- Oberster Verfassungsrichter rügt"Politik mit Kommissionen" - Popeye, 15.04.2003, 09:20
- Es wird nur ein einmaliger Ausrutscher des obersten Richters gewesen sein. - nasowas, 15.04.2003, 09:51
- Re: Oberster Verfassungsrichter rügt"Politik mit Kommissionen" - CRASH_GURU, 15.04.2003, 17:41
Oberster Verfassungsrichter rügt"Politik mit Kommissionen"
-->Oberster Verfassungsrichter rügt"Politik mit Kommissionen"
Hans-Jürgen Papier: Neuer Regierungsstil führt zu Beharrung und Besitzstandswahrung /"Kaum erträglicher Reformstau"
jja. FRANKFURT, 14. April. Der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Hans-Jürgen Papier, hat den"kaum mehr erträglichen Reformstau" in der Wirtschaftspolitik attackiert."Die neokorporatistischen, verbändestaatlichen Formen der Politik haben bisher vielfach notwendige Sachentscheidungen von weitreichender und vor allem zukunftssichernder Dimension verhindert", sagte Papier vor der Stiftung für Ordnungspolitik in Freiburg. Ständig vermehre sich die Zahl der von der Bundesregierung eingesetzten Expertenrunden. Aktuelle Beispiele seien die"Hartz-" und die"Rürup-Kommission" sowie die"Kommission zur Reform der Gemeindefinanzen". Dies führe"vor allem zu Beharrung und Besitzstandswahrung und nicht etwa zu Zukunftssicherung und Generationengerechtigkeit", kritisierte der Karlsruher Gerichtspräsident.
Die Auflösung des"Bündnisses für Arbeit" und der Auftritt der Rürup-Kommission hätten gezeigt, daß sich dieser neue Politikstil selbst ad absurdum geführt habe."Das Resultat ist vor allem weiterer Zeitverlust." Papier sieht in der Verlagerung von wesentlichen Teilen der staatlichen Politik in eine Kooperation mit gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verbänden sogar ein"Gefährdungspotential für die parlamentarische Demokratie", das die Ã-ffentlichkeit lange Zeit wenig beachtet habe. Denn durch die"Selbstentmachtung des Parlaments" verliere das Staatsvolk seine Vertretung; der Wahlakt werde entwertet."Es ist deshalb höchste Zeit, daß die Politik wieder in ihre verfassungsmäßigen Bahnen zurückfindet."
Gerade bei den drängendsten aktuellen Fragen - etwa der Zukunft der sozialen Sicherungssysteme - bräuchten Regierung und Bundestag in Wirklichkeit kaum noch externen Sachverstand. Vermutlich lagere ohnehin ein Großteil der von den verschiedenen Kommissionen präsentierten Reformvorschläge längst in den Schreibtischen der Ministerien, vermutet Papier. Vielmehr erwarteten die Politiker von den Gremien Entscheidungen und deren Durchsetzung."Damit aber gewinnt ein sehr selektiv bestimmter Kreis von Interessenten einen überproportionalen und in seiner Legitimität fragwürdigen Einfluß auf politische Weichenstellungen von gesamtgesellschaftlicher Bedeutung", warnte der Verfassungsrechtler.
Ausgewählte Verhandlungspartner, die der demokratischen Legitimation und Verantwortung nach dem Grundgesetz entzogen seien, würden zu paritätisch Beteiligten an der Entscheidungsfindung gemacht. Der eigentlich dazu berufene Bundestag könne dagegen auf deren Vorlagen und Konsensvereinbarungen häufig nur noch mit Ja antworten. So würden aber vor allem diejenigen Interessengruppen belohnt, die ohnehin schon mächtig seien. Die Interessen der Allgemeinheit dürften nicht Gruppen oder Verbänden überlassen werden.
Der oberste Verfassungsrichter forderte deshalb, die"Flucht in das Kommissions- und Kooperationswesen" zu stoppen. Der Staat müsse sich verstärkt denjenigen Belangen des Gemeinwohls zuwenden, die über keine entsprechend durchsetzungsfähige Lobby verfügten - etwa in der Familienpolitik. Eine weitere Liberalisierung und Deregulierung müsse deshalb den Staat von korporativen Strukturen entlasten, um nicht die Unterscheidung zwischen ihm und der Gesellschaft zu verwischen. Dies könne allerdings wohl nur gelingen, sagte Papier, wenn dessen eigene Blockaden"im Binnenbereich" behoben würden.
Als Gründe dafür sieht Papier, daß der Bund gegenüber den Ländern nahezu alle möglichen Zuständigkeiten zentralisiert und an sich gezogen habe, ebenso die Europäische Union (EU) gegenüber ihren Mitgliedstaaten. Der Bundesrat habe sich zudem zu einer"Ersatz-Opposition" gewandelt - mit der"Gefahr einer Obstruktions- oder Blockadepolitik". Als Abhilfe riet er dazu, einzelne Aufgaben des Bundes wieder auf die Länder und solche der EU auf die Mitgliedstaaten zurückzuübertragen. In beiden Zusammenhängen seien"klare und eindeutige Kompetenzabgrenzungen" erforderlich. Auch denkt der Präsident an eine Verlängerung der Wahlperiode des Bundestags und an Schritte weg vom Verhältniswahlrecht hin zu einer stärkeren Persönlichkeitswahl.
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.04.2003, Nr. 89 / Seite 13
Hans-Jürgen Papier Vita

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