- von Schurkenfirmen und ihren Methoden - Yak, 07.06.2003, 08:55
- Re: Von Moralaposteln und ihren Methoden - JLL, 07.06.2003, 10:37
- Für mich ist wichtig, was heute passiert - Yak, 07.06.2003, 10:52
- vielen Dank, der Artikel ist höchst interessant! Politiker, Uh-Ess-Irr etc.? - Baldur der Ketzer, 07.06.2003, 11:28
- Re: Von Moralaposteln und ihren Methoden - JLL, 07.06.2003, 10:37
von Schurkenfirmen und ihren Methoden
-->Ich habe den Artikel gerade im Usenet gefunden. Ist zwar schon etwas älter, vielleicht aber hier noch unbekannt. Eine hervorragende Beschreibung, wie Pharmafirmen ihren eigenen Umsatz"zum Wohl der Menschheit" ankurbeln.
SPIEGEL vom 26.06.2000
"Viel Spaß mit Heroin"
Das berüchtigtste Rauschgift des 20. Jahrhunderts ist eine Erfindung
von Bayer. Jahrzehntelang verkaufte der Konzern Tonnen von Heroin in
alle Welt - nicht als Droge, sondern als allseits beliebte Arznei. Ein
Berliner Arzt hat jetzt die seltsame Historie des Heroins aus
Leverkusen untersucht. Kann so eine Geschichte wahr sein? Ein
deutsches Pharmaunternehmen mischt ein zweifelhaftes Mittel zusammen
und probiert es an Ahnungslosen aus. Nach spärlichen Tests lässt der
Konzern das Zeug als Arznei auf die Menschheit los. Angepriesen als
Mittel der Wahl gegen fast jedes Übel, von der Bronchitis bis zur
Multiplen Sklerose, entwickelt sich das Medikament zum internationalen
Bestseller. Der Pharmamulti aus Deutschland scheffelt Millionen - auch
deshalb, weil das Präparat süchtig macht. Einige Jahre später will
sich im Konzern niemand mehr an das Mittel erinnern. Nun gilt der
Stoff nicht mehr als sein Werk, sondern als das des Teufels. Die einst
weit verbreitete Arznei ist weltweit illegal. Wer sie herstellt, ist
ein Verbrecher. Wer sie verkauft, dem wird in einigen Teilen der Welt
der Kopf abgeschlagen. Und wer sie benutzt, der steht im Abseits - er
gilt als asozial und als Todeskandidat. Solche Geschichten gibt es,
und dies ist eine davon. Der Pharmakonzern, um den es geht, heißt
Bayer. Und das Präparat, das Bayer entwickelt und hemmungslos
vermarktet hat, heißt Heroin.
Am 21. August 1897 hatte Felix Hoffmann, ein Chemiker von Bayer, in
seinem Labor die Substanz Diacetylmorphin zusammengemischt. Davon
versprachen sich seine Chefs allerhand - sie sahen in ihr einen Ersatz
für das abhängig machende Schmerzmittel Morphin. Als Fische,
Meerschweinchen und Katzen das neue Mittel schluckten und überlebten,
mussten Werksangehörige und ihre Kinder ran. Tote gab es nicht,
Süchtige auch nicht, und kaum ein Jahr später brachte der Konzern das
Mittel - unter Verzicht auf gründliche klinische Tests - auf den
Markt. Jetzt hieß es"Heroin", denn diesen Namen hatten sich die
Bayer-Bosse für ihre, wie sie fanden,"heroische" Neuentwicklung
ausgedacht und schützen lassen. Was nun folgte, ist in der Rückschau
eines der bizarrsten Kapitel aus der Arzneimittelgeschichte. Bis in
die dreißiger Jahre hinein verkaufte Bayer weltweit hochreines
Marken-Heroin. Überall wurde das bis heute unbestritten stark und
vielfältig wirkende Mittel gefeiert und als Arznei an Millionen
verabreicht. Nur ganz langsam mutierte es zur Dämonendroge. Der
Berliner Mediziner Michael de Ridder, 53, hat in einem neuen Buch
nachgezeichnet, wie Heroin auf die Welt, auf den Markt und schließlich
auf die schiefe Bahn kam*. Als erstem ist es de Ridder gelungen, in
die Bayer-Firmenarchive vorzudringen. Seine Vorgänger hat der Konzern
stets abgewiesen, denn an seine Vergangenheit als Heroin-Küche lässt
sich Bayer nicht mehr gern erinnern.
De Ridder beschreibt eine staunenswerte Epoche, in der die Welt
scheinbar Kopf steht - oder kollektiv high ist. In der guten alten
Zeit ist Deutschland der größte Heroinproduzent der Erde. Heroin ist
"ein recht schönes Geschäft", finden stolze Bayer-Direktoren. Und die
Mehrheit der Ärzte preist es als wertvolles und sicheres Arzneimittel
mit"zauberhafter Wirkung", hilfreich gegen Husten, Schmerzen und
allerhand andere Gebresten. Schulkinder, Gebärende, Polizisten, Alte
und Gebrechliche konsumieren Heroin. Sie nehmen es ein als Pulver,
Mixtur, Saft oder Zäpfchen, für Frauen gibt es heroinhaltige Tampons.
Heroin ist überall - und doch: Kaum jemand wird abhängig, keine Seele
verfällt der Beschaffungskriminalität, wozu auch: Bayer-Heroin ist in
den Apotheken vorrätig, nicht eingewickelt und verpanscht in winzigen
Stanniolkügelchen, sondern abgepackt in eleganten Heroin-Flakons oder
in Gläsern, die bis zu 25 Gramm fassen -- eine Menge, die heute
reichen würde für viele Dutzend einsame Tode auf dem Bahnhofsklo.
Was war los mit Bayer und den Ärzten aus dem Kaiserreich? Hielten
wirklich alle das Heroin für so harmlos, dass sie es scheinbar ohne
Sorge als Hustenmittel schon den Säuglingen einflößten? Haben
Bayer-Direktoren gewusst, was die Substanz anrichten kann und dennoch
ohne Skrupel ihr Geschäft betrieben? Oder hatten die damaligen Ärzte
Recht? Sollte Heroin auch jetzt noch eher als Medikament denn als
Droge gesehen werden? Als die Substanz auf den Markt kam, war nichts
ungewöhnlich daran - außer dem durchschlagenden Erfolg: Nach nur einem
Jahr verdealte Bayer sein Heroin in mehr als 20 Länder, vor allem in
die USA. Schon 1902 fuhr es fünf Prozent des Gewinns in der
Pharmasparte ein, und der Absatz stieg rasant - von 45 Kilogramm 1898
auf 783 Kilogramm zehn Jahre später. Weil Bayer kein Patent auf Heroin
bekommen hatte (die Substanz war in der wissenschaftlichen Literatur
schon bekannt), mischten bald auch andere Firmen im Geschäft mit:
Sandoz, Hoffmann-La Roche, Boehringer, Gehe, Knoll und Merck.
Erfolgreich war der Stoff auch deshalb, weil zumindest Bayer am Markt
mit der bis heute branchentypischen Brutalität vorging. Carl Duisberg,
damals Bayer-Prokurist und noch heute prominent vertreten in der
Gedächtnisgalerie der Deutschen, verlangte von seinen Untergebenen,
sie sollten ihre Gegner"mundtot schlagen", wenn diese behaupteten,
Heroin sei nicht sicher. Eine kleine Zahl unbeugsamer Mediziner
nämlich unterstellte dem Mittel von Anfang an Giftigkeit oder
Suchtpotenzial."Wir dürfen nicht dulden", bläute Duisberg seinen
Forschern ein,"dass in der Welt behauptet wird, wir hätten
unvorsichtigerweise Präparate poussiert, die nicht sorgfältig probiert
sind."
Mit Fanfaren und Getöse statt mit sicherem Wissen bahnte Bayer seinem
Heroin den Weg. Bayers"starker und straff organisierter
Propaganda-Apparat" (de Ridder) ging damals mit nach wie vor aktuellen
Branchentricks vor. Unverlangt schickte der Konzern Probepackungen an
Mediziner bis nach China. Er versorgte Ärzte mit der aktuellen,
jeweils für den Konzern günstig ausfallenden Fachliteratur. Er gab
gezielt Studien bei willfährigen Ärzten in Auftrag. In Anzeigen in der
"Deutschen Ärztezeitung" forderte Bayer die Mediziner auf, den damals
weit verbreiteten Morphinismus doch einmal mit dem"anerkannt
vorzüglichen" Heroin zu heilen - schließlich sei Heroin ein
Morphinabkömmling, der nicht abhängig mache. Die Mühen machten sich
bezahlt. Die Mediziner verschrieben Heroin, als wären sie selbst
süchtig danach. Der Wert des Medikaments werde durch seine"absolute
Ungiftigkeit noch gehoben", urteilte ein Arzt in einer
Fachzeitschrift. Ein anderer jubelte, Heroin sei"das sicherste und
exzellenteste aller Hustenmittel".
Doch beim Husten blieb es nicht. Sehr rasch entdeckte Bayer, dass
Heroin einfach gegen alles gut war. Seit 1906 riet der Bayer-Konzern
zu dringendem Heroin-Konsum unter anderem bei Schmerzen, Depressionen,
Bronchitis, Asthma oder Magenkrebs - ein Einsatzspektrum,"das nur
wenige der damals bekannten Erkrankungen ausschloss" (de Ridder).
Selbst die Gesunden hatten viel Spaß mit Heroin. Alpenclubs empfahlen
ihren Mitgliedern, vor einer Tour ins Hochgebirge das Zeug zu
schlucken, weil das die Atmung erleichtere. High kamen die Wanderer
höher.
Natürlich war die Bayer-Droge auch in den Irrenhäusern zu Hause. Der
Mediziner Pastena verabreichte das Mittel im Jahre 1900 an die
Insassen der Psychiatrie von Neapel - an"Irrsinnige, Idioten,
maniakalische Halluzinanten, Epileptiker, Paralytiker und Delirante".
Pastena verzeichnete"andauernde Beruhigung" und"in einigen Fällen
sogar Heilung". Russische Psychiater rückten mit Heroin"seelischem
Schmerz" zu Leibe, polnische Ärzte disziplinierten"extreme
Masturbanten", ein Düsseldorfer Doktor brachte"schmerzhafte
Erektionen" zum Abklingen. Heroin war ein Teufelszeug, das offenbar
immer half - auch der armen Patientin des Wiener Gynäkologen Mirtl:
Sie lag 1899 im Maria Theresia Frauenhospital mit schier unheilbarer
"Nymphomanie" -"erst mit Heroin trat die gewünschte Besserung ein".
An Nebenwirkungen verzeichneten die Mediziner Benommenheit, Schwindel
und Verstopfung, sonst nichts. Die Ärzte, die teils schon im
Geburtsjahr von Heroin vor seinen starken Suchtgefahren warnten,
blieben eine Minderheit. Es galt die Ansicht des Mediziners
Grinewitsch, der immerhin 2000 Kranken Heroin eingeflößt hatte:"Ein
krankhaftes Gelüste nach dem Mittel" sei nicht zu befürchten. Diese
Aussage steht in krassem Gegensatz zu dem, was die Kinder Jahrzehnte
später in der Schule lernen. Warum wurden Heroin-User unter Wilhelm
II. anders als ihre Urenkel nicht abhängig? Was unterschied die
Untertanen des Kaisers von Billie Holiday, Charlie Parker, Janis
Joplin, River Phoenix und den Kindern vom Bahnhof Zoo?
Entscheidend für die ausbleibende Sucht war die damals vorherrschende
Art der Heroin-Aufnahme. Die Kranken schluckten nur wenige
Milligramm - weniger als ein Zehntel dessen, was sich Fixer spritzen.
Oral aufgenommen gelangt es nur langsam ins Gehirn. Einen Flash
erlebten die damaligen Konsumenten nicht, wohl aber Schmerzlinderung
und mitunter leichte Euphorie. Beides war sehr willkommen. Auf Heroin
fühlten sich die Kranken besser an Körper und Seele. Die Idee, ihre
Arznei zu sniefen, zu rauchen oder hoch dosiert intravenös zu
spritzen, kam den Leuten nicht in den Sinn. Deshalb blieb Europa, was
Heroin-Sucht anging, lange clean: Noch 1920 war den deutschen
Medizinalbehörden der Begriff"Heroinismus" völlig unbekannt.
Schneller zur Sache ging es in den USA, dem besten Kunden von Bayer.
Die Amerikaner lebten damals ohnehin in einer Art Junkie-Staat. Zehn
Prozent aller Ärzte galten als opiatabhängig, mehrere hunderttausend
Menschen spritzten sich Morphin, zahllose eingewanderte Chinesen waren
süchtig nach Rauchopium. Etwa seit 1910 stiegen viele um auf Heroin.
Als sich die Kliniken mit Heroinisten füllten, wurde das Mittel
staatlich stärker kontrolliert und seine Verschreibung erschwert. Der
Heroin-Handel entwich auf den Schwarzmarkt, die Preise stiegen, die
Beschaffungskriminalität auch. Für die Hersteller war dies ein Segen -
denn im Untergrundgeschäft machten deutsche und andere Pharmafirmen
erst richtig Kasse. Gegen Ende der zwanziger Jahre lag der legale
Weltbedarf an Heroin bei zwei Tonnen - hergestellt wurden aber bis zu
neun Tonnen im Jahr.
Renommierte Hersteller dealten konspirativ wie die Mafia. Hoffmann-La
Roche war eine dieser Schurken-Firmen: Regelmäßig, so de Ridder,
lieferte der Schweizer Konzern Drogen an Schmugglerorganisationen. Die
Hamburger Polizei deckte Mitte der zwanziger Jahre auf, dass der
Schweizer Konzern Heroin, Morphin und Kokain verschiffte und als
"harmlose Chemikalien" tarnte. Als Codewort für Heroin war den
Schiebern bei Hoffmann-La Roche"Yeaxt" geläufig;"Yamyk" stand für
Kokain. Für seine Taten handelte sich der Konzern 1927 eine Verwarnung
von der internationalen Opium-Kommission ein. Voll von Abscheu
urteilte der Kommissionsvorsitzende, Hoffmann-La Roche sei einer
Lizenz zum Handel mit Betäubungsmitteln nicht würdig. Nach immer
restriktiveren internationalen Opium-Abkommen kamen die
Heroin-Geschäfte von Bayer und anderen Firmen nach 1931 fast gänzlich
zum Erliegen. Das bisschen Heroin, das sie noch herstellten, wurde
genau überwacht. Heroin war in Ungnade gefallen und aus den Apotheken
verbannt. Doch davon, so schreibt de Ridder, haben die Patienten nicht
profitiert. Opiate, zu denen das Heroin zählt, vermögen"wie keine
andere Arznei Todesangst zu lindern und das Sterben zu erleichtern",
sagt de Ridder. Zu den Opiaten zählen auch die wirkungsvollsten
Schmerzmittel. Weil die unverzichtbaren Opiate jetzt insgesamt zu
restriktiv gehandhabt würden, müssten Schwerstkranke und Sterbende in
Deutschland oft Schmerzen durchstehen, die ihnen mit Leichtigkeit zu
nehmen wären.
Heroin wird heute legal nur noch in einem Land hergestellt - in
Großbritannien. Die Briten schätzen es als wirksames Schmerzmittel und
verbrauchen rund 300 Kilogramm im Jahr. Heroin wirkt schneller als
Morphium, allerdings klingt seine Wirkung auch schneller ab. Ungesund
ist es nicht. Es verändert weder das Erbgut noch ist es auf Dauer
giftig. Dass viele Junkies wie Zombies aussehen, so de Ridder, habe
nichts mit der Substanz zu tun. Teures Straßen-Heroin ist vielfach mit
Giften gestreckt und bakteriell verseucht, die oft obdachlosen Fixer
handeln sich mit unsterilen Nadeln Abszesse und Infektionen ein. Der
Vater des Heroins hat den Absturz seiner Schöpfung nicht mehr ganz
miterlebt. Felix Hoffmann starb 1946 kinderlos, allein stehend und
nahezu vergessen in der Schweiz. Bayer widmete ihm nicht einmal einen
Nachruf. Dazu hätte die Firma durchaus Grund gehabt. Am 10. August
1897, elf Tage bevor er das berüchtigtste Rauschgift des 20.
Jahrhunderts zusammenrührte, hat Hoffmann eine Substanz erschaffen,
die gleichfalls weltberühmt wurde: Acetylsalicylsäure. Seine Chefs
hielten sie anfangs für zu giftig und hätten sie fast verworfen.
Dieses Bayer-Produkt ist nach wie vor legal. Sein Name: Aspirin.
<ul> ~ Viel Spass mit Heroin</ul>

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