kapitalauslage für längere Zeit bedingen, namentlich wenn nur auf großer Stufenleiter ausführbar,... gar nicht kapitalistisch betrieben, wie z.B. Straßen, Kanäle etc., (sondern) auf Gemeinde- oder Staatskosten (in älteren Zeiten meist durch Zwangsarbeit, soweit die Arbeitskraft in Betracht kommt).“
Seit 26. März 1928 wurde die Lohnzahlung an sowjetische Häftlinge eingestellt, um „die wirtschaftliche Rentabilität zu erhöhen.“ Betrug die Zahl der zu Zwangsarbeit Verurteilten im Jahre 1926 noch 14,3% aller Verurteilungen, so waren es 1931 schon 56%.
Strafjustiz und staatlicher Terror, die bis dahin hauptsächlich dem bolschewistischen Machterhalt dienten, wurden nun auch „in den Dienst des sozialistischen Aufbaus“ gestellt. Inmitten der sowjetischen Gesellschaft breitete sich eine „Inselwelt“ von rund 100 „Arbeits- und Besserungskolonien“ mit Insassen aus, die die Millionengrenze deutlich übertrafen.
Zwangsarbeit von Häftlingen wurde vor allem in unwirtlichen Regionen und gesundheitsschädlichen Branchen und für Bauprojekte mit langer Bauzeit eingesetzt. Im Westen frühzeitig bekannt wurde der Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals, der nur 200 km am Nordpolarkreis vorbeiführt und in nur zwanzig Monaten von November 1931 bis Juni 1933 von über 100.000 Zwangsarbeitern mit primitivsten Mitteln gebaut wurde.
In dem betreffenden Beschluss des Politbüros vom 5. Mai 1930 heißt es: „Die Gesamtkosten aller Bauarbeiten am Südabschnitt des Kanals dürfen 60 Millionen Rubel nicht überschreiten.... Bei der Kostenkalkulation für den Bau des Nordabschnitts des Kanals wurde beschlossen, die Möglichkeit des Einsatzes von Häftlingen für diese Arbeiten in Betracht zu ziehen.“ In einer persönlichen Notiz von Stalin heißt es weiter: „Ich gehe davon aus, dass er hauptsächlich mit Kräften der GPU gebaut werden wird.“
Zwangsarbeit wurde eingesetzt „in der Holzindustrie, in Bergwerken, bei der Kohle- und Zink-, Phosphat- und Bleigewinnung; im Straßen-, Eisenbahn- und Kanalbau...“
Häftlings- und Zwangsarbeit wurde offizieller Bestandteil der Wirtschaftspläne. „Der Volkswirtschaftsplan für 1941 sah für die Organe des NKWD Investitionsvorhaben in Höhe von 6,8 Milliarden Rubel und eine Industrieproduktion von 1,8 Milliarden Rubel vor. Für die Erfüllung dieser Aufgaben des NKWD wurden 1.976.000 Häftlinge und 288.000 Zivilangestellte... eingesetzt. Im Jahre 1940 erbrachte das Volkskommissariat des Inneren etwa 13 Prozent des Bauvolumens der Volkswirtschaft.... Von 1941 bis 1944 wurden vom NKWD der UdSSR folgende Objekte gebaut und der Nutzung zugeführt:
- 612 operative Flugplätze und 230 Flugplätze mit Start- und Landebahnen;
- mehrere Flugzeugwerke im Rayon Kuibyschew;
- drei Hochöfen mit einer Jahreskapazität von 980.000 Tonnen Roheisen;
-16 Martin- und Elektroschmelzöfen mit einer Kapazität von 445.000 Tonnen Stahl;
- WalzstraĂźen mit einer Gesamtleistung von 542.000 Tonnen Walzstahl;
- 4 Koksofenbatterien mit einer Kapazität von 1740.000 Tonnen Koks;
- Kohlegruben und Tagebaue mit einer Kapazität von insgesamt 6.790.000 Tonnen Kohle;
46 Generatorturbinen mit einer Gesamtleistung von insgesamt 596.000 Kilowatt;
- 3573 Kilometer neue Bahngleise;
- 4700 Kilometer LandstraĂźen;
- 1056 Kilometer Erdölleitungen;...“ Die Liste enthält noch die Errichtung weiterer 29 neuer Werke und Betriebsstätten.
Da Zwangsarbeit noch kostengünstiger als sowjetische Lohnarbeit genutzt werden konnte, mussten die Staatsorgane für ständigen Nachschub von Häftlingen sorgen: „Jede Stadt, jeder Bezirk, jede Armee-Einheit erhielt eine Sollzahl zugewiesen, welche fristgerecht zu erfüllen war.... Der ehemalige Tschekist Alexander Kalganow erinnert sich, in Taschkent ein Telegramm erhalten zu haben: „Schickt zweihundert!“. Im Augenblick aber waren sie gerade mit einer Partie fertig, und es gab scheinbar niemanden mehr zum „Nehmen“....
Eine Anfrage von der Miliz: Was tun? Zigeuner haben mitten in der Stadt ungeniert ihre Zelte aufgeschlagen. Das ist’s! Das Lager wird umzingelt und alle Männer von siebzehn bis sechzig nach § 58 eingezogen! Planerfüllung zu vermelden!“
Die Staatsbehörden stritten sich sogar gegenseitig um „ihre“ Zwangsarbeiter. Stalin schrieb an Molotow: „Am 27. Juni 1929 bestätigte das Politbüro den Beschluss ‚Zum Einsatz von Strafgefangenen’. Darin war vorgesehen, dass Personen mit Freiheitsstrafen von drei Jahren und mehr in Lager der OGPU zu überstellen waren. Für die Aufnahme dieser Häftlinge wurde beschlossen, die bereits bestehenden Arbeitslager zu erweitern und... neue zu errichten, ‚um diese Regionen durch die Arbeit der Häftlinge zu erschließen und ihre Naturreichtümer zu nutzen’.... Die NKWD der Unionsrepubliken wehrten sich jedoch dagegen, die Häftlinge mit Strafen von drei Jahren und mehr abzugeben, um sie selbst in ihren Wirtschaftsprojekten einzusetzen.“
Jeder Staatsapparat nutzt Terror und Gewalt zum Machterhalt, darin unterscheidet sich der Stalinsche Terrorstaat nur graduell und quantitativ von demokratischeren Regierungen. Terror und Gewalt in groĂźem Umfang als Produktivkraft zu nutzen, das ist eine Grenze, die in der Neuzeit nur wenige, besonders brutale Regimes ĂĽberschritten haben.
In den Gulag-Berichten Solschenizyns überwiegt der machtpolitische, nicht der wirtschaftliche Nutzen, wenn er sarkastisch feststellte: Die Häftlingsströme „fließen durch unterirdische Rohre und sanieren das an der Oberfläche blühende Leben“ - als sei die schmutzige Welt der Arbeitslager die reinigende Gegenwelt zum scheinbar blühenden Sowjetsystem. Andrej Amalrik dagegen sah im Arbeitslager nicht die unvermeidliche Ergänzung, sondern die ideale Verkörperung des Sowjetsystems: „Das Lager stellt einen Mikrokosmos der sozialistischen Gesellschaft dar - es garantiert alle sozialökonomischen Rechte, deren sich die Sowjetmacht so sehr rühmt und die die Sozialisten anstreben: das Recht auf bezahlte Arbeit, auf Nahrung, Kleidung, Wohnraum und kostenlose medizinische Behandlung.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.
Wird fortgesetzt, Wal Buchenberg, 11.4.03

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