- Desert Storm - Kuwait wollte Wiedervereinigung? - saschmu, 10.06.2003, 15:16
- Scholl-Latour dazu: - HB, 10.06.2003, 16:55
- Der Text ist unten abgeschnitten worden. - SchlauFuchs, 10.06.2003, 17:53
- Der Rest des Kapitels: - HB, 10.06.2003, 18:07
- Der Text ist unten abgeschnitten worden. - SchlauFuchs, 10.06.2003, 17:53
- Scholl-Latour dazu: - HB, 10.06.2003, 16:55
Der Rest des Kapitels:
-->Sorry, habe ich gar nicht gemerkt, hier der Rest des Kapitels:
------------------------------------------------------------------------------
Im Norden wiederum wäre die Auflösung des Bagdader Staatsapparates von den Kurden genutzt
worden, um im Raum von Mossul, Kirkuk, Suleimaniyeh und Halabja eine souveräne Republik zu
proklamieren. Was wiederum die türkische Regierung in Ankara und die dortige Armeeführung, die in
Ost-Anatolien in einen endlosen Partisanenkrieg gegen die Stalinisten der PKK verstrickt sind, zur
militärischen Intervention, ja vielleicht zur dauerhaften Okkupation der irakischen Nordprovinzen
bewogen hätte. Kurzum, die Erhaltung des territorialen Status quo erschien den geopolitischen Planern in
Washington als das geringere Übel. Der Geheimdienst CIA ging im übrigen von der Gewißheit aus, daß
Saddam Hussein nach seiner schmählichen Niederlage vom eigenen Offizierskorps gestürzt würde und
daß man sehr bald in Bagdad mit einem neuen Machthaber verhandeln könne. Am Tigris ist mir versichert
worden, der irakische Staatschef habe höchstpersönlich das Gerücht dieses unmittelbar bevorstehenden
Militärputsches den amerikanischen Agenten zuspielen lassen, um George Bush in Sicherheit zu wiegen
und sein eigenes Überleben zu ermöglichen.
Der babylonische Präzedenzfall des Frevlers Belsazar, den die Bibel schildert und den Heinrich Heine in
seiner Ballade popularisierte, hat sich nicht wiederholt: »... Belsazar ward aber in selbiger Nacht von
seinen Knechten umgebrachte Aus dem Blitzsieg von »Desert Storm« war ein Pyrrhus-Sieg geworden.
Daran konnte auch der römisch anmutende Triumphzug des General Schwarzkopf an der Spitze seiner
Soldaten auf der Fifth Avenue von New York nichts ändern.
*
Nichts liegt mir ferner, als das Lied des »ugly American«, des häßlichen Amerikaners, anzustimmen. Aber
mit allen Registern ist im Golfkrieg gegen Irak »foul« gespielt worden. Die Irreführung der Medien und
der Weltöffentlichkeit hat vor, während und nach dem Unternehmen »Wüstensturm« groteske Ausmaße
angenommen. Wer konnte während des US-Bombardements noch unterscheiden zwischen realen
Luftaufnahmen und Computer-Simulierungen? Die Zahl der rund um Kuweit massierten irakischen
Truppen wurde extrem aufgebauscht. Nach ihrem Einmarsch in Kuweit haben sich die Soldaten Saddam
Husseins ganz bestimmt nicht wie Gentlemen aufgeführt. Aber sie waren auch nicht die Bestien in
Menschengestalt, als die sie von der amerikanischen Greuelpropaganda dargestellt wurden. Plünderungen
in großem Ausmaß fanden statt, und das Beutegut ist teilweise heute noch - vom Kühlschrank bis zum
Kronleuchter aus Kristall - in gewissen Valuta-Kaufhäusern Bagdads zu erstehen. Oft waren jedoch
ortsansässige Kuweiti an diesen Seriendiebstählen beteiligt. Ich habe mich von libanesischen Kaufleuten,
die den ganzen Krieg im okkupierten Scheikhtum miterlebt haben, ausführlich informieren lassen. Die
Iraker sollen sich nicht wesentlich schlimmer aufgeführt haben, als das andere arabische Eroberer in
vergleichbarer Situation getan hätten. Die Verschleppung und die Hinrichtung potentieller politischer
Gegner, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, sind leider geläufige Praxis im ganzen Orient.
Es gibt Situationen, in denen die Europäer ihrem übermächtigen Bündnispartner jenseits des
Atlantiks nicht jeden Streich durchgehen lassen sollten. Eine Portion Gaullismus stünde den
verantwortlichen Politikern unseres alten Kontinents gut zu Gesicht, was eine tief verankerte Solidarität
mit Amerika keineswegs ausschließt. Auf dem Höhepunkt der Kuba-Krise, als die Welt sich am Rande
des Atomkrieges befand, hatte Charles de Gaulle - bei all seinen Vorbehalten gegen den westlichen
Hegemonen - dem Emissär John E Kennedys, Dean Acheson, auf englisch, was für ihn äußerst
ungewöhnlich war, deklariert: »If there is a war, we shall be with you - Wenn es zum Krieg kommt, stehen
wir auf Eurer Seite.« Aber gewisse »dirty tricks« können einfach nicht hingenommen werden. Ein
Paradebeispiel dieser geheimdienstlichen Abgefeimtheit war wohl die Horror-Erfindung von den
Brutkästen für Säuglinge in einem Kuweiter Krankenhaus, die von den Irakern angeblich zertrümmert
wurden. Die Babys seien dann von diesen Sadisten an den Wänden zerschmettert worden. Um diesen
Behauptungen Glaubwürdigkeit zu verleihen, war eine englische TV-Produktionsfirma speziell beauftragt
und bezahlt worden, das Gruselspiel absichtlich verwackelt und leicht verzerrt mit Schauspielern zu
inszenieren und den Säuglingsmord anhand von Puppen zu simulieren. Dazu gesellte sich die Tochter des
Botschafters von Kuweit in den USA, um über sämtliche Fernsehkanäle mit tränenerstickter Stimme
Greuelmärchen zu verbreiten, die sie im fernen New York frei erfunden hatte.
Nach Ende der Bodenoffensive kam die Sensationsnachricht von irakischen Giftgas-Anschlägen
gegen die vorrückenden Amerikaner auf. In Wirklichkeit hatte die US Army - von ihrem voll informierten
Nachrichtendienst unzureichend gewarnt - Bunkerstellungen des Gegners gesprengt, in denen
Gasgranaten und Sarin-Kampfstoff lagerten. Seitdem ist in den USA der Streit im Gang um die
Entschädigung der durch eigenes Verschulden verseuchten amerikanischen Soldaten, deren Zahl von
gewieften Anwälten beliebig in die Höhe getrieben wird. Nur ein geringer Teil der Lügen und
Fehlleistungen, die den strahlenden Sieg George Bushs ins Zwielicht rücken, sind bekannt geworden.
Man erinnere sich zum Beispiel an die Tatarenmeldung von der totalen Ã-lverschmutzung des Persischen
Golfs durch auslaufendes Petroleum. Als dazu eine drastische Illustration fehlte, wurde die Fernseh-Aufnahme
eines im Ã-l ertrinkenden Kormorans aus der französischen Bretagne zu Hilfe genommen. um
die Entrüstung der Umweltschützer anzufachen.
In einem mit Hilfe des deutschen Nachrichtendienstes entstandenen Sachbuch des FAZ-Redakteurs
Udo Ulfkotte, dessen Lektüre für naive Gemüter überaus heilsam wäre, sind die von mir
summarisch aufgezählten Pannen mit detaillierter Sachkenntnis aufgelistet. Verblüffend an dieser
Veröffentlichung sind nicht so sehr die Fakten selbst, die in der amerikanischen Presse längst ausführlich
behandelt wurden, sondern die Tatsache, daß ausgerechnet der BND zu einer so schonungslosen
Kampagne gegen seine Kollegen der CIA ausholte. In Pullach - das wäre das wahre Hintergrundthema
besagten Buches - scheint eine gewisse Schizophrenie vorzuherrschen. Einerseits stellt man die US-Agenten
als Stümper und Killer dar, andererseits wird jedoch von Ulfkotte versichert, daß über den BND
seit geraumer Zeit sämtliche deutschen Botschaftsberichte an den israelischen Nachrichtendienst
»Mossad« weitergeleitet werden. Nun ist aber die Zusammenarbeit zwischen amerikanischen und
israelischen »Spooks« aufs engste verzahnt, so daß die Enthüllungen Pullachs, die streng vertraulichen
Lagebeurteilungen des Auswärtigen Amtes, zweifellos über Jerusalem ihren Weg nach Langley finden.
Das erträgliche Maß an Skrupellosigkeit und »intoxication« wurde vollends überschritten, als das
US-Kommando die Regimegegner Saddam Husseins - insbesondere die Schiiten im Süden und die
Kurden im Norden - zum offenen Aufstand gegen den Diktator aufrief und sie dann ihrem tragischen
Schicksal überließ. Die Kurden, die im Westen über eine beachtliche Anzahl von Sympathisanten bei
linken Alternativen und »Friedenskämpfern« verfügen, kamen noch relativ glimpflich davon. Sie
profitierten von den amerikanischen Schutzmaßnahmen, die im Stil der üblichen Schönfärberei mit dem
Namen »Northern Shield« und »provide comfort« bezeichnet wurden. Eine schreckliche Untat wurde
hingegen an den schiitischen Gegnern Saddam Husseins begangen. Es war nämlich zur Volkserhebung in
den meisten Provinzen südlich von Bagdad gekommen. Die Anführer der bislang streng geheimen
Untergrund-Organisationen, insbesondere der militanten Gruppe »El Dawa«, tauchten aus ihren
Schlupflöchern und ihrer Anonymität auf. Die Geheimpolizei Bagdads hatte schon in den siebziger und
Achtziger Jahren zur erbarmungslosen Repression gegen die Mullahs und jene schiitischen Intellektuellen
ausgeholt, die man als Feinde des säkularen Baath-Regimes, als heimliche Befürworter eines Gottesstaates
à la Khomeini verdächtigte. Der oberste Würdenträger der »Partei Alis«, Ayatollah Uzma Mohammed
Baqr Sadr, war 1980 hingerichtet worden. Der nächste hohe schiitische Geistliche des Irak, Mohammed
Baqr-el-Hakim, entkam nach Teheran, wo er eine »Armee der islamischen Mobilisierung« unter den
schiitischen Kriegsgefangenen aus Mesopotamien zu rekrutieren suchte. Viel effektive Hilfe haben die
Aufständischen des Süd-Irak von ihren persischen Glaubensbrüdern dennoch nicht erhalten, als die
Revolte sich im März 1991 in Windeseile ausbreitete. Teheran hatte sich noch längst nicht von den
horrenden Verlusten des ersten Golfkrieges erholt.
Auch ohne nennenswerten äußeren Beistand hatten sich die schiitischen »Gotteskrieger« der
südlichen Hälfte des Zweistromlandes bemächtigt. Nach heftigen Gefechten hatten sie die Großstadt Basra
von den Schergen Saddam Husseins befreit, die heiligen Pilgerstätten Nedschef und Kerbela für die
»Schiat Ali« zurückgewonnen. Ihre Anführer vertrauten darauf, daß Präsident Bush die irakische Armee
zumindest daran hindern würde, eine Gegenoffensive in Gang zu setzen und blutige Vergeltung zu üben.
Doch in diesem Punkt hatten sich die Schiiten geirrt. Sie waren auf abscheuliche Weise getäuscht worden.
Die Kein- und Verfügungstruppe des Saddam-Regimes, die Divisionen der »Republikanischen Garde«,
waren ja von amerikanischen Luftangriffen verschont geblieben. Sie standen fast unversehrt bereit, um mit
schwerem Material gegen die Aufrührer vorzugehen. Amerika hatte die Volkserhebung gegen den »Hitler
von Bagdad« mit allen Mitteln der Propaganda ermutigt. Als aber die Perspektive einer schiitischen
Loslösung von der irakischen Zentralmacht sich abzeichnete und die Konturen eines islamischen
Gottesstaates in Süd-Mesopotamien Gestalt annahmen, rührten die Streitkräfte des General Schwarzkopf
keinen Finger, um diesen Irregeleiteten zu Hilfe zu kommen. Sie sahen taten- und wortlos zu, wie die
Revolutionsgardisten unter Befehl des als Schlächter berüchtigten General Ali Hassan el-Madschid die
Straßen von Basra in Schutthalden verwandelten, die heilige Stadt Nedschef verwüsteten und das höchste
schiitische Sanktuarium von Kerbela, das Grab des Imam Hussein, in Brand schossen.
Washington hat die rebellischen Schiiten ihrem Todfeind Saddam Hussein bewußt ans Messer
geliefert. Zwar war von der US Air-Force über breite Streifen im Norden und im Süden des Landes ein
Flugverbot für irakische Kampfflugzeuge verhängt worden. Aber über eine nennenswerte Luftwaffe
verfügte Bagdad seit Kriegsbeginn ohnehin nicht mehr - die Maschinen waren nach Iran ausgeflogen
worden -, und das Startverbot galt nicht für die Hubschrauber, die der Diktator durch geschickte Tarnung
gerettet hatte. Die gepanzerten Helikopter stießen nunmehr wie mörderische Raubvögel auf die schlecht
bewaffneten Schiiten nieder. Es fand ein entsetzliches Gemetzel statt. Letzte Zuflucht fanden die
Aufständischen in jener malerischen Sumpflandschaft, wo sich das Leben der »Marsh«-Araber seit
prähistorischen Zeiten nicht geändert hatte. Umgehend ordnete Saddam Hussein an, die potentiellen
Widerstandsnester, dieses einzigartige Naturreservat durch Kanalbau und Drainage auszutrocknen und der
Versteppung auszuliefern.
Die amerikanische Orient-Politik hatte einen doppelten, zutiefst dubiosen Erfolg verbucht:
Saddam Hussein war - mehr noch als bei der Besetzung Kuweits - als grausamer Unhold diskreditiert, und
die Schiiten des Irak wurden als potentielle Verbündete des iranischen Gottesstaates ausgeschaltet. Die
Vasallen der USA am Persischen Golf - Kuweiti und Saudi zumal - konnten aufatmen. Kein
amerikanischer oder europäischer Medien-Kommentator wagte die Feststellung zu treffen, daß das US-Kommando
sich gegenüber den Schiiten des Irak ähnlich verhalten hatte wie die Rote Armee Josef
Stalins, als deren Divisionen im Warschauer Stadtteil Praga östlich der Weichsel wie gelähmt, ohne auch
nur eine Granate abzufeuern, zusahen, wie Wehrmacht und Waffen-SS den patriotisch und katholisch
motivierten Aufstand des Oberst Bór-Komorowski zusammenkartätschten, die polnische Widerstands-Elite
füsilierten und Warschau in eine Mondlandschaft verwandelten. Ob ein solcher Zynismus sich am
Ende auszahlt? Die »glorreiche Sowjetmacht« ist - trotz oder wegen des stalinistischen Verbrechens an
der Weichsel - zumindest partiell an der ungebrochenen Beharrungskraft Polens gescheitert. Heute deutet
einiges darauf hin, daß das skrupellose Doppelspiel zwischen Euphrat und Tigris, dessen sich die USA
schuldig machten, ihnen keinen dauerhaften Vorteil bei der angestrebten »Neuen Friedensordnung«
verschaffen wird.
Blutgericht und Sektentaumel
Bagdad, im August 1997
Der Traum Saddam Husseins, Bagdad in eine strahlende Megapolis zu verwandeln wie zu Zeiten des
Kalifen Harun-al-Raschid, hat sich nicht erfüllt. Sieben Jahre Wirtschaftsembargo haben sich wie Mehltau
auf die Stadt am Tigris gelegt. Wer möchte sich heute noch mit den wuchtigen Wohnblocks des
Außenviertels »Saddam City« brüsten, das ursprünglich »Madinat-el-Thaura - Revolutionsstadt« heißen
sollte und nun zum Schauplatz ganz gewöhnlicher Kriminalität verkommt. Auch die stattlichen
Apartment-Häuser von Haifa-Street - die Namensgebung erinnert an den unverzichtbaren Anspruch auf
die israelische Hafenstadt - beeindrucken nicht mehr. Sie sind - wie so viele Neubauten - einer
schleichenden Abnutzung ausgeliefert.
Bagdad im Sommer 1997 wirkt weit weniger protzig als fünfzehn Jahre zuvor. Dafür hat die
Kapitale zu einer anheimelnden orientalischen Menschlichkeit zurückgefunden. Plötzlich stelle ich fest,
daß die alte Hauptstraße parallel zum Strom, die nach Harun-al-Raschid benannt ist, sich seit meinem
ersten Besuch im Sommer 1951 kaum verändert hat. Sie ist noch ebenso verdreckt, übervölkert und laut
wie wohl schon zur Osmanischen Epoche. Manches offizielle Gespräch führe ich in renovierten,
kasernenähnlichen Ziegelbauten, die aus der Zeit der türkischen Sultansverwaltung stammen. Vor 46
Jahren ließen dort die Beamten des Haschemitischen Königshauses dem Besucher von sudanesischen
Dienern Kaffee servieren, während dieser auf die Erledigung endloser Formalitäten wartete. Von der
Pracht des Abbassiden-Kalifats sind allenfalls ein paar Grabkuppeln und ein Stück Festungsmauer übrig.
Der zweifache Mongolensturm - einmal unter dem Dschinghis Khan-Enkel Hülagü, das zweite Mal unter
dem grausamen Welteroberer Tamerlan - hatte die Metropole fast ausgelöscht.
Die Backsteine Mesopotamiens zerbröckeln allzu schnell unter der brütenden Sonnenglut.
Die Denkmäler zu Ehren Saddam Husseins, die seit der Golf-Niederlage in unverminderter
Devotion errichtet werden, fallen heute weniger pompös aus. Aber der starke Mann von Bagdad, der -wenn
er lächelt und sich leutselig zeigt - ein wenig an den Filmschauspieler Clark Gable erinnert, bleibt
allgegenwärtig. Er winkt auf zahllosen Wandgemälden und Plakaten seinen Untertanen mit der typisch
steifen Armbewegung zu. Immer häufiger zeigt er sich in der Tracht des Beduinen oder in der frommen
Verbeugung des Beters. Als Kriegsheld oder gar als Exzentriker mit Tirolerhut läßt er sich kaum noch
feiern. Seine Auftritte in der Ã-ffentlichkeit, die aus Sicherheitsgründen niemals angekündigt werden, sind
selten geworden. Er soll jede Nacht in einer anderen Residenz schlafen. Immerhin sah man ihn - inmitten
einer gesiebten Zahl von Anhängern - bei der Grundsteinlegung einer Moschee, die im Herzen von
Bagdad entsteht und deren gewaltige Ausmaße die stolzen Konturen der Moschee Hassans II. von
Casablanca noch überragen sollen. Der Rais, so wurde mir mehrfach versichert, wende sich mit
fortschreitendem Alter einem frommen Lebensstil zu, er habe seinen Alkoholkonsum, der früher erheblich
gewesen sei, stark reduziert.
Im Fernsehen kann man ihn auch bewundern, wie er nach der UN-Vereinbarung »Ã-l für Nahrung«, die
dem Irak pro Halbjahr einen Petroleumexport im Gegenwert von zwei Milliarden Dollar erlaubt, mit
energischem Ruck den Verschluß der Pipeline von Kirkuk aufdreht. Noch spektakulärer sind seine
sportlichen Darbietungen. Der Diktator - immer noch athletisch gewachsen - stürzt sich an der Spitze
seiner verschüchterten Getreuen in die Fluten des Tigris, erreicht mit kräftigen Schwimmstößen als erster
das Gegenufer und übertrifft mit seiner ungebrochenen physischen Kraft sein Modell Mao Zedong, der zu
Beginn der Kulturrevolution Chinas in den Fluten des Yang Tsekiang gebadet hatte. Irgendwie imponiert
dieser Kraftkerl vom Tigris auch.
Seit dem Desaster von 1991 hat sich sein Charakterbild in der Geschichte allmählich verändert.
Gewiß, selbst in Damaskus, wo Präsident Hafez-el-Assad - unter dem Zwang der Umstände - mit dem
früheren Todfeind von Bagdad wieder eine diplomatische Normalisierung einleitet, den Handel mit
Mesopotamien aktiviert und auf strategische Vorteile bedacht ist, herrscht immer noch keine positive
Meinung vor.
Ein sehr hoher syrischer Beamter hatte mir unverhohlen erzählt, wie der irakische Staatschef bei gastlichen
Empfängen im Kreise seiner Mitarbeiter und Günstlinge unversehens die Pistole zieht und einen
vermeintlichen Gegner abknallt, nur weil ihm dessen Auftreten suspekt, der Blick verschlagen erschien.
Für viele Iraker, die unter dem Boykott der UNO stöhnen, präsentiert er sich als fürchterlicher, aber
unbezwingbarer Fels, der der Koalition von dreißig Feind-Nationen, angeführt durch den Koloß USA,
erfolgreich die Stirn geboten hat. Die Legendenbildung sprießt im Orient noch üppiger als andernorts.
Jedenfalls tritt Saddam nicht nur in den Augen seiner Untertanen, sondern auch in der Einschätzung vieler
Beobachter des arabischen Auslandes neuerdings in der Rolle des »Batal« auf, des Helden, an dem alle
Komplotte der amerikanisch-zionistischen Verschwörung unrühmlich zerschellen.
Die Versuche der CIA-Agenten, den Tyrannen vom Tigris auf die eine oder andere Weise zu
liquidieren, sind nur zum geringsten Teil bekannt geworden. Jeder dieser Anschläge endete mit einer
fürchterlichen Blamage. Dank der amerikanischen Presse - die »New York Herald Tribune« brachte eine
umfangreiche Titel-Story - wurde der Riesen-Flop des US-Geheimdienstes im irakischen Kurdistan
während des Sommers 1996 in vollem Ausmaß publik. Die Bevölkerung von Bagdad ihrerseits hat sich
weit mehr über die konspirativen Eskapaden der Schwiegersöhne des Diktators amüsiert und erregt, die
sich im August 1995 - begleitet von zwei Töchtern Saddams - nach Amman absetzten und den
Amerikanern geheimste Rüstungsdaten lieferten. Im Gespräch bleibt vor allem Hussein Kamil, der als
engster Vertrauensmann des Präsidenten und schlimmster Henker galt. Die öffentliche Verblüffung war
total, als besagter Schwiegersohn, nachdem man ihm in Bagdad Straffreiheit zugesichert hatte, tatsächlich
in die Höhle des Löwen zurückkehrte und dort - angeblich nicht von den zuständigen Staatsorganen,
sondern von Mitgliedern des zutiefst entehrten Familien-Clans - schleunigst umgebracht wurde. Ich habe
gefragt, wie eine solche psychologische Fehlleistung eines intimen Kenners des Regimes überhaupt zu
erklären sei, und erhielt folgende Antwort: Hussein Kamil stammte aus kleinsten, ja erbärmlichen
Verhältnissen. Er hatte durch Skrupellosigkeit und Grausamkeit die höchste Gunst des Serail erworben. In
völliger Überschätzung seiner eigenen Bedeutung für die amerikanischen Spezialdienste hatte er wohl
gehofft, seinen Schwiegervater an der Spitze des Staates ablösen zu können und selbst Präsident zu
werden. Sämtliche irakischen Exil-Politiker jedoch - von den Schiiten bis zu den Kommunisten - wandten
sich mit Abscheu von dieser Verrätergestalt ab. Angeblich hat Hussein Kamil - nun auch von seinen »US-Betreuern«
mit Mißachtung gestraft - sich mit der Bedeutungs- und Mittellosigkeit im Exil nicht abfinden
können. In seiner Verblendung redete er sich ein, sein ehemaliger Wohltäter würde doch noch Gnade
walten lassen. Diesen monumentalen Irrtum hat er mit dem Leben bezahlt.
Damit sind die Gerüchte nicht zu Ende. Als im Dezember 1996 Udai, der älteste Sohn Saddam
Husseins, bei einer abendlichen Vergnügungstour am Steuer seines Turbo-Porsche im Stadtkern von
Bagdad durch ein Attentat schwer verletzt wurde, brachte man diesen Überfall mit dem Drama Hussein
Kamils und einer Familien-Vendetta in Zusammenhang. Der verwöhnte Playboy Udai war sogar seinem
Vater mit seiner Brutalität, seiner manischen Mordlust lästig geworden. Nach mehreren Operationen der
Wirbelsäule tritt der mißratene Sprößling, der seine Teil-Lähmung durch wallende Beduinenkleidung zu
verstecken sucht, wieder im Fernsehen auf, um seine fortschreitende Gesundung zu demonstrieren. Dem
Zuschauer fällt selbst bei diesen Propaganda-Szenen die Vulgarität des Gesichtsausdrucks, das grausame,
erzwungene Lächeln auf.
Bagdad ist in den Prüfungsjahren seiner weltweiten Ächtung wieder eine zutiefst orientalische,
eine durch und durch islamische Stadt geworden. Die vielen ausländischen Handelsvertreter, Ingenieure
und Finanziers - es war nicht immer die Elite des westlichen Unternehmertums - sind verschwunden.
Auch die zahllosen Fremdarbeiter - Süd-Koreaner, Pakistani, Inder, vor allem drei Millionen Ägypter -haben
den Irak fluchtartig nach der Niederlage von 1991 verlassen oder wurden ohne Entgelt davongejagt.
Geschlossen sind auch die anrüchigen Kasinos und Amüsier-Lokale am Ufer des Tigris. Auf dem
Höhepunkt des Gemetzels an der persischen Front floß dort der Alkohol in Strömen, und die
Kriegsgewinnler starrten gierig auf die zierlichen asiatischen Tänzerinnen aus Bangkok oder Manila, die
sich halbnackt auf der Bühne produzierten, ehe sie mit zahlungskräftigen Kunden in ihren Absteigen
verschwanden. Dem Skandal dieses Vergnügungsrummels, der angesichts der fürchterlichen
Verlustzahlen auf dem Schlachtfeld zum Himmel schrie, wurde abrupt ein Ende bereitet. Die durch das
Embargo bedingte Armut hat es allerdings mit sich gebracht, daß heute junge Irakerinnen, oft
Studentinnen, sich als Prostituierte anbieten, um ein bescheidenes Auskommen zu finden.
Die offizielle Entlohnung vom Professor bis zum Hilfsarbeiter - in total entwerteten 250 Dinar-Scheinen
ausgezahlt - bewegt sich zwischen zwei und fünf Dollar pro Monat, falls man den realen Wechselkurs
zugrunde legt. Es handelt sich um ein symbolisches Entgelt, und wie immer bei solchen extremen
wirtschaftlichen Engpässen fragt sich der Außenstehende, wie der normale Sterbliche im Irak überleben
kann. Die Familienbande sind eben noch intakt, und der Orient ist in dieser Hinsicht manchen Kummer
gewöhnt. Der französische Nahost-Experte Eric Rouleau verweist zu Recht darauf, daß noch kein Land
der Dritten Welt durch Wirtschaftsboykott allein in die Knie gezwungen wurde.
Auf dem Gemüsemarkt und im Bazar von Bagdad geht es so lebhaft und lärmend zu wie zu
Zeiten Sindbads des Seefahrers. Das Angebot an Lebensmitteln ist überreich, doch selbst der Preis für
Datteln und Grieß ist für den Durchschnittsverbraucher fast unerschwinglich, ganz zu schweigen vom
Hammelfleisch, das sich nur die Privilegierten leisten können. Viele Verkaufsstände des Suq stehen leer.
Die Textilhändler breiten billige Stoffballen aus China auf ihren Regalen aus.
Am schlimmsten ist es um die Medikamente bestellt, weil fast jedes chemische Produkt - dazu zählen
auch Dünge- und Pflanzenschutzmittel - auf der »Roten Liste« steht. Im Irak herrscht keine akute
Hungersnot, aber das Trinkwasser verfault und Infektionskrankheiten breiten sich aus. Ich sollte im
nördlichen Mossul erleben, wie mein Gastgeber, einer der reichsten Männer der Stadt, schier verzweifelte,
weil er für seinen Vater, der gerade einen schweren Herzanfall erlitten hatte, kein
Blutverdünnungsprodukt, ja nicht einmal Valium auftreiben konnte. Ähnlich wie im post-kommunistischen
Rußland sind im Irak vor allem die Angehörigen des Kleinbürgertums zu bemitleiden.
Mit den kümmerlichen Resten ihres Besitzes stehen sie als Trödler am Straßenrand und warten
schicksalsergeben auf einen Interessenten.
Vergeblich habe ich im ganzen Land nach Schmähschriften gegen Saddam Hussein Ausschau
gehalten. Daran erkennt man die Omnipräsenz der diversen Überwachungsdienste - es sind insgesamt
sechzehn - die fast nirgendwo sichtbar in Erscheinung treten, aber die Gewähr dafür bieten, daß jeder
aktive Oppositionelle unverzüglich am Galgen hängt. Der Staatschef soll gegenüber den Angehörigen
seines Clans und seiner Sippe nach den letzten Enttäuschungen wachsenden Argwohn hegen und sich
wieder auf die verschworene Gemeinschaft der alten Baath-Gefährten verlassen. Die akute materielle
Bedrängnis seines Volkes hindert ihn nicht, großartige Bauprojekte zu lancieren.
Der neue Präsidentenpalast übertrifft an Pracht und Ausdehnung alle bisherigen Staatsschlösser.
Eine große Ausstellungshalle ist in Auftrag gegeben. Der einst viel geschmähten Dynastie der
Haschemiten, die hier zu Zeiten des britischen Mandats auf einen wackeligen Thron gehoben wurde, ist
nachträglich - im Zeichen der nationalen Versöhnung - ein ansehnliches Mausoleum errichtet worden. An
die Toten des ersten Golfkrieges gemahnt eine geborstene Kuppel mit grüner Kachelverkleidung. Sie
ersetzt die zahlreichen schwarzen Trauertücher, die im Sommer 1982 an so vielen Häusern aushängen und
auf denen geschrieben stand: »El schuhada akbar minna dschami'an« - »die Märtyrer« - gemeint waren
die Gefallenen - »sind größer als wir alle zusammen.«
Der Irak befindet sich in einem eigenartigen Schwebezustand. Da werden mir im engsten
Gassengetümmel jene Verstecke gezeigt, wo - während des zweiten Golfkrieges - die Sprengköpfe der
Scud-B-Raketen tagsüber in menschenwimmelnder Umgebung gelagert wurden. Die Abschußrampen
waren in der Wüste verscharrt. Jedes Kind in Bagdad wußte um diese hochexplosive Präsenz, aber die
CIA hat davon nie erfahren. Was den Amerikanern, die mit allen Mitteln der Elektronik und des High-Tech
ausgestattet sind, schmerzlich fehlt, ist die sogenannte »human intelligence«, die unersetzbare
Agententätigkeit vor Ort. Trotz aller Stimmungsmache gegen die USA, trotz der astronomischen
Reparationsforderungen, die von der gefügigen UNO eingeklagt werden, stößt der westliche Ausländer auf
keinerlei Feindseligkeit. Die Freundlichkeit der Menschen ist entwaffnend und fast beschämend.
Insgeheim - bei allen Haßtiraden gegen die USA - bewundern ja die Orientalen diese verfluchten
Amerikaner. Viele junge Leute ahmen den Lebensstil nach, soweit die Mittel dazu reichen, und so
mancher träumt davon, eines Tages in »God's own country« auswandern zu können. Deshalb würde ein
abrupter Kurswechsel Washingtons, ein Verzicht auf die kleinliche, die bösartige Diskriminierung und
Auspowerung eines ganzen Volkes vermutlich mit großer Erleichterung, ja möglicherweise mit
Versöhnungsangeboten quittiert werden. Das »big business« in den USA käme sehr schnell auf seine
Kosten. Die Europäer, insbesondere die Deutschen, könnten ganz plötzlich mit ihrer pedantischen
Vorschriftserfüllung, ihrer außenpolitischen Zaghaftigkeit wie überraschte Tölpel dastehen.
Diese etwas heruntergekommene Millionen-Stadt am Tigris hat ihren geheimen Charme. Die
Bessergestellten treffen sich abends in zerfallenen Restaurants am großen Strom. Da geht es lärmend und
nicht sonderlich hygienisch zu. An wackligen Tischen sitzen die Männer in der weißen Dischdascha,
schmauchen ihre Wasserpfeifen, plaudern, spielen Trik-Trak und warten geduldig auf die Zubereitung der
Fische, die ihnen der schweißtriefende Wirt eben noch lebend in einem Bassin zur Auswahl gezeigt hat.
Diskret werden Bier und Whisky serviert. Da stört es wenig, daß die Katzen sich um die Fischköpfe
streiten und Scharen von Ratten die Böschung des Stroms erklettern, um sich erwartungsvoll neben die
Gäste zu ducken.
*
Am Nachmittag habe ich mich nach Ktesiphon fahren lassen. Die Besichtigung der antiken Banketthalle,
das größte Rundgewölbe, das je von Menschenhand - dazu noch aus Lehmziegeln - gebaut wurde, lohnt
den Ausflug zur ehemaligen Hauptstadt des Parther- und Sassaniden-Reiches. Dieses Symbol persischen
Widerstandes gegen die römische Allmacht ist nur vierzig Kilometer südlich von Bagdad gelegen. Meine
Aufmerksamkeit gilt jedoch vorrangig einem anderen überdimensionalen Projekt der jüngsten
Vergangenheit. Etwa auf halber Strecke ist ein riesiges, verwahrlostes Areal durch Stacheldrahtverhaue,
Wachtürme und andere Schikanen abgeschirmt. Dahinter türmen sich formlose Lehmhaufen und ein paar
verlassene Baracken.
An dieser Stelle hatte sich die Nuklear-Aufbereitungsanlage »Ozirak« befunden. Hier hatte
Saddam Hussein mit Hilfe französischer Experten den Durchbruch zur Atom-Rüstung forcieren wollen.
Die Laboratorien und Werkstätten waren im zentralen Krater einer künstlich aufgeschütteten Erd-Pyramide
pharaonischen Ausmaßes verborgen und schienen unverwundbar. Dennoch ist es der
israelischen Luftwaffe im Sommer 1981 gelungen, diese unheimliche Waffenschmiede in einem perfekt
inszenierten Überraschungsangriff lahmzulegen. Die vernichtende Bombenlast wurde von den
Kampfmaschinen mit dem David-Stern in elliptischer Bahn wie beim Basketball-Wurf oder beim
Granatwerfer-Abschuß ins Ziel gesetzt. Seitdem ist das Terrain geräumt, der Witterungserosion
preisgegeben. Der künstliche Berg brach in sich zusammen. Im Sommer 1982, bei meiner letzten
Besichtigung, hatte Ozirak trotz der Volltreffer noch einen ganz anderen Anblick geboten. Auf der Höhe
der Sandburg zeichnete sich eine Vielzahl von Flakbatterien und Raketenstellungen ab. Der Himmel
wurde durch knallrote Fesselballons verstellt, als solle die Arbeit bei nächster Gelegenheit
wiederaufgenommen werden.
Die Nuklear-Proliferation bleibt das alles beherrschende Gespräch in den Militärstäben dieser
Region. Jedermann ist überzeugt, daß der irakische Rais seine nuklearen Ambitionen - trotz Niederlage
und Sanktionen - nicht aufgesteckt hat. In der Zwischenzeit richten sich die Blicke vornehmlich auf die
Islamische Republik Iran, über deren atomare Rüstungsvorhaben angeblich präzise Berichte deutscher
Kundschafter vorliegen. Doch es wäre nicht das erste Mal, daß den Mullahs und Pasdaran von Teheran
gezielte Irreführungen gelängen.
Der lukrative Handel mit angereichertem Plutonium oder miniaturisierten Sprengköpfen aus russischen
oder kasachischen Arsenalen kann jederzeit für Überraschungen sorgen.
Im Anschluß an den Abstecher nach Ktesiphon haben mir meine beiden Gönner in Bagdad, der
deutsch-irakische Arzt Saad Darwish und der Rektor der alt-ehrwürdigen Mustansiriyeh-Universität,
Riadel-Dabagh, eine abendliche Rundfahrt durch die Stadt Harun-al-Raschids vorgeschlagen. Gemeinsam
mit dem deutschen Orientalisten Walter Sommerfeld, der sich um die Entzifferung der babylonischen
Keilschrift verdient macht, fördern sie unverdrossen eine »Deutsch-Irakische Gesellschaft« und sind
bemüht, nicht alle Fäden Mesopotamiens zur Bundesrepublik abreißen zu lassen. »Die größte Gefahr
besteht darin, daß die jungen Akademiker aufgrund der drakonischen Sanktionsmaßnahmen von jedem
Kontakt mit dem westlichen Ausland abgeschnitten werden und daß sich eine dauerhafte psychologische
Entfremdung einstellte, hatte sich Walter Sommerfeld vor meinem Aufbruch nach Bagdad beklagt.
Während dieses Irak-Aufenthalts werde ich mir durchaus bewußt, daß ich ein bevorzugtes
»Treatment« genieße. Das Informationsministerium hat mir sogar die Erstattung meiner persönlichen
Ausgaben angeboten, was ich natürlich strikt ablehnte. Dank meiner beiden Betreuer habe ich binnen
kürzester Frist mit fünf irakischen Ministern - darunter Tariq Aziz - lange Gespräche führen können. Es
wurde mir absolute Reisefreiheit gewährt, und niemand hat versucht, mich mit plumpen Propaganda-Parolen
zu belästigen. Eine solche Liberalität ist um so beachtlicher, als die Bagdader Behörden über
meine bisherige Orient-Berichterstattung offenbar gut informiert sind. Sie wissen, daß ich im ersten
Golfkrieg engen Kontakt zur militärischen Führung Irans unterhielt und im Februar 1979 mit Ayatollah
Khomeini im gleichen Flugzeug von Paris nach Teheran gekommen war. Auch meine Kommentare zum
Unternehmen »Wüstensturm« sind in Bagdad registriert worden. Mit Kritik an Saddam Hussein hatte ich
nie gespart. Doch so klug ist man immerhin in der Umgebung des Rais, daß man sich von den nuancierten
Aussagen eines unvoreingenommenen, erfahrenen Beobachters und deren Wirkung auf die deutsche
Ã-ffentlichkeit mehr verspricht als von schön geschminkten Reportagen irgendwelcher »newcomer« in
dieser Region.
Der Abend hat sich über das Zweistromland gesenkt. Durch ein unvorstellbares Menschengewühl
bahnen wir uns den Weg zur schiitischen Moschee von Qadhimain jenseits des Tigris, wo die beiden
Imame Musa-eI-Qadhim und Muhammad-el-Jawad unter Gold und Silber bestattet sind. Saad Darwish
und Riad-el-Dabagh verweisen mich auf die Zunahme der religiösen Inbrunst, die in allen
Bevölkerungsschichten, Sunniten wie Schiiten, bei den Alten und plötzlich auch bei den Jungen
festzustellen ist. Es ist wohl eine Folge der materiellen Not, aber auch der ideologischen Ratlosigkeit.
Arabischer Nationalismus und Sozialismus, die die Baath-Partei - von dem syrischen Christen Michel
Aflaq gegründet - einst prägten, haben eben an Glaubwürdigkeit und Attraktivität verloren. Bleibt der
Islam als geistliche und moralische Zuflucht, als »feste Burg« in einer schwankenden Welt. Hinzu kommt
ein schwindelerregender Bevölkerungszuwachs. »Als wir zur Schule gingen«, berichtet Saad Darwish,
habe er gelernt, daß es im Irak fünf Millionen Einwohner gebe. Im Sommer 1982 wurde mir die Zahl von
dreizehn Millionen Irakern genannt, und heute schätzt die UNO die Bevölkerung Mesopotamiens auf
dreiundzwanzig Millionen.
Mit dem Überschreiten der Schwelle zur Moschee Qadhimain hat mich die Zauberwelt des
schiitischen Totenkultes aufgenommen. Das Gebäude ist hell angestrahlt, leuchtet mit seiner riesigen
Goldkuppel wie ein Juwel in der Dunkelheit unter dem Halbmond. Die Menge der Frommen umkreist
dichtgedrängt die Sarkophage ihrer heiligen Märtyrer. Sie klammern sich segenheischend an das schwere
Silbergitter, sinken in schluchzender Trauer vor den massiven Goldtafeln der Grabkammer nieder. Die
zahllosen Spiegelfacetten, die mit leuchtenden Kaskaden die Illusion von Jenseitigkeit vermitteln, würden
an anderer Stelle kitschig wirken. Hier schimmern sie wie ein Stück Paradies. Es ist stets das gleiche,
magische Dekorationsmuster, das die »Partei Alis« zur Ehrung ihrer Imame aufbietet. Ähnlich glitzern die
Grabeshöhlen von Meschhed und Qom, von Kerbela, Nedschef und Samara, wo der Zwölfte der
Auserwählten, »Mehdi« genannt, sich seinen sunnitischen Verfolgern durch die Flucht in die
»Verborgenheit« entzog. Aus dieser Okkultation, so lautet der Glaube, wird der Zwölfte Imam, der »Herr
der Zeiten« eines Tages wiederkehren, um das Reich Gottes und der Gerechtigkeit zu errichten. Der
Messianismus ist nicht auf das Judentum beschränkt. Warum spüre ich an diesem Abend die Faszination
der schiitischen Klage- und Trauergemeinde besonders intensiv? Warum entsinne ich mich plötzlich in
aller Deutlichkeit der Hafenstadt Khorramshahr am Schatt-el-Arab, die von den Irakern nach kurzfristiger
Eroberung plattgewalzt worden war. »Ya Allah« - stand dort auf einer Banderole, die den Mihrab einer
zerschossenen Moschee verdeckte: »Oh Allah, erhalte uns Ruhollah Khomeini bis zur Revolution des
Imam Mehdi - hatta el thaura el Imam el Mehdi!« Nicht als Erlöser, sondern als Revolutionär wird der
Zwölfte Imam seine Parusie vollziehen.
Saad Darwish schätzt den schiitischen Bevölkerungsanteil von Bagdad auf fünfzig Prozent. Er
zeigt mir auch das Mausoleum des Scheikh Abu Hanifa, des Gründers der weit verbreiteten hanefitischen
Rechtsschule oder »Madhhab« der Sunniten. Doch diese Gedenkstätte wird kaum besucht. Ich frage den
Rektor der Mustansiriyeh-Universität nach dem mittelalterlichen Mystiker El Halladsch, der zur Zeit der
Abbassiden gekreuzigt und in Stücke gerissen wurde, weil er mit blasphemischer Arroganz behauptet
hatte: »Ana el haq - ich bin die Wahrheit«. Riad-el-Dabagh äußert seine Verwunderung. »Ich weiß, daß
dieser Exzentriker im Westen, vor allem bei den deutschen Orientalisten, eine erstaunliche Bewunderung
genießt, fast zur Kultfigur der deutschen Sufi geworden ist. Hier in Bagdad spielt er keine Rolle, hat sie
auch nie gespielt. Das Volk hat sogar seinen Namen vergessene Ähnlich verhalte es sich ja mit anderen
muslimischen Mystikern, Gründern von Derwisch-Orden oder »Tariqat«, die im Abendland aufgrund
ihrer Beteuerungen der kosmischen Liebe, der »Mahabba«, in pantheistisch anmutender Abweichung
vom Koran als Repräsentanten eines alles verzeihenden, alles erduldenden »Herz-Jesu-Islam« stilisiert
würden. Dabei hatten die Bedeutendsten unter ihnen doch nur die »Ruhe in Gott« gesucht, um dann »auf
dem Wege Allahs« um so wackerer streiten zu können. »Nur Narren können den Quietismus dieser
islamischen Vordenker mit Pazifismus gleichsetzen«, sagt der Rektor. »Im Gegenteil, die Inspiratoren
dieser religiösen Männerbünde - von den schiitischen Safawiden, den sunnitischen Naqschbandi bis zu
den Senussi der Neuzeit - haben unvermeidlich zum Heiligen Krieg gegen die Ungläubigen aufgerufene
Was konnte die strikte, auf das ungeschaffene Wort Allahs festgelegte Deutung des Koran durch die
Ulama mit der Aussage eines Außenseiters anfangen, der sich anmaßte, die göttliche Wahrheit zu
verkörpern. »Quid est veritas? - Was ist die Wahrheit?« hatte schon der ratlose Pro-Consul Pontius Pilatus
einen angeblichen »Rex ludaeorum« gefragt, der von sich selbst sagte: »Ich bin die Wahrheit und das
Leben.«
Mein wirkliches Eindringen in die geistlichen Abgründe des Orients findet erst am folgenden Tag
statt. Von weit her leuchtet das auf Isfahan verweisende, farbenprächtige Blumenornament einer
wunderschönen Kuppel über dem alten Stadtkern von Bagdad. Sie schwebt über dem Wallfahrtsort des
Scheikh Abd-eI-Qadir-el-Keilani, der im zwölften Jahrhundert am Tigris seine Jünger, seine »Muriden«,
um sich sammelte. Dröhnende Paukenschläge hallen durch die Nacht.
Weißgekleidete, überwiegend männliche Beter strömen von allen Seiten - zu Fuß, in Bussen, in Taxis -zum
Gedächtnisritual. Der Geburtstag des Gründers der Qadiriya-Bruderschaft, eine fast
weltumspannende Tariqat des sunnitischen Islam, wird wie ein Volksfest und - je geheimnisvoller die
Dämmerung sich senkt - als exotisches Mysterienspiel gefeiert. Dieses Mal haben zahlreiche Soldaten der
Republikanischen Garde die Sicherung übernommen. Sie tragen Tarnuniform und ein rotes Barett. Die
Kalaschnikow halten sie schußbereit auf der Hüfte. Gemeinsam mit dem Arzt Darwish dränge ich mich
ins Gewühl, und niemand scheint Notiz von dem Ungläubigen zu nehmen. Es herrscht eine verwirrende,
kollektive Erregung. Mit einem Schlag fühle ich mich in eine irreale Welt versetzt, in eine andere Epoche
der Menschheit. Ekstatischer Rausch bemächtigt sich der jungen bärtigen Männer in schneeweißer
Dischdascha. Viele tragen einen Fez mit Stickereien auf dem Kopf. Auch Kurden - an ihrer Tracht zu
erkennen - sind zahlreich vertreten.
Gleich nach ihrer Ankunft bilden die Beter einen Doppelkreis, dessen Tänzer sich in
entgegengesetzter Richtung bewegen. Die Pauken geben den Rhythmus dieses zunehmend schnellen
Reigens an. Über den Köpfen schwenken die Muriden grüne Fahnen, und aus ihren Kehlen dringt die
unaufhörlich wiederholte Beteuerung: »La illaha illa Allah - es gibt keinen Gott außer Gott!« Diese Übung
des »Dhikr« habe ich in fast identischer Form in ganz anderen Weltgegenden - auch in Schwarzafrika -bereits
erlebt. Doch die eindrucksvollste Begegnung hat vor genau einem Jahr - der Krieg gegen die
Russen war noch im Gange - in Tschetschenien stattgefunden. In den Dörfern rund um Grosny waren die
kaukasischen Krieger zum selben Ritual, zum Klang des gleichen Glaubensbekenntnisses und dröhnender
Trommeln zusammengekommen, hatten den wirbelnden Ring zu Ehren Allahs geschlossen und die grüne
Fahne des Propheten hochgehalten, die zusätzlich mit dem Totem-Tier der Tschetschenen, dem grauen
Wolf, geschmückt war. In der westlichen Berichterstattung ist kaum einem Reporter aufgefallen, daß der
Widerstand der Kaukasier gegen Rußland - wie schon zu Zeiten des Imam Schamil - sich mehr noch aus
dem Geist des Koran als aus dem nationalen Instinkt dieser Bergvölker nährte. Die Geheimbünde, die
Tariqat, die geistlichen Derwisch-Orden, hatten dem Islam erlaubt, die siebzigjährige von den
Kommunisten verordnete Gottlosigkeit zu überleben und nach dem Zerfall des Sowjet-Imperiums
plötzlich wieder präsent zu sein. In der Türkei war die säkulare Islam-Feindlichkeit des Kemalismus auf
den gleichen unterirdischen Widerstand gestoßen. Auch dort fanden die Muriden unmittelbar nach dem
Tod Atatürks zur Religiosität der Väter zurück. Die Tschetschenen gehören mehrheitlich der »Qadiriya«
an, so hatten sie mir versichert. Sie waren Gefolgsleute des Scheikh Abd-eI-Qadir-el-Keilani aus Bagdad,
vor dessen Grab ich nun stehe.
Im Unterschied zu den relativ nüchternen Gebetsübungen im Kaukasus ist hier gleich von Anfang
an eine exaltierte Stimmung aufgekommen. Neben mir geraten mehrere junge Männer in Trance, winden
sich wie Epileptiker, verfallen in krampfartige Zuckungen und werden von ihren Gefährten festgehalten.
»Je weiter die Nacht fortschreitet, desto intensiver wird sich dieser Zustand der Verzückung der feiernden
Qadiri bemächtigen, kommentiert Saad Darwish. Er bedauert, daß er mich aus Zeitgründen nicht zu einer
sakralen Zusammenkunft der »Rifaiya«-Sekte mitnehmen kann. Es fällt schwer, den Rifai, die sich wie
hinduistische Fakire aufführen, den Titel von Muriden, von »Gottsuchern«, zuzuerkennen. Bei den
Gauklern der Rifaiya-Gemeinschaft wird die pseudo-religiöse Halluzination so weit getrieben, daß
frömmelnde Exhibitionisten sich - nach Erreichung des Trance-Zustandes - Messer in den Schädel
rammen, sich von Säbeln durchbohren lassen und Neonröhren schlucken. Diese Beleuchtungskörper, die
angeblich eine besondere Anziehungskraft auf das Marterbedürfnis der Sektierer ausüben, werden wie
Leckerbissen zerkaut.
Die geschilderten Extravaganzen sind durch Photos, Filmaufnahmen und auch durch das Zeugnis des
nüchternen Professors Sommerfeld belegt, der - wie er mir erzählte - einen dieser Tollwütigen an der
Schulter festhielt, während eine stählerne Stange in seinen Brustkorb eindrang.
Die deutschen Sufi-Bewunderer sind sich wohl nicht bewußt, zu welcher Scharlatanerie die
mystische »Weltliebe« ihrer hehren islamischen Vorbilder bei den heutigen Derwischen allzuoft
verkommen ist.
Selbst das touristisch ausgerichtete Spektakel der tanzenden Derwische von Konya hat nur noch wenig
mit der tiefgründigen Meditation des Meisters Dschallal-el-Din-el-Rumi zu tun. Wer ist schon zugegen,
wenn die Drehübungen dieser »Mönche« sich - fern von fremden Blicken - zum unerträglichen Delirium
steigern? Die nüchternen »Fundamentalisten« wollen mit diesen obskurantistischen
Degenerationserscheinungen des Glaubens aufräumen und zur koranischen Reinheit zurückführen. Da ist
das individuelle »Ruhen in Gott« nur im engen Rahmen der anerkannten Offenbarung erlaubt. Der
»Idschtihad« wird auf die Interpretation des Koran und des »Hadith« begrenzt. »Alles steht im Koran«, so
lautet die Losung, und das Treiben der Sufi gerät - wie zu Zeiten des Ibn Taimiya - in den Verdacht der
sträflichen Glaubensabweichung.
Vermutlich ist diese rigorose Verwertung des »Tariqa-Wesens« durch die Fundamentalisten und
Integristen ein entscheidender Grund für die erstaunliche Toleranz, die Saddam Hussein und so manch
anderes Staatsoberhaupt des Dar-ul-Islam - ich denke dabei insbesondere an Islam Karimow in
Usbekistan - den Aktivitäten der Derwisch-Bünde entgegenbringen. Mit Hilfe dieser volksverbundenen
Wirrköpfe möchte der Rais von Bagdad das Hochkommen jener unerbittlichen Rigoristen verhindern oder
zumindest hinauszögern, in deren Idealstaat kein Platz mehr wäre für sein säkulares Baath-Regime und für
die religionsfremde Willkür seiner Machtausübung.
Am Rande vermerkt sei die Tatsache, daß israelische Propagandisten, wenn sie in gezielten
Filmproduktionen die religiösen Eiferer von Hamas diskreditieren wollen, mit Vorliebe auf die
Gruselbilder rasender »Pseudo-Fakire« zurückgreifen. Dabei unterstellen sie, daß solche Exzesse bei den
koranischen Erneuerungsbewegungen gang und gäbe seien. Das Gegenteil ist der Fall. Für den
Spezialisten eröffnet sich hier ein interessantes Beobachtungsfeld: Wie wird es den islamischen Puristen,
den Anhängern der »Salafiya«, die in den streng koranischen Bewegungen Palästinas, Algeriens,
Ägyptens, Afghanistans, Palästinas und der Türkei den Ton angeben, am Ende gelingen, mit den
altehrwürdigen Erscheinungsformen des Volks-Islam - ich denke hierbei nicht an dessen groteske
Auswüchse - fertig zu werden? Wie wollen sie die weitverzweigten Männerbünde der Tariqat integrieren
und auf ihre religiöse Linie bringen? Dieses Problem wird sich zumal in den jungen islamischen
Republiken der einstigen Sowjetunion stellen.
Mit dem Namen des hochverehrten Scheikh Abd-el-Qadir-el-Keilani verbindet sich die
Erinnerung an eine kuriose Episode des Zweiten Weltkrieges. Ein direkter Nachfahre dieses heiligen
Mannes, Raschid-el-Keilani, hatte sich als arabischer Nationalist und Gegner der britischen Mandatsmacht
auf die Seite Groß-Deutschlands geschlagen. Er war der ideologische Inspirator jener Militärrevolte, die im
Frühjahr 1941 vorübergehend die Macht in Bagdad an sich riß und ein Bündnis mit den Achsenmächten
einging. Diese antibritische Erhebung fügte sich in den paranoid anmutenden Eroberungsplan Hitlers ein,
der über Ägypten und die Levante einerseits, den Kaukasus andererseits seine Armeen so weit nach Asien
vertreiben wollte, bis sie sich in Indien mit den japanischen Soldaten des Tenno treffen würden. In einer
ersten Phase ließ sich dieses grandiose Projekt sogar recht günstig an: Im französischen Mandatsgebiet
Syrien und Libanon behauptete sich der Vichy und Pétain ergebene General Dentz gegen eine Minderheit
von Gaullisten. In Ägypten stand Erwin Rommel mit seinem Afrikakorps bei El Alamein vor den Toren
Kairos. Im Kaukasus hatten deutsche Gebirgsjäger die Reichskriegsflagge auf dem Elbrus gehißt und
drängten zum Kaspischen Meer.
Doch der britische Löwe kannte sich aus im Wüstensand Arabiens. Einige Regimenter des
Empire, unterstützt durch einen Trupp »Freier Franzosen« und israelische Haganah-Kämpfer - darunter
Moshe Dayan, der dabei ein Auge verlor -, zwangen General Dentz in Damaskus zur Kapitulation. Gegen
den Iraker Raschid-el-Keilani wurde die »Arabische Legion« des Emirats Transjordanien unter dem
Befehl des Engländers Glubb Pascha in Bewegung gesetzt. Diese vorzüglich gedrillte Beduinen-Einheit
setzte dem Treiben der arabischen Nationalisten am Tigris ein jähes Ende und hob dort die pro-britische
Dynastie der Haschemiten wieder in den Sattel. Vor den »Glubb-Girls«, wie man sie ihrer malerischen
Tracht wegen nannte, mußte Raschid-el-Keilani über die Türkei nach Berlin flüchten. Nach dem Krieg ist
er in seine Heimat zurückgekehrt und als angesehener Patriot gestorben.
US-Protektorat Kuweit
Kuweit, im Februar 1997
Die irakischen Behörden konnten aus meinem Paß ersehen, daß ich im Februar 1997 das Scheikhtum
Kuweit aufgesucht hatte. Aber niemand hat mir eine Frage gestellt nach den aktuellen Zuständen in
diesem Nachbarland, das vorübergehend als neunzehnte Provinz des Irak annektiert worden war.
Niemand schien sich für die artifizielle Staatskonstruktion zu interessieren, die eine so disproportionierte
internationale Bedeutung gewonnen hatte.
Aus dieser jüngsten Erfahrung fällt mein Urteil über Kuweit noch negativer aus, als es vor dem
Golfkrieg ohnehin schon war. Für die Erhaltung des Mini-Gebildes am nördlichen Ende des Persischen
Meerbusens, das von Anfang an auf Lug und Trug gebaut war, ist die halbe Welt in die Bresche
gesprungen. Gewiß, der irakische Überfall auf das Scheikhtum hatte dem Westen kaum Alternativen
gelassen. Doch an dem gigantischen Einsatz der Operation »Desert Storm« gemessen, war das Ergebnis
zutiefst deprimierend. Alles erschien nunmehr doppelt hohl und gekünstelt. Das prätentiöse Gehabe der
einheimischen Ã-l-Barone, die sich als Beduinen kostümierten wie auf einem Faschingsball, kontrastierte
mit der Unterwürfigkeit ihrer Fronarbeiter aus Indien und Südostasien, die drei Viertel der Bevölkerung
ausmachten. Als Wüsten-Nomaden waren die Vorfahren des heutigen Herrscherhauses El Sabah einst aus
der Einöde des Nedschd gekommen. Damals war die »Piratenküste« nur wegen ihrer barbarischen
Rückständigkeit und ihrer Perlenfischerei bekannt. Diese Eroberer aus dem Nichts waren im
Handumdrehen zu Marionetten Großbritanniens, dann zu Handlangern der USA geworden. Ihren
unermeßlichen Petroleum-Reichtum hätten die Kuweiti ohne die Ankunft amerikanischer Prospektoren
überhaupt nicht wahrgenommen. Jetzt saßen diese Usurpatoren in ihren vergoldeten Prunksesseln - Stil-Epoche
»Louis XV.« - wie fette, kastrierte Kater auf ihren riesigen Vermögen.
Ohne die wallende Dischdascha, die goldgerandete Abayah und das weiße, feierliche Kopftuch würde
man sie auf den ersten Blick als Hinterhof-Bazari entlarven.
Es lohnt sich kaum, die seltenen Gespräche wiederzugeben, die ich mit diesen opportunistischen
Nutznießern des »Schwarzen Goldes« führen konnte. »Die USA sind allmächtige, tönte es da, »Präsident
Clinton wird den Friedensprozeß in Palästina schon erzwingen. Die US Navy beherrscht den Golf, und
dagegen hat niemand eine Chance.« Die Kontakte zu Kaufleuten aus der schiitischen Minderheit - sie
macht ungefähr dreißig Prozent der Staatsangehörigen mit kuweitischem Paß aus - waren etwas
aufschlußreicher. »Ob Saddam Hussein stürzt oder nicht«, wurde mir da anvertraut, »die Baath-Partei
wird in Bagdad an der Macht bleiben und mit den gleichen Methoden weiterregieren. « - »Die Amerikaner
werden das Embargo gegen den Irak sofort aufheben, wenn ihnen Saddam Hussein die volle Nutzung
seiner Energie-Vorkommen zusichert, ihnen den größten Anteil am Kuchen läßt.« Eine solche Perspektive
beunruhigte den Herrscher Salehel-Jaber-el-Sabah und dessen Familien-Clan, denn das Zweistromland
besitzt mit 112 Milliarden Barrel Rohöl die bislang zweitgrößten Petroleum-Reserven der Welt, und in den
vergangenen Jahren hatten die Feinde Bagdads das irakische OPEC-Kontingent, das durch das Embargo
blockiert war, lukrativ untereinander aufgeteilt. Am Rande erfuhr ich, daß - bis zur UN-Resolution 986, die
den Rahmen für das Abkommen »Oil for food« festlegte - ausschließlich das Königreich Jordanien über
eine von den Vereinten Nationen genehmigte Importquote irakischen Ã-ls verfügte und diese Lizenz
benutzte, Schwarzmarkt-Lieferungen von täglich 20000 Barrel preisgünstig an Israel zu verhökern.
Ich neige nicht zu tugendhafter Entrüstung. Dafür habe ich in allzu vielen Ländern allzu
Schändliches beobachtet und erlebt. Aber der Gedanke, daß das Scheikhtum Kuweit nunmehr die »Neue
Ordnung« für den Mittleren Osten verkörpern, gewissermaßen als Leuchtturm der Pax Americana
herhalten soll, wirkt unerträglich. Für diese Schmarotzer amerikanischer Macht lohnte es sich wahrhaftig
nicht, die Knochen eines einzigen pommerschen, kalifornischen oder bretonischen Grenadiers zu
riskieren. Für die Streitkräfte Kuweits, für Armee und Nationalgarde, waren - wie in den anderen Emiraten
der Piratenküste - ausländische Söldner, überwiegend Pakistani, angeworben worden. Der Kampfwert der
Truppe ist extrem niedrig, obwohl sie von der US-Rüstungsindustrie mit modernstem und teuerstem
Kriegsmaterial überschüttet wird. Wehe, wenn der kleine Schützling ausnahmsweise ein paar Haubitzen
bei der Volksrepublik China bestellt mit dem Hinweis, Peking habe sich während des Golfkrieges im
Weltsicherheitsrat doch sehr kooperativ verhalten. Der Zorn des US Congress pocht dann unerbittlich an
die Pforten der El Sabah-Paläste.
Es wäre müßig, die scheindemokratische Fassade des Emirats auf irgendeinen Wirklichkeitswert
abzuklopfen. Gelegentlich wird in den bestechlichen Presse-Erzeugnissen Kuweits über die Einführung
der koranischen Rechtsprechung diskutiert. In Wahrheit geben die Stammesstrukturen, die Clan- und
Familienbande weiterhin den Ausschlag. Amerikanische Waffen werden in den Wüstendepots in Hülle
und Fülle gelagert, um den Marines und Luftlandetruppen eine sofortige Interventions-Entfaltung im
nördlichen und östlichen Grenzstreifen zu erlauben.
Schon am zweiten Tag habe ich ein komfortables Auto gemietet. In Begleitung eines
dunkelhäutigen Tamilen-Chauffeurs aus Sri-Lanka habe ich das Schlachtfeld von 1991, den verlustreichen
Rückzugsweg der irakischen Divisionen besichtigt. Die gläsernen Hochhäuser, die künstlichen
Grünanlagen und Shopping Malls von Kuweit-City lagen bald hinter uns. Die wahre Landschaft nahm uns
auf, eine schmutziggelbe Wüste. Hier und dort wuchs graues Gestrüpp, dann drängten sich große Herden
schwarzer Kamele an das kümmerliche Futter.
Noch nie war mir die saurierähnliche Form des Dromedar-Kopfes so deutlich aufgefallen. Vor einem
Kraftwerk mit vier gigantischen Kühltürmen kauerten Beduinenzelte in der Ã-de. Daneben parkten
fahrbare Wasserbehälter, ohne die die Nomaden von heute nicht mehr auskommen. Rundum waren
Plastiktüten und leere Konservenbüchsen verstreut. Das perfektionierte Sicherheitssystem eines
umfangreichen Compounds signalisierte die Präsenz einer amerikanischen Armee-Einheit. Darüber
schwebte zu Beobachtungszwecken ein knallroter Fesselballon.
Je weiter wir uns nach Norden bewegten, desto einsamer und düsterer dehnte sich die Sandfläche.
Es war ein nebliger Tag. Am Horizont ballten sich Wolken wie Atompilze. Der sympathische, höfliche
Tamile machte mich auf eine langgestreckte Hügelkette, die »Mutla-Ridge«, aufmerksam, der wir
nunmehr folgten. »Hier lagen nach dem Krieg Tausende irakischer Fahrzeuge und Panzer im Sand. An
dieser Stelle haben die Iraker auf ihrer heillosen Flucht die schwersten Verluste erlitten.« Das zerstörte
Material ist abgeräumt worden. Keinerlei Waffenschrott war mehr zu entdecken. Nur ein paar
Stacheldrahtverhaue mit roten Dreieck-Schildern warnten vor Minen.
Zur Rechten dehnte sich die zementgraue Wassermasse des Golfs. Ich hatte als Reiseziel die Insel
Bubiyan angegeben. Eine weitgeschwungene, kilometerlange Brücke setzte zu diesem flachen Eiland über.
Der Boden dort soll mit Petroleum getränkt sein. Der Territorialstreit zwischen Bagdad und Kuweit ist in
diesem Winkel noch keineswegs beigelegt. Die Brücke war an zwei Stellen gesprengt. Am Ufer verfaulte
das Wrack eines muschelverkrusteten Fischerbootes. Eine arabische Inschrift untersagte die Annäherung.
Ein paar zerbombte Betonhütten hatten Squatter angezogen: Beduinen, die sich an einem fahrbaren
Verkaufsstand mit billigen Gebrauchswaren eindeckten, und Fremdarbeiter aus der nahen Industriezone.
Letztere stammten mehrheitlich aus Bangladesch. Mein Chauffeur unterhielt sich kurz mit ihnen. »Wir
haben uns auf Hindi verständigte, beantwortete er meine Frage.
Wir bogen nach Norden ab, in Richtung irakische Grenze. Die Beklemmung unter dem schweflig
gelben Himmel nahm noch zu. Ein kalter Wind war aufgekommen. Die Asphalt-Piste nach Umm-el-Qasr,
dem irakischen Hafen am Eingang des Schatt-el-Arab, wurde nachlässig von Blauhelmen der
Waffenstillstands-Organisation UNIKOM überwacht. »United Nations Kuwait Observation Mission«,
heißt das im Klartext. Die Soldaten stammten aus aller Herren Länder. Für die Staaten der Dritten Welt ist
die Truppen-Entsendung im Dienst der Vereinten Nationen ein einträgliches Geschäft. Der weitaus
größere Teil des stattlichen Wehrsoldes wird von den Heimatbehörden einbehalten, aber für die
Muschkoten aus diesen meist bettelarmen Gegenden lohnt sich der langweilige Dienst immer noch, zumal
der Schwarzhandel blüht. Sie kampierten unter weißen Zelten. Viele Stellungen waren verlassen und zur
Hälfte vom Wüstensand bedeckt. Ganz in der Ferne konnte ich mit dem Feldstecher ein paar Gerüste,
einen Sendemast, die Ladekräne des irakischen Hafens Umm-eI-Qasr entdecken. So nah war das Reich
Saddam Husseins. Während des ersten Golfkrieges war Umm-el-Qasr vorübergehend von den persischen
Pasdaran erobert worden. Sie wichen erst zurück, als sie im Giftgas der Iraker zu ersticken drohten. Der
Tamile gab mir zu verstehen, daß er nicht weiterfahren durfte.
Wie gern hätte ich diesen Ausflug fortgesetzt. Nur eine relativ kurze Entfernung trennte uns ja von
dem immer noch eindrucksvollen »Ziggurat« und den Königsgräbern, die letzte Kunde von dem uralten
Herrschaftssitz Ur in Chaldäa geben. In diesem Raum war der Patriarch Abraham geboren worden, den
die Muslime als »Hanif« verehren. Hier wurde dem Erzvater die erste Offenbarung zuteil von der Existenz
des einzigen Gottes, der keine Götzen neben sich duldet, eines himmlischen Alleinherrschers und
Erbarmers, der weder ergründet noch dargestellt werden darf. Dieser Durchbruch zum Monotheismus war
eine Schicksalsstunde in der Geistesgeschichte der frühen Menschheit, die bislang in Verehrung und
Furcht vor einem Pandämonium tierähnlicher Idole, blutgieriger Monster oder ausschweifender
Fruchtbarkeitssymbole dahindämmerte. Eine solche Erleuchtung konnte wohl nur in der asketischen
Einsamkeit der Wüste und ihrer mineralischen Unendlichkeit aufkommen.
Ich warf noch einen Blick auf die Insel Bubiyan, auf die Traurigkeit dieses »letzten Ufers« an
einem Meer, das zu Blei erstarrt schien. Die blaue UNO-Fahne und die grün-weiß-rote Trikolore Kuweits
mit dem schwarzen Dreieck bildeten die einzigen Farbtupfer. An den zerschossenen Häuserwänden von
El Mutla entzifferte ich mühsam ein paar Inschriften. Sie waren politisch bedeutungslos, priesen die Größe
Allahs und seines Propheten. Dabei kam mir eine Episode aus dem Herbst 1956 in den Sinn. Der kurze
Offensiv-Krieg der Engländer, Franzosen und Israeli am Suez-Kanal war noch im Gange; die Alliierten
rückten auf Ismailia vor und der ägyptische Widerstand brach zusammen. Da hatten die pan-arabischen
Nationalisten, unentwegte Parteigänger Gamal Abdel Nassers im Libanon, eine trotzige Parole an die
Mauern von Saida, Tyros und Tripoli gepinselt: »La tantahi ma'rakat el qanat - der Krieg um den Kanal ist
noch nicht zu Ende.« Wenige Tage später sollten sie recht behalten. Die Invasions-Truppen der Entente-Mächte
und Israels wurden durch massive Drohungen Washingtons und Moskaus zum Rückzug
gezwungen. Am liebsten wäre ich am tristen Meeresstrand von Kuweit aus dem Auto gestiegen und hätte
in großen Lettern eine ähnlich lautende Mahnung in den Sand gemalt: »La tantahi ma'rakat el khalidsch -der
Krieg um den Golf ist noch nicht zu Ende.«

gesamter Thread: