- Die Parabel der Zwillinge - chiron, 20.05.2003, 13:28
- ...ihre kühnsten Alpträume vermutlich. (owT) - JN++, 20.05.2003, 13:41
- Genauer betrachtet, könnte es auch so gewesen sein: - Pega53, 20.05.2003, 17:30
- Re: Genauer betrachtet.../ Klasse, auch an chiron! Könner am Werk! (owT) - -- Elli --, 20.05.2003, 17:47
Die Parabel der Zwillinge
-->Die Parabel der Zwillinge
Es geschah, dass in einem Schloss Zwillingsbrüder empfangen wurden. Die Wochen vergingen, und die Knaben wuchsen heran. In dem Mass, indem ihr Bewusstsein wuchs, stieg ihre Freude: “Sag, ist es nicht grossartig, dass wir empfangen wurden? Ist es nicht wunder bar, dass wir leben?“ Die Zwillinge begannen, ihre Welt zu entdecken, als sie aber die Schnur fanden, die sie mit ihrer Mutter verband und die ihnen die Nahrung gab, da sangen sie vor Freude. „Wie gross ist die Liebe unserer Mutter, dass sie ihr eigenes Leben mit uns teilt!“
Als aber die Wochen vergingen und schliesslich zu Monaten wurden, merkten sie plötzlich, wie sehr sie sich verändert hatten. „Was soll das heissen?“, fragte der eine. „Das heisst“, antwortete ihm der andere: “dass unser Aufenthalt in dieser Welt bald seinem Ende zugeht.“ „Aber ich will gar nicht gehen“, erwiderte der eine, „ich möchte für immer hier bleiben.“ „Wir haben keine andere Wahl“, entgegnet der andere, „aber vielleicht gibt es ein Leben nach der Geburt!“ „Wir könnte dies sein?“ fragte zweifelnd der erste, „wir werden unsere Lebensschnur verlieren, und wie sollten wir ohne sie leben können? Und ausserdem haben andere vor uns diesen Schoss verlassen, und niemand von ihnen ist zurückgekommen und hat uns gesagt, dass es ein Leben nach der Geburt gibt. Nein, dies ist das Ende!“
So viel der eine von ihnen in tiefen Kummer und sagte: “Wenn die Empfängnis mit der Geburt endet, welchen Sinn hat den das Leben im Schloss? Es ist sinnlos. Womöglich gibt es gar keine Mutter hinter allem.“ „Aber sie muss doch existieren.“ protestierte der andere, „wie sollen wir sonst hierhergekommen sein? Und wie können wir am Leben bleiben?“
„Hast du je unsere Mutter gesehen?“ fragte der eine. „Womöglich lebt sie nur in unserer Vorstellung. Wie haben sie uns erdacht, weil wir dadurch unser Leben besser verstehen können.“
Und so waren die letzten Tage im Schosse der Mutter gefüllt mit vielen Fragen und Angst. Schliesslich kam der Moment der Geburt. Als die Zwillinge ihr Welt verlassen hatten, öffneten sie ihre Augen. Sie schrien. Was sie sahen, übertraf ihre kühnsten Träume.
Von August Janisch

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