- @nereus, @silvereagle: Ergänzend zur Debatte über"Marxismus" - Galiani, 02.06.2003, 17:14
- Klasse Aufsatz, kannte ich noch nicht. Hab Dank! (owT) - silvereagle, 02.06.2003, 21:57
@nereus, @silvereagle: Ergänzend zur Debatte über"Marxismus"
-->Hallo
Euer beider Komentare zu meinem Posting haben mich an ein Essay erinnert, das Bill Bonner in Daily Reckoning zum Mai-Feiertag schrieb.
Ich gebe den recht amüsanten Text hier (nur ganz leicht verändert) auf deutsch wieder:
[i]Erster Mai, erster Mai
von Bill Bonner
"Das ist der letzte Kampf", sangen Tausende wie mit einer Stimme. Das Jahr war 1969... ich war ein Student und fand
die intellektuelle Flora erregend, die damals in jeder Ecke von Paris blühte. Es war so bedeutungsvoll. So exotisch.
Ich war mit einem Freund zu einer Versammlung von Trotskisten gegangen. Ich hatte nur eine sehr blasse Vorstellung davon, was Trotzkismus eigentlich war. Ich hoffte auf eine Gruppe, die"freie Liebe" praktizierte. Man stelle sich also meine Enttäuschung vor, als ich diese Menge von humorlosen, sich selbst überaus ernst nehmenden Möchtegern-Che-Guevaras sah. Als die Demonstranten schließlich noch ihre rechte Faust zum traditionellen revolutionären Gruß erhoben, wußte ich, daß ich an dieser Bewegung nicht teihaben wollte.
Diese Leute benahmen sich wie Fußballfans, die Marx und Engels gelesen hatten,... Rowdys mit einem übertriebenen Gehirnlappen und grenzenlosem Vertrauen in ihre Fähigkeit, anderen Leute zu zeigen, wo es langgeht und wie diese ihr Leben zu führen hätten.
Sprecher um Sprecher ermahnte den Mob, seinen Kampf fortzusetzen... sich zu opfern; - ähnlich wie die Investmentberater der Banken es heute den Internetinvestoren empfehlen.
Das Ziel dieses Kampfes war natürlich unsinnig. Und jeder von den Millionen von Leuten, die in den letzten 10 Jahrzehnten dieses Ziel verfolgte, hat sich damit auf einen Holzweg begeben: je erfolgreicher man auf diesem Weg war, um so übler wurden die Lebensumstände; sowohl für die dafür Kämpfenden selbst, als auch für alle anderen!
Aber das ist jetzt offensichtlicher, als es damals war. Viele dachten damals noch, daß Kommunismus etwas war, das funktionieren konnte. Die Leute vertrauten damals noch den Prophezeiungen der Hohepriester des Marxismus. Die Manie lebte noch... der Betrug war noch nicht von allen durchschaut. Der Nobelpreisträger Paul Samuelson zeigte in seinem berühmten Lehrbuch Kurven, die"bewiesen", daß das Sozialprodukt in der Sowjetunion doppelt so stark wachse wie in den Vereinigten Staaten. Wer konnte also behaupten, daß das alles Unsinn sei?
Jetzt ist uns das klar geworden. Wir wissen, daß die ganze Sache ein Betrug war; - von allem Anfang an bis zum Ende.
Der"Erste Mai" ist der große Tag des Proletariats.
Früher, als die Menschen immer noch an die Klassentheorie von Marx glaubten, - das war also damals, als es noch ein Proletariat gab, - wurden in allen Teilen der Welt riesige Paraden organisiert. Kommunistische Länder benutzten den 1. Mai als Anlaß zur Heerschau, um ihre Waffen zu zeigen. Im Westen nahm man den Tag zum Anlaß, um die Wählermacht der Hirnlosen zu demonstrieren. Beides wirkte bedrohlich. Sowohl die Macht von Armeen wie auch die Ansprüche der Massen, die politischen Druck erzeugen, bedrohen die Freiheit und das private Eigentum.
Es ist schwierig, sich zu zurückzuerinnern, wie beängstigend diese Drohung seinerzeit war. Aus heutiger Sicht erscheint Kommunismus, ähnlich wie moderne Kunst, geradezu als Verarschung. Wie konnte irgendwer nur solche Versprechungen ernsthaft als realistisch in Erwägung ziehen, fragen wir uns heute.
Aber es war tatsächlich eine toternste Sache. Sozialismus und sein nächster Verwandter, der Nazionalsozialismus, waren für den Tod von ungefähr 100 Millionen Menschen verantwortlich, mehr als die Bevölkerung von Frankreich, England oder Deutschland. Hunderten von Millionen wurde ihr Eigentum und ihre Freiheit gestohlen... und sogar jene, die kein Eigentum hatten und die ihre Freiheit nicht kümmert, erlitten einen schweren Rückgang ihres Lebensstandards. Während der Rest der Welt reich wurde, wurden die sozialistischen Länder immer ärmer; und zwar um so mehr, je nach dem Grad, in dem sie Marxens Ideen in die Praxis umsetzten.
Nazis, Bolsheviken und andere Parasiten haben mehr Schaden angerichtet als jede andere Bewegung in irgendeiner
Periode in der Geschichte.
Der Maifeiertag bringt kein Proletariat mehr auf die Straßen. Heute sind die Menschen am 1. Mai damit beschäftigt, Picknicks zu veranstalten oder die Kursbewegungen ihrer Aktien im Internet zu verfolgen. Nur noch für die Intellektuellen ist der 1. Mai Anlaß zu großen Paraden. Ein neues Buch von Jean-Francois Revel [dem ehemals überzeugten Kommunisten, Berater von Mitterand], mit dem Titel"Die Große Parade", beschreibt diese Parade der Intellektuellen, die sich darum bemühen, das Ideal des Sozialismus' des 20. Jahrhunderts neu zu beleben. Diese modernen marxistischen Apologeten durchstöbern die toten Ideen der Konzentrationslager, die Stacheldraht-bewehrten Mauern und die trostlosen Wohnblöcke und versuchen zwischen diesen Relikten doch noch etwas Positives zu finden, dem man neues Leben einhauchen könnte.
Revel, von dem gesagt wird, er sei in den letzten 25 Jahren ständig besoffen gewesen, ist ein lebender Beweis für die Theorie, daß Trunkenheit scharfsichtig macht. Überall im Westen, schreibt er,"werden wir heute aufgefordert, den 'wahren' Marx wiederzuentdecken." Vergeßt doch das Unheil, das in Marxens Namen geschehen ist, sagen diese Wiedererwecker des Marxismus', die uns - in den Worten von Revel -"drängen, zu einer qualitativ neuen Form des Staates überzugehen und zu einem neuen, humaneren Sozialismus."
"Je weniger Marxismus praktisch ausgeübt wird", schreibt Revel,"um so leiser wird die Kritik daran. Je mehr liberaler Konservatismus, liberale Demokratie und der freie Markt kritisiert werden, um so mehr werden sie praktiziert."
Dies schafft nach der marxistischen Denkweise eine neue Art von Dialektik, die erlaubt, sich die nächste große unvermeidliche Änderung vorzustellen: zu einer neuen sozialistischen Utopie.
Der Nazionalsozialismus, eine Abart des Sozialismus' vermischt mit leicht eingängigem Stammesdenken, war nach dem zweiten Weltkrieg vollkommen diskreditiert. Sehr wenig Intellektuelle sehnen sich offen nach einer neuen Art von"reinem" Nazionalsozialismus - einem Nazionalsozialismus, der unbefleckt ist von Hitlers rohem Versuch, ihn in der Praxis anzuwenden.
Der Nazionalsozialismus ist tot. Mausetot. Weil Intellektuelle nicht damit umgehen können, ohne gleichzeitig auch Verantwortung für Hitlers Verbrechen mitzuübernehmen. Selbst eine ganz harmlose Bemerkung hinsichtlich der Hitler'schen Beschäftigungspolitik reichte vor einigen Jahren aus, Jörg Haider als Nazi-Sympathisanten zu brandmarken. Nazionalsozialismus, als Idee, kann nicht von jenen getrennt werden, die in seinem Namen handelten.
Aber Marxistische Intellektuelle und sozialistische Politiker, mußten nie die Verantwortung für die Verbrechen übernehmen, die im Namen des Kommunismus' begangen wurden. In der Tat gewinnt unter Marxisten, die Idee von einer"reinen", utopischen Form des Kollektivismus - weit entfernt vom Schwachsinn, der von sozialistischen Regierungen ausgeübt worden ist - Beliebtheit und Ansehen, sagt Revel.
"Sie bestreiten nicht die Unvollkommenheiten des real angewandten Marxismus," schreibt Revel,"aber sie kontern mit der Hoffnung auf eine grenzenlos vervollkommnungsfähige Revolution, die allerdings noch nicht erreicht worden ist,...
Jetzt da sie vom unglücklichen Menetekel der Realität befreit sind, das die ehemalige Sowjetunion jedem eindringlich vor Augen führte, für das sie aber jede Verantwortung ablehnen, fühlen sich die marxistischen Intellektuellen frei, sich wieder für jene Art von Sozialismus einzusetzen, wie er ihrer Ansicht nach ursprünglich eigentlich sowieso gemeint war; - eine Utopie!
Über Utopien aber läßt sich nicht streiten. Eine Utopie ist per Definition unanfechtbar.
Bill Bonner
[/i]
Gruß
G.

gesamter Thread: