- Die einen haben Angst vor Deflation - Japan lebt seit langem damit - kizkalesi, 24.05.2003, 09:35
- Kleine Bestandsaufnahme. - marsch, 24.05.2003, 10:36
- Haus der wogenden Kiefern?! - le chat, 24.05.2003, 12:44
- Ups, damit habe ich nicht gerechnet. Hier kann jemand japanisch... - marsch, 24.05.2003, 13:22
- Haus der wogenden Kiefern?! - le chat, 24.05.2003, 12:44
- Leben mit der Deflation (hier der ganze Artikel) - Sascha, 24.05.2003, 16:13
- Kleine Bestandsaufnahme. - marsch, 24.05.2003, 10:36
Leben mit der Deflation (hier der ganze Artikel)
--><font size=5>Leben mit der Deflation </font>
Deutschland droht die Deflation, Japan lebt damit. In Tokio ist der Ernst der Lage an der Zahl der Parkplätze abzulesen
von Bernd Weiler
Das Grundstück ist ein Juwel. Es liegt mitten im quirligen Amüsierviertel Shinjuku, keine 500 Meter von einem der belebtesten Bahnhöfe Tokios entfernt. Die Schwaden einer Yakitori-Kneipe, der Duft von Holzkohle und Hühnchenfett, hängen über den Köpfen der Passanten. Mit Megaphonen werden lautstark die neuesten Handys angeboten. <font color="#FF0000">Wer hier Boden besitzt, hat eigentlich ausgesorgt</font>."Potenzielle Laufkundschaft, einige Zehntausend, vielleicht Hunderttausend am Tag", meint Immobilienmakler Kenichi Kirihata. Doch das gut hundert Quadratmeter große Grundstück bringt keinen guten Umsatz: höchstens sechs mal 200 Yen alle fünfzehn Minuten, insgesamt 4800 Yen (36 Euro) pro Stunde. Die Prachtimmobilie ist ein Parkplatz mit sechs Stellplätzen.
Der Makler Kirihata kennt den Besitzer - und seine Nöte. Er ist ein Opfer der Deflation. Die tobt streng genommen, gemessen an den Verbraucherpreisen, zwar erst seit vier Jahren in Japan. Doch Immobilienbesitzer kennen das Phänomen schon viel länger. <font color="#FF0000">Die Grundstückspreise sind im steten Fall. Nicht nur Japaner können sich gut daran erinnern, dass vor rund 14 Jahren, im Zenit der Spekulationsblase, das Areal des Tokioter Kaiserpalastes theoretisch mehr wert war als alle Immobilien Kaliforniens</font>. Zermürbt von Preisverfall und Wirtschaftsflaute will der Besitzer des kleinen Grundstücks in Shinjuku jetzt weder verkaufen, noch investieren. Mit seinem Parkplatz wartet er auf bessere Zeiten - irgendwann. Und er ist nicht der einzige.
Die Parkplatzschwemme ist überall, auch jenseits der großen Verkehrsadern. Koyama Saburo lebt mit seiner Frau Chizuko in einer relativ ruhigen Gegend der Hauptstadt, in Ota-ku. Das Grundstück, auf dem sein abbezahltes Eigenheim steht, hat 150 Tsubo (495 Quadratmeter), die Hälfte war einmal ein schöner Garten. Die Kinder sind verheiratet, die Pension kommt regelmäßig, trotzdem schaut Saburo wieder mehr aufs Geld. <font color="#FF0000">Seine Altersrücklagen sind kleiner geworden. Den Wert seiner wenigen Aktien hat die Börsenbaisse fast zunichte gemacht, seine Yen-Anleihen bringen inzwischen weit weniger als ein Prozent Rendite</font>.
Der rüstige Saburo entschloss sich, Kleinunternehmer zu werden. Sein Garten sollte einem kleinen Appartement-Gebäude weichen, drei Stockwerke, neun kleine Wohnungen. Alles war durchgerechnet, mindestens das Vierfache der Rendite seiner Anleihen sollte herausspringen. Doch die Bank verweigerte die Kredite."Dabei lebe ich hier schon seit ich Kind bin, hatte immer die gleiche Bank, bin nie etwas schuldig geblieben." Saburo ist in die Kreditklemme der angeschlagenen Banken geraten. Ein Kleinkredit an einen 65 Jahre alten Privatmann, einen Pensionär, für eine Immobilien-Investition in Tokio? Das war selbst einer der größten Banken der Welt zu riskant. Der Rentner resignierte, ließ Teer auf seinen Garten werfen, installierte Münzautomaten und blickt jetzt von seiner Wohnung auf einen Parkplatz. Ein Gutes habe die Sache doch, meint Saburo."Für den Garten musste ich noch Vermögenssteuer zahlen, für den kommerziellen Parkplatz nicht."
<font color="#FF0000">Nirgendwo ist der Vermögensverfall in Japan klarer erkennbar als bei den Immobilien. Die gewerblichen haben in den japanischen Großstädten etwa 70 Prozent in zehn Jahren verloren</font>. Eine leichte Gegenbewegung setzt schon ein, große Entwicklungsgesellschaften kaufen billig Grund, planen ganze Stadtviertel neu. Edle ausländische Hotelketten finden Tokio plötzlich wieder erschwinglich: Gerade erst neu im Markt sind das Four Seasons und das Grand Hyatt Tokyo; bis 2006 wollen St. Regis, Mandarin Oriental und das Peninsula ihre Nobelherbergen fertig haben. Angesichts der neuen Konkurrenz dürften die traditionellen Luxusherbergen Okura, New Otani oder Dai-ichi <font color="#FF0000">ihre Preise kaum halten können - Deflation auch in der Luxusklasse des Hotelgewerbes</font>.
Unübersehbar ist der Preisverfall ins Stadtbild gerückt: Werbung für Sonderangebote, für Produkte des täglichen Bedarfs: Reis, Algen, Fisch, Toilettenpapier oder Kakerlakenfallen. Noch vor fünf Jahren gab es wenige Lockangebote am Eingang der Supermärkte, nicht aber Regalreihen mit heruntergesetzten Waren. Japanische Konsumenten feilschten nicht, kauften nach Marken oder Qualität, der Preis war zweitrangig - und ohnehin in den meisten Läden gleich. Eine Dose Coca-Cola kostete fast überall 110 Yen, an der Autobahnraststätte, am Automaten oder im Laden um die Ecke. Dieser Konformismus ist gebrochen, <font color="#FF0000">die Kunden sind preissensibler</font>.
Doch sind die Haushaltskosten einer vierköpfigen Familie keineswegs dramatisch gefallen: Der nationale Verbraucherpreis-Index gab im Jahr 2000 um 0,4 und im Jahr darauf 0,8 Prozent nach. 2002 folgte ein Rekord: minus 0,9 Prozent. Das ist noch kein Preissturz."Wenn ich suche, auf Saison und Sonderangebote achte, kann ich enorm viel sparen", sagt allerdings Mayuri Nakata. Die Mutter von zwei kleinen Töchtern schiebt einen voll beladenen Einkaufswagen durch einen 100-Yen-Shop, der sich im Keller des Tokyo Office Center (TOC) auf Lebensmittel spezialisiert hat. Ein Liter Milch für 100 Yen, das ist etwas Besonderes, wenn man bedenkt, dass der"Standardpreis" in den meisten anderen Läden über 200 Yen (1,48 Euro) liegt. Drei Äpfel für 100 Yen, statt einen für 198 -"das lohnt sich", sagt Nakata. <font color="#FF0000">Sie will die Haushaltskasse schonen, sie macht sich Sorgen</font>.
Nakatas Mann arbeitet in einer Tokioter Bank - <font color="#FF0000">kein sicherer Job mehr in diesen Zeiten, in denen das fünftgrößte Institut des Landes vom Staat mit mehr als zwei Bio. Yen aufgefangen werden muss</font>. Eine von zwei jährlichen Bonuszahlungen - <font color="#FF0000">das 14. Gehalt - ist schon gestrichen</font>. Bei sinkenden Lebenshaltungskosten wäre das kein großes Problem, <font color="#FF0000">wenn da nicht die hohen Kredite für das eigene Haus zwischen Tokio und Kawasaki wären."Wenn mein Mann den Job verliert, erdrücken uns die Schulden", sagt Nakata ängstlich</font>.
<font color="#FF0000">Die Angst regiert Japan, die Angst, dass es nicht besser, eher noch einiges schlechter werden wird</font>. Wenig kaufen, nichts investieren, viel sparen - am besten Bargeld zuhause horten, denn den Banken ist nicht mehr zu trauen, lautet die Devise. Produzenten von Geld-Kassetten und Heim-Tresoren machen gerade ein glänzendes Geschäft. <font color="#FF0000">Die Deflationsspirale dreht sich</font>. Wenn Oma und Opa in der Provinz besucht werden, wird eingekauft, weil dort draußen alles billiger ist - Obst, Gemüse, Kinderkleidung. <font color="#FF0000">Insgeheim kalkulieren viele junge Familien für ihre Lebensplanung schon die Erbschaft ein. Doch das Vermögen der Eltern schmilzt, die Erbschaftssteuer ist immens, die Lebenserwartung der Japaner hoch. Sicherheiten, auf die man einst gesetzt hatte, bieten keinen Halt mehr</font>. Nur wer nichts besitzt und von der Hand in den Mund lebt, hat in der Deflation wenig zu klagen.
Artikel erschienen am 24. Mai 2003
Quelle: http://www.welt.de/data/2003/05/24/100907.html?s=2

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