- Zivilisation im Test: Das Modelleuropa von Jürgen Habermas (FAZ) - marocki4, 03.06.2003, 16:26
Zivilisation im Test: Das Modelleuropa von Jürgen Habermas (FAZ)
-->Sind wir denn vernünftig?
Zivilisation im Test: Das Modelleuropa von Jürgen Habermas
Eine politische Struktur auf der Suche nach einer Idee: Europa. Einst war die Idee seiner Einheit der Friede - also die Einbettung Deutschlands. Das gelang durch politische Verträge, Reisefreiheit und Handel, insbesondere aber durch den Willen, vor und keinesfalls hinter dem Eisernen Vorhang leben zu wollen. Später, als der innereuropäische Friede für West-, Nord- und Südeuropa kein erstrangiges Problem mehr war, kamen geringe Inflationsraten und immer mehr Administration auf europarechtlicher Grundlage dazu. Es entstand ein Gebilde fast ohne Idee oder"Vision". Die politische Union, von der man sagte, es sei eine, blieb jenseits von EU-Kommission und Ministertreffen ein Thema für Festreden. Fehlte Europa dadurch etwas? Lag nicht in all den ideenlosen Wucherungen der europäischen Verwaltungsevolution, die sich ohne echtes Volk, echte Verfassung, echte Gemeinsamkeit zutrug, auch eine Erleichterung? Endlich konnte man einmal sagen: Was nicht aus Krieg oder Revolution entsteht, das braucht auch keine Idee. Wo keine blutigen Opfer gerechtfertigt werden müssen, sondern nur Steuerlast und Gesetzesdickicht, da ist auch ein"gemeinsamer Wille" zweitrangig.
Jürgen Habermas hat in seinem Plädoyer zu einer Wiedergeburt Europas (F.A.Z. vom 31. Mai) dazu aufgerufen, über einen solchen gemeinsamen Willen der Europäer und ihre"Identität" nachzudenken. Der Krieg, der dazu nötigen soll, ist nicht auf europäischem Boden und nicht zwischen Europäern ausgetragen worden. Er hat Europa aber insofern verändert, als starke Divergenzen der außenpolitischen Interessen innerhalb der EU deutlich geworden sind. An einem empfindlichen Punkt wird deutlich, wie wenig weit her es ist mit jener Überwindung nationalstaatlicher Interessen durch die europäische Idee.
Habermas folgt einer Lehre, die das"Wir-Gefühl" von Bevölkerungen zum Maßstab vernünftiger Politik macht."Einer von uns", sagen die Bürger und empfinden sich als Teile eines Ganzen. Entsprechend sagen sie auch:"Keiner von uns" oder"So wollen wir nicht leben", wenn sie die Grenzen ihrer Einheit von außen beschreiben. Der Feind sei"die eigene Frage als Gestalt", formulierte ganz ähnlich einst Carl Schmitt für eine Welt, in der scharfe ideologische Gegensätze zur Norm gehörten. Weniger poetisch: Man lernt politisch vor allem von dem, was man am heftigsten ablehnt. Inzwischen stehen modernen Staaten instruktive Feindbilder aber nur noch sehr begrenzt zur Verfügung. Was genau sollte sich beispielsweise für Europäer angesichts ihrer gegenwärtigen Lebensprobleme daraus lernen lassen, keinesfalls in einem islamisch geprägten autoritären Staat leben zu wollen? Liberalismus, Faschismus, Kommunismus und der Wohlfahrtsstaat wurden von ein und derselben politischen und ökonomischen Krisenlage hervorgebracht, die unter Titeln wie"Ende des bürgerlichen Zeitalters","Massengesellschaft","Industriegesellschaft" oder"Spätkapitalismus" geführt wurde.
Jetzt klafft der größte Unterschied zwischen Regionen mit liberalen und solchen mit illiberalen Demokratien. Einerseits ist dieser Unterschied zu groß, um für die Frage, was die Europäische Union will, informativ zu sein. Andererseits ist er aber auch zu klein. Auch illiberale Regime treten heute friedliebenden Weltorganisationen bei, auch sie geben sich selbstverständlich eine Verfassung, in der selbstverständlich Menschenrechte vorgesehen sind, und beschränken sich - anders als totalitäre Diktaturen mit expansiver Ideologie - zumeist auf die Drangsalisierung der eigenen Bevölkerung. Die Vokabulare, die Staaten beanspruchen, um sich selbst zu beschreiben, haben sich angeglichen, und wenn man sich in den Peripherien nicht auf die Werte beruft, die wir heute pflegen, so auf solche, an denen uns selber gestern noch gelegen war: Nationenbildung, Entwicklung, Souveränität.
In dieser Lage verspricht sich Habermas viel, ja alles für die EU von einer Entgegensetzung innerhalb der westlichen Welt. Nicht der Feind, sondern der fremd gewordene Freund ist ihm nun die eigene Frage als Gestalt. Europa im Unterschied wozu? Dem heutigen Amerika. Donald Rumsfelds Sottise vom"alten Europa" wird gegen die Neue Welt selbst gekehrt. Habermas spricht sogar von einem"avantgardistischen" Kerneuropa. Womit haben sich die französische und die deutsche Politik dieses Ehrenabzeichen verdient? Durch ihre Bereitschaft, der EU"gewisse Qualitäten" eines staatlichen Gebildes verleihen zu wollen und damit die sich abzeichnende Hegemonie der Vereinigten Staaten auszubalancieren. Die Einstellung der europäischen Bevölkerungen gegen den Irak-Krieg, wie sie sich in den riesigen Demonstrationen am 15. Februar bekundet hat, soll gewissermaßen als legitimatorische Ressource für eine solche Identitätsfindung angezapft werden. Kein geführter, sondern ein abgelehnter Krieg soll es sein, aus dem die politische Idee sich erhebe. Aber auch Habermas weiß, wie leicht der Konsens des Marschierens beim Diskutieren wieder in Dissens zerfällt.
Er selbst kommt hier auf die wichtigste gesellschaftspolitische Unterscheidung seiner Sozialphilosophie zurück. Ihr zufolge gibt es einerseits"funktionale Imperative", denen die Systeme von Wirtschaft, Technologieentwicklung und Verwaltung folgen, andererseits aber die Notwendigkeit einer sozialen Integration, die nur durch politische Ã-ffentlichkeit, also durch Demokratie geleistet werden kann. Das eine ist die empirisch vorfindliche, also jene ideenlose EU der ökonomischen und administrativen"Systemintegration". Das andere ist das sozial integrative, gewissermaßen mitgefühlte Europa, das aus dem gemeinsamen Willen und den historischen Erfahrungen der europäischen Bürgerschaft hervorgehen soll.
Doch abgesehen davon, daß die Konstruktion eines gemeinsamen Willens von der Motivvielfalt und den spezifischen Abgrenzungsbedürfnissen der knapp 400 Millionen europäischer Bürger vermutlich absehen muß: ein gemeinsamer Wille wozu? Kennt Habermas seine europäischen Mitbürger? Und kennen sie einander? Das Modell für das von einem Willen durchströmte Europa ist für Habermas der Nationalstaat, der sich auf die Solidarität seiner Bürger untereinander gründe. Auch die Europäer, leben sie nur der Idee gemäß, müßten zu einer europäischen Bürgerin anderer Nationalität sagen können"Eine von uns". Will man daraus aber mehr als eine spezifische Anteilnahme, wie sie auch Afrikanerinnen entgegenkommen mag, will man daraus die Begründung politischer Einheit durch Solidargefühle ziehen, dann fragt es sich schon, wieviele Finnen oder Bulgaren mitsamt ihrer Lebensweise ein Belgier oder Ire überhaupt kennt. Und wenn seine Solidarität mit ihnen davon unabhängig sein soll, weil sie nur auf der politischen Einbildungskraft beruhe, dann allerdings muß nach dem empirischen Gehalt des Wortes"Europa" gefragt werden.
Habermas bietet mehrere Quellen einer europäischen Mentalität an: das Vertrauen der Europäer in staatliche Einhegungen des Marktgeschehens, ihre relative Skepsis gegenüber dem technischen Fortschritt, ihr Bestehen auf weltanschaulicher, will sagen: religiöser Neutralität politischer Entscheidungen. Daß die Europäer gegenüber der Leistungsfähigkeit des Marktes skeptisch sind, gilt ausgerechnet für die EU-Kommission nicht. Daß sie sich gegenüber dem technischen Fortschritt in Skepsis üben, wird man für viele Franzosen, Belgier und Schweden wohl nicht sagen wollen. Die Säkularisierung ist in Polen, Irland und Spanien wohl kaum stärker fortgeschritten als in Kanada oder Australien. Meint Habermas also stets Deutschland, wenn er von Europa spricht? Und meint er stets die europäischen Eliten, die als Teilnehmer an einer kontinentalen Ã-ffentlichkeit in Betracht kommen? Die eindeutige, konsensfähige Auslegung historischer Erfahrung stellt sich gerade in Europa nicht ein. Den Staat gegenüber dem Markt vorziehen: Das kann sehr verschiedenes heißen in einer Region, die im letzten Jahrhundert von ziemlich viel Staat heimgesucht worden ist. Politik als Medium der Freiheitssicherung - was wohl Ungarn oder Tschechen dazu sagen würden? Und wie stellen sich heutige Italiener zum soziologischen Sinn der Unterscheidung von Politik und Wirtschaft?
Um Europäertum als Mentalität gegen eine anglo-amerikanische abzugrenzen, müßte nicht nur das Bild Großbritanniens um alle europäischen Züge bereinigt werden. Auch die Vereinigten Staaten sind nur bei erheblichem intellktuellem Abstraktionswillen eine"Gestalt", die sich aus religiöser Nichtneutralität der Politik - Beweis: ein öffentlich betender Präsident! -, Neoliberalismus, Hegemonialstreben und Todesstrafe zusammensetzt. Die soziale Gerechtigkeit umstandslos als europäische Idee zu buchen wäre ein Dokument kontinentaler Selbstgerechtigkeit. Denn ob es sozial gerechter ist, jemand in vergleichsweise (!) komfortabel ausgestatteter Langzeitarbeitslosigkeit zu halten oder ihn in einem Niedrigstlohnsektor zum Erwerbsarmen zu machen, steht dahin. Vermutlich richtet sich die Wahl zwischen diesen Möglichkeiten auch gar nicht, wie es normative Politiktheorie gerne hätte, nach Gerechtigkeitserwägungen, sondern nach der Struktur der Industrie- und Dienstleistungswirtschaft der jeweiligen Regionen. Daß Europa mit dem Problem der"Zähmung des Kapitalismus" fertiggeworden ist, klingt in Zeiten eines bis zum Nullwachstum gezähmten Kapitalismus, der die sozialpolitischen Verteilungsspielräume schrumpfen läßt, jedenfalls zweideutig genug.
Die Europäische Union ist kein geeigneter Gegenstand für kulturelle Sinnprojektionen. Sie bietet vielmehr ein gutes Beispiel, welche Wandlungen die moderne Demokratie in den vergangenen Jahrzehnten durchgemacht hat. Der Gegensatz zu Demokratie heißt nicht länger Diktatur, sondern Brüssel. Zahllose Entscheidungen, die teils von den adminstrativen Eliten, teils von lokalen Lobbys erwünscht werden, aber auf nationaler Ebene niemals zustander kämen, werden über europäisches Recht in die Nationalstaaten eingeführt. Vom Euro über die Agrarpolitik und die Gleichstellung von Frauen im öffentlichen Dienst, vom Fischfang über das Kartellrecht bis zur Reform der Sozialsysteme dient Brüssel als Instanz"bestellter Befehle", für die sich national niemand unmittelbar zu verantworten braucht. Und es funktioniert. Zwar nicht für diejenigen, die unter Funktionieren einen enthusiasmusfähigen Zusammenhang von Politik und Glück oder Freiheit verstehen. Diesseits solcher republikanischen Sollwerte aber - Ideengut der Eliten frühneuzeitlicher Stadtstaaten und des grundbesitzenden englischen Adels -, funktioniert die EU gerade als Verwaltungsapparat, der jedwede Erhitzung politischer Themen auskühlt. Sie ist kein Lieferant für große Unterscheidungen.
JÜRGEN KAUBE
Text: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 03.06.2003, Nr. 127 / Seite 33

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