- Argentinien-Krise tatsächlich vorbei?? Sonntag Wahlen - kizkalesi, 26.04.2003, 09:55
- Wahlen - kälter als in Sibirien - RetterderMatrix, 26.04.2003, 12:02
- vorbei ist noch lange nichts - nasdaq, 26.04.2003, 12:21
Wahlen - kälter als in Sibirien
-->"Wahlen - kälter als in Sibirien"
Caroline Mayer 26.04.2003
Am Sonntag wird in Argentinien ein neuer Präsident gewählt, die
Bevölkerung lässt das ziemlich kalt
Die argentinischen Präsidentschaftswahlen am 27. April - die ersten
seit dem vom Volk erzwungenen Regierungswechsel vor eineinhalb Jahren -
werden vom Ausland mit Spannung erwartet. Im krisengebeutelten
Argentinien selbst ist man eher gelangweilt. Welcher Kandidat am Ende
gewinnt, ist den meisten egal. Denn ändern, so sagen die Argentinier,
werde sich ohnehin nichts. Von dieser Gleichgültigkeit könnte ein
politisch Totgesagter profitieren: Der eigentlich unbeliebte
Ex-Präsident Carlos Menem steht in den letzten Meinungsumfragen an
erster Stelle.
"Wie Phönix aus der Asche" werde er bei den Wahlen von 2003
auferstehen, prophezeite im Jahr 1999 der scheidende argentinische
Präsident Carlos Menem. Zehn Jahre lang, von 1989 bis 1999, hatte der
Peronist das Land regiert und gerne hätte er seine Herrschaft über den
Pampa-Staat noch länger ausgedehnt. Doch zu den Wahlen 1999 durfte der
machtbewusste Politiker nicht mehr antreten. Schon für seine Wiederwahl
nach der ersten Amtszeit im Jahr 1995 war eine Verfassungsänderung
nötig gewesen. Eine dritte Kandidatur in Folge blieb Menem versagt. Nur
widerwillig überließ der Präsident seinem Partei-Rivalen Eduardo
Duhalde das Feld. Der verlor gegen den Kandidaten aus dem Lager der
"Radikalen Bürger-Union", Fernando de la Rúa.
Während sich Duhalde noch ärgerte, formulierte Menem, damals schon 69
Jahre alt, seinen Wahlslogan für das kommende Jahrtausend:"Menem 2003.
Man pflege ihn, denn das Land braucht ihn." In einem parteiinternen
Machtkampf wurde der Ex-Präsident in den folgenden Jahren allerdings
erst einmal in die zweite Reihe gedrängt und 2001 wanderte er sogar für
sechs Monate in Untersuchungshaft. Wegen angeblicher Waffengeschäfte,
Geldwäsche und Korruption während seiner Amtszeit. Der politische Tod,
wie es schien. So fragte auch niemand nach Menem als kurz vor
Weihnachten 2001 die Präsidentschaft de la Rúas vorzeitig und abrupt
endete - mit einer spektakulären Hubschrauberflucht aus dem
Regierungspalast, vor dem eine aufgebrachte Menge tobte.
Alle zittern vor Menem, der allerdings kaum Positives vorzuweisen hat
Als in den folgenden Tagen die Interimspräsidenten schneller wechselten
als die Agenturen melden konnten, war Menem nie im Gespräch.
Stattdessen kam sein erklärter Widersacher Eduardo Duhalde verspätet
doch noch an die Macht. Allerdings nicht durch eine demokratische Wahl
legitimiert, sondern vom Kongress mit der Mehrheit der peronistischen
Abgeordneten ernannt.
Am kommenden Sonntag, dem 27.April, wird in Argentinien ein neuer
Präsident gewählt. Die Wahlen 2003 sind also gekommen und plötzlich ist
Menem wieder da. Die Meinungsumfragen sehen ihn an der Spitze, knapp
vor dem Wunschkandidaten der jetzigen Regierung, Néstor Kirchner, der
wie Menem und Duhalde der peronistischen Partei des"Justicialismo" -
der"sozialen Gerechtigkeit" - angehört. Eine interne Vorwahl innerhalb
der peronistischen Partei und damit die Festlegung auf einen einzigen
gemeinsamen Kandidaten hatte Duhalde in den vergangenen Monaten
verhindert - aus Angst, Menem könne gewinnen.
Alle zittern vor Menem. Dabei hat kaum ein argentinischer Politiker
eine so schlechte Presse wie der Ex-Präsident. 1989 war er mit einem
klassisch"linken" Wahlprogramm und dem Versprechen angetreten, die
Löhne zu erhöhen; doch schon bald nach der gewonnen Wahl schwenkte er
auf einen harten neoliberalen Kurs um und begnadigte nach kurzer Zeit
die verurteilten Menschenrechtsverbrecher der Militärdiktatur. In
seiner ersten Amtszeit führte er die Dollar-Peso-Parität ein - eine
Maßnahme, die zwar die Inflation über Nacht stoppte, die aber auch den
Grundstein für die heutige Finanzkrise des Landes legte.
In den zehn Jahren seiner Präsidentschaft stieg die Arbeitslosigkeit
durch eine erbarmungslose Rationalisierungspolitik und durch die
Privatisierung von Staatsbetrieben von sieben auf 17 Prozent. Der
Durchschnittslohn ging um drei Prozent zurück, die Steuerpolitik der
Regierung begünstigte einseitig die hohen Einkommen und die Schere
zwischen arm und reich klaffte immer weiter auseinander. Zudem wurden
dem Präsidenten etliche Korruptionsskandale nachgesagt. Hätte Menem
1999 noch einmal antreten dürfen, wäre er wohl kaum wiedergewählt
worden. Die vorhersehbare Niederlage seines Parteigenossen Duhalde galt
unter Meinungsforschern eindeutig als Menem-Niederlage.
Als Menem später unter dem Vorwurf verhaftet wurde, Kopf einer
Waffenschieber-Bande zu sein, die illegal Waffen an Kroatien und
Ecuador geliefert habe, stand niemand auf, um den Ex-Präsidenten zu
verteidigen. Auch die Anschuldigung, Menem habe aus dem Iran 10
Millionen Dollar erhalten, um die Verantwortung des Iran für einen
Terroranschlag in Buenos Aires öffentlich zu verneinen, wurde von der
Mehrheit der Argentinier sofort geglaubt. Bei dem Sprengstoff-Attentat
gegen das jüdische Kulturzentrum AMIA waren 1994 86 Menschen ums Leben
gekommen, mehrere hundert waren verletzt worden.
Menem wird so ziemlich jede kriminelle Handlung zugetraut und trotzdem
bekommt der inzwischen 72-Jährige in den Meinungsumfragen zur Zeit die
höchste Zustimmung. Allerdings darf dabei nicht übersehen werden, dass
sein Umfragewert nicht einmal 20 Prozent erreicht. Das liegt an der
diesmal starken Fragmentierung des Wahlkampfes. Mindestens sieben
Kandidaten werden am Sonntag antreten, doch aller Voraussicht nach wird
keiner die erforderliche Mehrheit für eine Direktwahl im ersten
Wahlgang bekommen. Eine Stichwahl am 18. Mai erscheint im Moment sehr
wahrscheinlich.
Die große Auswahl an Präsidentschaftskandidaten trügt
Allein die peronistische Partei stellt insgesamt drei
Präsidentschaftskandidaten. Regierungschef Duhalde selbst kandidiert
nicht - ein Verzicht, den er bei seinem Amtsantritt vor eineinhalb
Jahren der argentinischen Bevölkerung zugesagt hatte. Dafür schickt er
als seinen Wunschkandidaten Néstor Kirchner ins Rennen. Der stellte
seine Verbundenheit zur Duhalde-Regierung vor wenigen Tagen unter
Beweis, als er ankündigte, nach einem Wahlsieg weiter mit dem
amtierenden Wirtschaftsminister Lavagna zusammenarbeiten zu wollen.
Neben Menem tritt als dritter peronistischer Kandidat Rodriguez Saá an,
der in den turbulenten Wochen nach dem Sturz de la Rúas schon einmal
für fünf Tage Interimspräsident war.
Zugunsten Menems, wie es heißt, hat der eigentlich aussichtsreichste
Kandidat der Peronisten, Carlos Reutemann, auf eine Kandidatur
verzichtet. Der ehemalige Formel-Eins-Vizeweltmeister gilt als seriös
und - fast unvorstellbar in der argentinischen Politik - als nicht
korrupt. Doch trotz vielversprechender Umfragewerte zieht es Reutemann,
der einst von Menem in die Politik geholt wurde, vor, Gouverneur in der
Provinz Santa Fé zu bleiben und auf seiner Rinderfarm Soja-Bohnen
anzubauen.
Die neben den Peronisten traditionell zweite große Partei Argentiniens,
die"Radikale Bürger-Union" hat sich noch nicht von den Folgen des
Rücktritts ihres letzten Präsidenten de la Rúa erholt. Ihre Kandidaten
spielen in den Umfrageergebnissen nur eine untergeordnete Rolle.
Gewisse Chancen, bei der peronistischen Wahlveranstaltung ein wenig
mitspielen zu dürfen, werden nur Ricardo López Murphy vom Bündnis
RECREAR und Elisa Carrió von der im März gegründeten Protestpartei ARI
eingeräumt. Beide liegen in etwa drei Prozentpunkte hinter den
führenden Menem und Kirchner.
Argentiniens Wähler scheinen bei diesen Wahlen auf den ersten Blick
eine große Auswahl an politischen Programmen zu haben. Doch viele
Optionen gibt es tatsächlich nicht. Das Land steckt immer noch tief in
der Krise. Auch wenn Argentinien nicht mehr in den Schlagzeilen der
ausländischen Presse auftaucht, hat sich die Situation seit dem
Präsidentensturz und der darauffolgenden Peso-Abwertung praktisch nicht
verändert. Die Arbeitslosigkeit liegt nach wie vor bei 25 Prozent, über
die Hälfte der Argentinier lebt immer noch unter der Armutsgrenze. In
den Provinzen hungern die Kinder ( Verhungert in der Kornkammer [1]).
Akademiker wandern aus, da sie in ihrem Heimatland keine Zukunft sehen.
Die befürchtete Hyper-Inflation ist immerhin ausgeblieben. Doch das ist
auch schon die einzige positive Meldung.
Die Wut ist der Depression gewichen
Die Argentinier haben ihre Politiker gründlich satt. Journalisten
prognostizieren die"kältesten Wahlen" seit der Rückkehr zur Demokratie
im Jahr 1983. Keine Begeisterung für den einen oder den anderen
Kandidaten ist zu spüren. Etwa die Hälfte der Bevölkerung, so die
Meinungsforscher, verspricht sich überhaupt nichts von den
bevorstehenden Wahlen. Deswegen glauben die meisten Argentinier, dass
auch diesmal - wie bei den letzten Parlaments- und Senatswahlen im
Oktober 2001 - die Protestwähler die größte Fraktion ausmachen werden.
Damals waren trotz Wahlpflicht über zwanzig Prozent der Wähler nicht an
die Urnen gegangen. Weitere zwanzig Prozent hatten ihre Stimmzettel
ungültig gemacht - indem sie Karikaturen malten, Aufkleber aufklebten
oder Phantomkandidaten wählten: nur wenige Wochen nach den Anschlägen
vom 11. September trugen zahlreiche ungültige Stimmzettel den Namen
Osama bin Laden.
Doch die Meinungsforscher sagen für Sonntag überraschenderweise eher
eine Abnahme der ungültigen Stimmzettel voraus, die in Argentinien
"Voto bronca" -"Wut-Votum" - heißen. Denn die Wut, die Ende 2001 in
jeder Ecke des Landes zu spüren war, ist inzwischen einer großen
Depression gewichen. Die geforderte Erneuerung der politischen Klasse
ist seit dem erzwungenen Machtwechsel im Dezember 2001 ausgeblieben.
Daran sind die damals neu entstandenen sozialen Bewegungen aber auch zu
einem guten Teil selbst schuld.
"Que se vayan todos" -"alle müssen weg!" war ihr Schlachtruf gewesen.
Doch eine tragfähige Alternative zum bestehenden politischen System
konnte man aus diesem Motto allein nicht ableiten. Dabei waren die
Anfänge vielversprechend: nach den Großdemonstrationen, bei denen
Mittelschichtsfrauen kochtopfschlagend gegen die Finanzpolitik der
Regierung zu Felde gezogen waren, hatten sich in allen Vierteln von
Buenos Aires politische Stadtteilvereinigungen gebildet. Junge, Alte,
Akademiker und Arbeiter, die zufällig in derselben Gegend wohnten
trafen sich regelmäßig, um über Auswege aus der Krise zu diskutieren.
Doch das Misstrauen gegenüber der institutionellen Politik blieb so
groß, dass es zu keinem Austausch zwischen den neuen Vereinen und den
bestehenden Parteien kam.
Die Chance, rechtzeitig eine Alternative aufzubauen, ist vertan. Nun
müssen die Argentinier wieder mit Kanditaten vorliebnehmen, denen kaum
einer die Kraft zu Veränderungen zutraut. Und wenn sie nicht aufpassen,
bekommen sie am Ende vielleicht den Präsidenten, den sie am
allerletzten wiederhaben wollten.
Links
[1] http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/co/13752/1.html
Telepolis Artikel-URL:
http://www.telepolis.de/deutsch/inhalt/co/14676/1.html

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