- Die Menschen zweifeln (aus: Die Zeit) - Sascha, 27.05.2003, 11:22
- Re: Die Menschen zweifeln (aus: Die Zeit) - Jagg, 27.05.2003, 11:40
- Re: Die Menschen zweifeln (aus: Die Zeit) - nasowas, 27.05.2003, 12:34
- Re: Die Menschen zweifeln (aus: Die Zeit) - Jagg, 27.05.2003, 13:01
- Re: Die Menschen zweifeln (aus: Die Zeit) - Euklid, 27.05.2003, 13:32
- Re: Die Menschen zweifeln (aus: Die Zeit) - Jagg, 27.05.2003, 13:01
- Re: Die Menschen zweifeln (aus: Die Zeit) - nasowas, 27.05.2003, 12:34
- Re: Die Menschen zweifeln (aus: Die Zeit) - Jagg, 27.05.2003, 11:40
Die Menschen zweifeln (aus: Die Zeit)
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Früher galt er als linker Sozialdemokrat, heute führt er die konservative Bundesbank. Ernst Welteke über Sparen in der Krise, soziale Reformen und politische Kampfbegriffe
Die Zeit: <font color="#FF0000">Die Wirtschaft schrumpft, die Arbeitslosigkeit wächst, die Staatsverschuldung explodiert</font>. Was muss geschehen, damit die deutsche Wirtschaft wieder wächst?
Ernst Welteke: Die klassischen Instrumente der Vergangenheit taugen nichts mehr. Die Fiskalpolitik stößt an ihre Grenzen - das Budgetdefizit des Staates könnte in diesem Jahr die besorgniserregende Höhe von vier Prozent des Bruttoinlandsprodukts erreichen. <font color="#FF0000">Hier gibt es keinen Spielraum für schuldenfinanzierte Konjunkturprogramme</font>. Und die Geldpolitik ist heute nicht mehr national, sondern europäisch. Außerdem sind die Notenbankzinsen in Deutschland so niedrig wie nie zuvor.
Zeit: Was soll also passieren?
Welteke: Entscheidend ist, dass wir unsere Strukturprobleme lösen. Dazu brauchen wir ein tragfähiges, konsistentes Programm und klare verlässliche Perspektiven. Daran mangelt es. Wir müssen ein anderes Klima schaffen, Verzagtheit und Angst überwinden und durch Vertrauen und Zuversicht ersetzen.
Zeit: Die Agenda 2010 von Bundeskanzler Gerhard Schröder reicht nicht aus?
Welteke: Sie geht in die richtige Richtung. Vieles ähnelt dem von der Bundesbank vorgelegten Papier Wege aus der Krise. Aber die Bevölkerung bezweifelt, dass die Agenda wirklich umgesetzt wird. Deswegen stoßen die Signale bisher ins Leere.
Zeit: Vor allem Gewerkschafter und linke Sozialdemokraten, zu denen Sie sich früher auch gezählt haben, opponieren.
Welteke: Ich bin Bundesbank-Präsident, und das fordert von mir parteipolitische Neutralität.
Zeit: Sind Sie noch Gewerkschaftsmitglied?
Welteke: Ja, bei verdi.
Zeit: Die Gewerkschaft attackiert die Agenda besonders heftig.
Welteke: Wer gegen die Agenda opponiert, <font color="#FF0000">hat noch nicht die Realitäten akzeptiert. Der Staat kann kein Geld ausgeben, um die Wirtschaft anzukurbeln, weil er für Konjunkturprogramme kein Geld hat</font>. Die Unternehmen können keine höheren Löhne und Gehälter zahlen, um die Nachfrage zu steigern, weil sie dann ihrer Wettbewerbsfähigkeit schaden. Die Vermögensteuer, die einen riesigen Verwaltungsaufwand erfordert, steht nicht dem Bundesfinanzminister zu, sondern den Ländern. Im Übrigen könnten für den Bund die Ausgaben noch steigen, wenn die Finanzmärkte reagieren und die Zinsen anheben würden. <font color="#FF0000">Auch die Probleme der alternden Gesellschaft mit den steigenden Belastungen der Sozialkassen gehören zu den Realitäten, mit denen sich die Kritiker der Reformmaßnahmen auseinander setzen müssen</font>. Und wenn man über Gerechtigkeit redet - die größte Ungerechtigkeit ist doch, dass in Deutschland immer mehr Menschen arbeitslos sind.
Zeit: SPD-Linke und Gewerkschafter glauben nicht, dass neue Arbeitsplätze entstehen, wenn die Unterstützung für Arbeitslose gekürzt wird.
Welteke: Am Arbeitsmarkt ist das ganze Segment der weniger gut Ausgebildeten und weniger gut Bezahlten verschwunden. Wenn wir für diese Gruppen eine vernünftige Lösung finden, schaffen wir auch mehr Wachstum. Es kann nicht sein, dass es sich für einen Arbeitslosen nicht lohnt, wieder eine Arbeit aufzunehmen, weil er dann netto weniger hat als vorher mit Sozialleistungen und gelegentlicher Schwarzarbeit. Für gering qualifizierte Arbeitnehmer bedarf es eines eigenen Lohnsegments durch ein System von Anreizen und Sanktionen. Es fehlt der Grundkonsens, dass der Einzelne der Gesellschaft etwas schuldig ist. Anders als vor 20 oder 30 Jahren wird der Missbrauch von sozialen Leistungen von der Gesellschaft nicht mehr sanktioniert.
Zeit: Die Proteste richten sich vor allem auch dagegen, den Kündigungsschutz zu lockern.
Welteke: Ich bezweifle, dass es die wirklich Betroffenen sind, die sich zu Wort melden. Wenn Sie mit Beschäftigten kleiner Unternehmen reden, sagen die dasselbe wie die Eigentümer. Ein kleines Unternehmen, das sich nicht an schwankende Auftragslagen anpassen kann, bekommt große Probleme durch den Kündigungsschutz. Dann geraten alle Arbeitsplätze in Gefahr.
Zeit: Trifft Sie der Vorwurf, dass die Bundesbank eine neoliberale Politik fordert?
Welteke: Ich kann mit solchen politischen Kampfbegriffen nichts anfangen. Die Bundesbank tritt dafür ein, die Privatinitiative zu stärken, indem sich der Staat aus dem Wirtschaftsleben zurückzieht. <font color="#FF0000">Das ist eine Strategie, die auf weniger Einfluss des Staates zielt, nicht auf mehr Staatsausgaben</font>.
Zeit: Strukturreformen brauchen Zeit, bis sie wirken - zwei, drei, vier Jahre und mehr. Andere Länder haben ihre Rezession überwunden, indem sie zunächst kräftige Defizite im Staatsbudget zugelassen haben. Sie sind dann aus ihren Defiziten herausgewachsen.
Welteke: Das sehe ich anders: Weil sie das öffentliche Defizit reduziert haben, ist ihre Wirtschaft so kräftig gewachsen. Wir haben doch trotz steigenden öffentlichen Defizits niedrige Wachstumsraten.
Zeit: Bundesfinanzminister Hans Eichel hat angekündigt, den Sparkurs zu verschärfen.
Welteke: <font color="#FF0000">Reden Sie nicht von Sparen, das ist eine Begriffsverwirrung</font>. Unter Sparen verstehe ich, etwas für schlechtere Zeiten zurückzulegen. Man kann doch Hans Eichel nicht vorwerfen, er würde die Konjunktur kaputtsparen. <font color="#FF0000">Die Finanzpolitik ist derzeit expansiv. Der Finanzminister spart doch überhaupt nicht, er macht mehr Schulden. Er versucht nur, den Anstieg der Schulden zu reduzieren</font>. Innerhalb von zehn Jahren, von 1990 bis 2000, haben sich die Staatsschulden mehr als verdoppelt. Es ist falsch, dass die Fiskalpolitik die Konjunktur abwürgt.
Zeit: An den öffentlichen Investitionen sehen Sie, wie gespart wird. Diese Quote ist so niedrig wie in keinem anderen Industrieland.
Welteke: <font color="#FF0000">Weil wir über unsere Verhältnisse leben.</font>
Zeit: Sollte Eichel die Ausgaben des Bundes in diesem Jahr so weit verringern, dass er nicht mehr Schulden aufnimmt, als er für Investitionen ausgibt - so wie es die Verfassung vorschreibt?
Welteke: <font color="#FF0000">Das wäre außerordentlich wünschenswert. Ich sehe nicht ein, dass konsumtive Ausgaben auch noch durch Kredite finanziert werden. Wieso soll der Konsum der jetzigen Generation von meinen Enkeln finanziert werden?</font>
Zeit: Die Dreiprozentgrenze, die der europäische Stabilitätspakt vorgibt, wird in diesem Jahr zum zweiten Mal nicht eingehalten. Ist der Pakt damit nicht obsolet?
Welteke: Nein. Ich sehe aber das Risiko, dass der Pakt schleichend ausgehöhlt wird.
Zeit: Die Wirtschaftsaussichten werden durch den Anstieg des Euro-Kurses nicht besser. Bereitet Ihnen der Kurs Sorgen?
Welteke: Nicht der Kurs an sich, eher die Geschwindigkeit des Anstiegs. Aber drei Viertel der deutschen Exporte werden in Euro fakturiert, und ein großer Teil der anderen Ausfuhren haben die Unternehmen gegen Wechselkursschwankungen abgesichert. Man sollte die Auswirkungen des Kurses auf die Konjunktur nicht überschätzen. Die deutschen Exporte sind stärker vom Wachstum der Abnehmerländer als vom Wechselkurs abhängig.
Zeit: Ein Vorziehen der letzten Stufe der Steuerreform könnte es beschleunigen, die Wirtschaft in Gang zu bringen.
Welteke: Forderungen nach zusätzlichen Steuersenkungen kann ich überhaupt nicht folgen, weil der Staat eben viel zu hoch verschuldet ist und die Konsolidierung erst einmal erreicht sein muss. Außerdem liegt die Steuerquote - im Unterschied zur Abgabenquote, die die Sozialbeiträge einschließt - im internationalen Vergleich nicht an der Spitze und national im historischen Vergleich sogar recht niedrig.
Zeit: Was heißt das für die Steuerreformstufen 2004 und 2005?
Welteke: Jetzt muss es bei der beschlossenen Abfolge bleiben. Wankelmut und Unentschlossenheit wären das Schlimmste, was die Regierung machen kann. Nur Kontinuität und entschlossenes Handeln können Vertrauen stärken.
Zeit: Diskussionen über Leistungskürzungen, aber auch Abgaben- oder Steuererhöhungen verunsichern Bürger und Unternehmen.
Welteke: Diejenigen, die jetzt eine Anhebung der Mehrwertsteuer vorschlagen, trauen sich nicht an die Besitzstände heran. Die Subventionen und Steuervergünstigungen müssen gekürzt werden, das geht gar nicht anders. <font color="#FF0000">Ich will nicht völlig ausschließen, dass am Ende die Mehrwertsteuer trotzdem noch erhöht werden muss</font>.
Zeit: Eine Erhöhung der Mehrwertsteuer wäre aber katastrophal für die Wirtschaftsentwicklung.
Welteke: Ich teile Ihr Argument. Aber wenn der Subventionsabbau nicht genug bringt, kann es sein, dass man am Ende irgendwann um die Mehrwertsteuererhöhung doch nicht herumkommt.
Zeit: Wird der Kanzler sich am Ende mit der Agenda 2010 durchsetzen?
Welteke: Das Hickhack wird hoffentlich nach dem SPD-Parteitag beendet sein.
Zeit: Wie häufig kann ein Bundeskanzler und Parteivorsitzender mit Rücktritt drohen?
Welteke: Ich habe in meiner Zeit als Politiker nie mit Rücktritt gedroht. Man sollte so agieren, dass alle wissen, was man zu tragen in der Lage und bereit ist. Nach meiner Erfahrung kann die Drohung mit Rücktritt die eigene Position schwächen.
Das Gespräch führten Wilfried Herz und Robert von Heusinger
(c) DIE ZEIT 22.05.2003 Nr.22
Quelle: http://www.zeit.de/2003/22/Welteke-Interview

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