- Die Wissenschaftsmafia - chiron, 19.06.2003, 08:48
- Stimmt meines Erachtens nicht fuer die Mathematik.... (owT) - Pudelbirne, 19.06.2003, 09:06
- weil sie wertfrei ist und das Maß aller Dinge darstellt: Mathematik = Gott (owT) - Praxedis, 19.06.2003, 09:21
- Der Wissenschaftler als Betrüger - HB, 19.06.2003, 09:36
- Re: Der Wissenschaftler als Betrüger - Jagg, 19.06.2003, 10:22
- Re: Der Wissenschaftler als Betrüger - Harry Popper, 19.06.2003, 10:58
- Re: Der Wissenschaftler als Betrüger - Jagg, 19.06.2003, 10:22
- Der Wissenschaftler als Betrüger - HB, 19.06.2003, 09:36
- weil sie wertfrei ist und das Maß aller Dinge darstellt: Mathematik = Gott (owT) - Praxedis, 19.06.2003, 09:21
- Re: Die Wissenschaftsmafia - sensortimecom, 19.06.2003, 09:17
- Re: Die Wissenschaftsmafia - Hirscherl, 19.06.2003, 10:41
- Worauf baut unsere heutige Wissenschaft auf? - Stephan, 19.06.2003, 12:43
- Re: Worauf baut unsere heutige Wissenschaft auf? - sensortimecom, 20.06.2003, 08:40
- Stimmt meines Erachtens nicht fuer die Mathematik.... (owT) - Pudelbirne, 19.06.2003, 09:06
Der Wissenschaftler als Betrüger
-->Federico di Trocchi schreibt dazu in"Der große Schwindel - Betrug und Fälschung in der Wissenschaft":
-------------------------------------------------------------------------------
Der Wissenschaftler als Betrüger
Im Mittelpunkt der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Be-
trügereien steht natürlich die Frage nach dem Motiv. Was verlei-
tet einen Wissenschaftler zum Betrug, welche Beweggründe
treiben ihn dazu, gegen Gesetz und Berufsethos zu verstoßen?
Am interessantesten sind dabei zweifellos diejenigen Motive,
die mit dem System der Wissenschaft selbst im Zusammenhang
stehen. Sie ermöglichen es, die Wissenschaft aus einem ganz be-
sonderen Blickwinkel zu betrachten, gewissermaßen durch die
Fälschung neue Aufschlüsse über das Original zu erhalten. Zu
erklären, warum Wissenschaftler betrügen, macht es jedoch er-
forderlich, ein Kriterium zu finden, das es erlaubt, den wahren
Wissenschaftler vom Betrüger zu unterscheiden. Dies setzt al-
lerdings voraus, daß wir über Kriterien für die Unterscheidung
einer wahren Theorie von einer falschen Theorie verfügen, und
das tun wir nicht. Natürlich liefert auch die Analyse der Motive,
die einen Wissenschaftler zum Betrug treiben, kein solches Kri-
terium, doch trägt sie mit Sicherheit dazu bei, Aufschluß über
die innere Dynamik des wissenschaftlichen Unternehmens zu
erhalten.
Bevor wir fortfahren, ist es jedoch nötig, zwei mögliche Miß-
verständnisse aus dem Weg zu räumen. Bei der Frage, warum
Wissenschaftler betrügen, ist es zunächst einmal geraten, nur
tatsächliche, als solche eindeutig ausgewiesene Wissenschaftler
in Betracht zu ziehen und die gewaltige Masse der Dilettanten
zu vernachlässigen, deren «Ruhmestaten» das Bild komplizie-
ren und uns zu falschen Schlüssen verleiten könnten. Aus die-
sem Grund ist es nicht sehr hilfreich, sich mit Wissenschaftsbe-
trügern wie etwa jenem Elias Bessler zu beschäftigen, der 1717
das erste Perpetuum mobile konstruierte und damit in ganz
Europa Aufsehen erregte. Besslers Maschine begeisterte auch
berühmte Mathematiker und Physiker wie Willem Jacobus
's Gravesande, einen der größten Wissenschaftler der Epoche,
der sich auch gleich beeilte, die Nachricht Newton zu übermit-
teln. Auch dieser Betrug (die Maschine wurde in Wirklichkeit
von Besslers Kammerzofe in Bewegung gehalten) könnte nütz-
liche Hinweise auf die Struktur der Wissenschaft in einer Epo-
che geben, als deren Glaubwürdigkeit von der genauen Kennt-
nis der physikalischen Theorien der Zeit abzuhängen begann.
Mindestens ebenso interessant ist die Arbeit der Fälscher und
Betrüger der Renaissance, die eitle Botanikprofessoren hinters
Licht führten, indem sie ihnen Zähne von Narwalen als Hörner
von Einhörnern oder Fabeltieren verkauften oder künstliche
Tiere aus Teilen von Reptilien, Kröten und Fischen zusammen-
setzten. Diese Fälle würden uns jedoch von dem eigentlichen
Problem des Wissenschaffsbetrugs wegführen.
In gewisser Weise trifft dies auch auf den Typus des wissen-
schaftlichen Betrugs zu, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg,
etwa ab den 50er Jahren, verbreitet hat und dessen Protagonist
der Typ von Wissenschaftler ist, den der «ehrliche Jim» verkör-
pert. Damit läßt man zweifellos den Großteil der wissenschaft-
lichen Betrügereien, vor allem aber die jüngsten, außer acht.
Dies ist jedoch gerechtfertigt, weil diese Betrügereien, wie wir
gesehen haben, heute mit der sozioökonomischen Struktur der
Wissenschaft zu tun haben und nicht mit ihrer internen Logik.
Die Wissenschaftler, die heute betrügen, sind diejenigen, die wir
als «Söldner der Wissenschaft» bezeichnet haben. Ihre Beweg-
gründe sind weder ehrenwert noch interessant. Auch wenn ihre
Betrügereien denen der Vergangenheit scheinbar bis zum Ver-
wechseln ähneln, unterscheiden sie sich von ihnen doch in einer
wesentlichen Hinsicht: Heute treibt einen Wissenschaftler
hauptsächlich das Eigeninteresse zum Betrug, während früher
Eigeninteresse und persönliches Prestige erst nach der Wissen-
schaft kamen. Breuning etwa beging den gleichen Typ von Be-
trug wie Galilei: Er behauptete, Experimente durchgeführt zu
haben, die er in Wirklichkeit nie gemacht hatte, und auch die
Theorie, die er mit seine wertlosen Experimenten stützen
wollte, hätte ebenso wahr sein können wie diejenige, die Galilei
auf seine nicht durchgeführten Experimente gründete. Aber
während Galilei betrog, um eine Theorie zu bestätigen und zu
verbreiten, von der er meinte, daß sie wahr und wichtig für den
wissenschaftlichen Fortschritt sei, betrog Breuning, um vor den
Augen der Kontrollbehörde die Zuweisung von Finanzmitteln
zu rechtfertigen. Galilei beging seinen Betrug im Interesse des
Fortschritts, Breuning dagegen betrog seines persönlichen Vor-
teils wegen, und gerade deshalb konnte man seinen Betrug wie
irgendeinen anderen Wissenschaftsbetrug verfolgen.
Die Betrugsfälle von heute sind nur insoweit von Interesse, als
sie auf das ökonomische System verweisen, das um die Wissen-
schaft herum existiert. Abgesehen von diesen ökonomischen
Faktoren, sagen sie jedoch nichts über die Motive, die Wissen-
schaftler zum Betrug treiben können, und noch weniger dar-
über, welchen Gesetzen die Wissenschaft als intellektuelles
Unternehmen folgt. Um auf diese Fragen eine Antwort zu erhal-
ten, ist es aufschlußreicher, die Betrugsfälle vor 1950 zu untersu-
chen, als die Mechanismen der gegenwärtig vorherrschenden
Forschungsfinanzierung noch nicht ihre Schattenseiten offen-
bart hatten. Doch auch hier wäre es verfehlt, alle Fälschungen
für gleich wichtig zu halten. Es lassen sich nämlich noch zwei
weitere Arten des Betrugs unterscheiden, deren Motive recht of-
fensichtlich sind: der Betrug als Scherz und der Betrug als Ruf-
Schädigung. So ist beispielsweise klar, daß es das Ziel des Betrugs
von Piltdown gewesen sein muß, entweder der Evolutionstheo-
rie im allgemeinen oder aber einem ihrer Verfechter Schaden
zuzufügen - wer immer sein Urheber gewesen sein mag. In bei-
den Fällen ging es dem Betrüger jedoch nicht unbedingt um den
wissenschaftlichen Fortschritt.
Damit verengt sich das Feld der interessanten Betrugsfälle in
der Wissenschaft, von deren Untersuchung wir uns eine wich-
tige und bedeutsame Antwort auf die Frage erhoffen können,
warum Wissenschaftler betrügen, erheblich. Übrig bleiben
schließlich nur die großen Persönlichkeiten der Wissenschafts-
geschichte wie Ptolemäus, Galilei, Newton und Einstein.
Könnte es vielleicht sein, daß die Genies und Nobelpreisträger
die einzigen wahren Betrüger und Fälscher der Wissenschaft
sind? Auch wenn das paradox klingen mag, würde ich diese
Frage bejahen. Das heißt aber: Wenn die wahren Betrüger die
größten Wissenschaftler der Menschheitsgeschichte sind und
sie ihre Betrügereien im Namen der Wissenschaft begangen ha-
ben, so waren sie gewissermaßen auf den Betrug angewiesen;
nur auf diese Weise konnten sie die Welt von der Wahrheit ihrer
Theorien und Entdeckungen überzeugen.
Die Situation des Wissenschaftlers wäre demnach dadurch
gekennzeichnet, daß er Theorien in bezug auf die «Tiefenwirk-
lichkeit» einiger Aspekte der Welt und der Natur aufstellt und
versucht, uns von der Wahrheit dieser Theorien zu überzeugen,
indem er Experimente anstellt, die diese Wahrheit «sichtbar»
machen.
Doch wissen die Wissenschaftler zumindest seit dem Jahr
1934, daß es ihnen unmöglich ist, letztgültig die Wahrheit ir-
gendeiner ihrer Theorien über die tiefere Wirklichkeit der Welt
zu beweisen. Es war der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper,
der damals eine Überzeugung widerlegte, die wahrscheinlich so
alt ist wie die Menschheit selbst. Dieser Überzeugung zufolge ist
es immer möglich, den Beweis zu erbringen, daß etwas wahr
oder falsch ist. Popper zeigte jedoch, daß immer nur der Beweis
dafür möglich ist, daß etwas falsch ist, während es sich nie letzt-
gültig beweisen läßt, daß etwas wahr ist. Dies bedeutet, daß alle
wissenschaftlichen Theorien, die wir für wahr halten, nicht des-
halb als wahr betrachtet werden können, weil ihre Wahrheit
wirklich bewiesen worden ist, sondern nur, weil es den Wissen-
schaftlern, die sie formuliert haben, gelungen ist, ihren Kollegen
und uns glaubhaft zu machen, daß sie wahr seien. Normaler-
weise schließt das die Verwendung mehr oder weniger schwer-
wiegender Fälschungen und Tricks mit ein, die jedoch nicht als
solche erkannt werden oder wenn, dann erst nach langer Zeit.
Letztendlich betrügen die Wissenschaftler also im Namen der
Wahrheit, weil sie nicht in der Lage sind, die Wahrheit zu bewei-
sen.
Dies scheint jedoch nahezulegen, daß es keine Wahrheit gibt,
was wiederum zu dem Schluß führt, daß es unmöglich ist, eine
wahre Theorie oder Entdeckung von einer falschen Theorie
oder Entdeckung zu unterscheiden oder festzustellen, ob ein
Wissenschaftler ein Genie oder ein Scharlatan ist. Glücklicher-
weise verhält es sich anders. Wenn es sich heute als unmöglich
erweist, ein eindeutiges Kriterium für die Unterscheidung einer
wahren von einer falschen Theorie zu finden, so ist es dennoch
möglich, zwar empirische, aber doch wirksame Kriterien anzu-
wenden, die man aus einem der fundamentalen (wenn auch
heute vieldiskutierten) Elemente wissenschaftlicher Tätigkeit
gewinnen kann: der Methode. Man könnte sogar versucht sein,
die Methode selbst als ideales Kriterium zu betrachten, wahre
Theorien und Wissenschaftler von falschen Theorien und Be-
trügern zu unterscheiden. Nach allgemeiner Auffassung hingen
die großen Erfolge der modernen Wissenschaft mit der deduk-
tiven Methode zusammen, die zuerst von Galilei entwickelt und
angewandt und später mit verschiedenen Modifikationen von
sämtlichen Wissenschaftlern nach ihm übernommen wurde.
Diese Methode bestand in dem kombinierten und umsichtigen
Einsatz von Beobachtung, Logik, Mathematik und Experiment.
Zuerst einmal muß ein Wissenschaftler Galilei zufolge das Phä-
nomen, das er erklären will, genau beobachten. Da es unmög-
lich ist, sich gleichzeitig mit allen beobachteten Eigenschaften
eines Untersuchungsgegenstandes zu befassen, muß man sich
auf seine wesentlichen Aspekte beschränken, die dann mög-
lichst genau zu messen sind. Nach der Analyse der wesentlichen
mathematischen Relationen erarbeitet man eine Hypothese, aus
der sich eine Reihe von Schlußfolgerungen ziehen läßt. Diese
können dann der experimentellen Prüfung unterzogen werden,
um festzustellen, ob sie von der Wirklichkeit bestätigt werden
oder nicht. Am Ende hat man dann die Hypothese entweder ve-
rifiziert oder falsifiziert.
Diese Methode unterscheidet sich erheblich von der Me-
thode, die Descartes zur gleichen Zeit entwickelte, und in gerin-
gerem Maße auch von der Methode Newtons, mit der sie sich
aber doch im wesentlichen deckt. Jedenfalls wurde diese Me-
thode von den nachfolgenden Wissenschaftlern als die geeignet-
ste Forschungsstrategie übernommen. Das heißt natürlich
nicht, daß sich alle großen Leistungen der Wissenschaft der letz-
ten Jahrhunderte der Anwendung dieser Methode verdanken.
Eine eindeutige und von allen akzeptierte Methode, die mit
einer Reihe von Vorschriften und methodologischen Regeln alle
Eventualitäten abgedeckt hätte, mit denen ein Wissenschaftler
im Verlauf seiner Forschungsarbeit konfrontiert sein kann, ist
nie formuliert worden. Was sich in der wissenschaftlichen Pra-
xis durchgesetzt hat, sind eher der Geist und die allgemeine
Grundhaltung wissenschaftlicher Arbeit, ohne daß dabei je-
doch feste Regeln gelten würden. Es ist deshalb schwierig, wenn
nicht gar unmöglich, festzustellen, ob sich ein Wissenschaftler
in allen Einzelheiten an das gehalten hat, was die experimentelle
Methode vorschreibt. Darüber hinaus hat es sich gezeigt, daß
Wissenschaftler im überwiegenden Teil der Fälle und oft bei den
bedeutendsten Theorien und Entdeckungen auch dem Geist
des methodischen Vorgehens, dem sie angeblich verpflichtet
waren, zuwiderhandelten. «Hätte sich Galilei», so bemerkt
Marcello Pera, «an die methodologischen Regeln seiner Zeit ge-
halten, hätte es keine moderne Wissenschaft gegeben. Wäre
Darwin tatsächlich den Vorschriften Bacons gefolgt, die zu sei-
ner Zeit als vorbildlich galten, dann glaubten wir immer noch
an die Bibel. Hätte Einstein nicht je nach Bedarf den Kanon der
empirischen Methodologie verraten, gäbe es heute keine Relati-
vitätstheorie, und die Quantenphysik wäre nie geboren worden,
wenn nicht eine neue Generation von Physikern dem Kanon der
Newtonschen Physik den Krieg erklärt hätte.»
Pera nimmt hier einen Gedanken von Paul Feyerabend auf,
demzufolge die Wissenschaftsgeschichte zeige, «daß es keine
Regel gibt, die nicht bei dieser oder jener Gelegenheit gebrochen
worden ist, ganz gleich, wie plausibel und erkenntnistheoretisch
begründet sie auch sein mag». Feyerabend ist davon überzeugt,
daß diese Regelverletzungen nicht zufällig geschehen, sondern
für den wissenschaftlichen Fortschritt notwendig sind. Seiner
Meinung nach entsteht wissenschaftlicher Fortschritt durch die
Vermischung methodologischer Regeln mit Regelverletzungen,
die er Fehler nennt. Wissenschaft entstünde danach also nicht
so sehr, oder wenigstens nicht nur, aus der Methode, sondern
eher aus der Verletzung der Methode. Deshalb vertritt dieser
Theoretiker des methodologischen Anarchismus die Auffas-
sung, daß es notwendig sei, der Theorie der Methoden eine
Theorie der Fehler an die Seite zu stellen, die lehren soll, wie
methodologische Vorschriften übertreten werden können. «Sie
wird empirische Näherungsregeln, nützliche Anweisungen und
technische Empfehlungen einschließen, aber keine allgemeinen
Gesetze. Außerdem wird sie diese Anweisungen und Empfeh-
lungen mit der Darstellung historischer Fälle verbinden, die
verdeutlichen, wie es einigen Wissenschaftlern gelungen ist, in
bestimmten Situationen zu guten Ergebnissen zu gelangen. Eine
solche Theorie wird es erlauben, die Vorstellungskraft der Wis-
senschaftler anzuregen, ohne ihnen Vorschriften zu machen
und präzise Handlungsanweisungen zu liefern. Es wird eher um
Geschichte im eigentlichen Sinn des Wortes gehen als um eine
Theorie, und sie wird ein gut Teil Klatsch enthalten, dem jeder
entnehmen kann, was er für wichtig hält.»
Die Position, die viele für überzogen und paradox halten, ist
in Wirklichkeit so vernünftig, daß sie sich beinahe von selbst
versteht. Sie gewinnt ihren Sinn aus der Tatsache, daß die Reali-
tät immer komplexer und «phantasievoller» ist, als wir es uns
vorstellen können, und daß es deshalb in der Wissenschaft nicht
so sehr auf eine strenge Methode, sondern eher auf Phantasie
und Kreativität ankommt. Anders gesagt, garantiert die auf-
merksame und gewissenhafte Beachtung aller Regeln der expe-
rimentellen Methode mitnichten interessante Entdeckungen
oder richtige Theorien. Dazu braucht man Intelligenz und
Kreativität, also die Fähigkeit, die Vorschriften der Methode
beiseite lassen zu können. Die wahren Wissenschaftler sind also
keine Sklaven der Methode, sondern sie bedienen sich ihrer
nach Gutdünken und benutzen sie als ein Mittel unter vielen
anderen, um ihre Kollegen von der Stichhaltigkeit ihrer Theo-
rien zu überzeugen. Wenn man so will, kann man die Regelver-
letzung als rhetorisches Hilfsmittel betrachten, wie dies bei-
spielsweise Marcello Pera vorschlägt. Ihm zufolge orientieren
sich die Wissenschaftler nicht an logischen Regeln und einer ri-
goros experimentellen Methode, sie verwenden vielmehr eine
Anzahl von rhetorischen Strategemen, um der Welt ihre eigenen
Ideen aufzuzwingen. Ich persönlich neige dazu, die Verletzun-
gen der Methode, zu denen die Wissenschaftler ständig gezwun-
gen sind, um die Wissenschaft voranzubringen, als Fälschungen
im eigentlichen Sinn des Wortes zu betrachten, und meine so-
gar, daß es sich dabei um den interessantesten Typus von Fäl-
schung handelt.
In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß das
Wort «Methode», das bei Platon und Aristoteles «Forschung»
und «Vorgehensweise bei Untersuchungen» bedeutet, von Plut-
arch im Sinne von «Kunstgriff», «Strategem» oder «Betrug»
benutzt wurde. Schon das Wort selbst enthielt also zumindest
seinem Ursprung nach eine Anspielung auf das Schicksal der
Wissenschaftler, die dazu verurteilt sind, auf dem Weg zur
Wahrheit eine ununterbrochene und unendliche Kette von
Verletzungen der streng rationalen Methode zu begehen.
Wichtiger als die Wahrheit scheinen in der Wissenschaft folg-
lich die Fälschung und der Betrug zu sein. In einem hervor-
ragenden Essay schrieb René Thom, der Begründer der Kata-
strophentheorie, daß «in der Wissenschaft das Falsche häufig
nützlicher als die Wahrheit ist, mit der meistens nur experimen-
tell gewonnene Resultate erreicht werden, die nicht interpretiert
werden können und die sich deshalb zu einem Berg von Daten
anhäufen, die wahrscheinlich keinerlei Nutzen haben». «Ich
habe einmal geschrieben», so Thom weiter, «daß nicht das Fal-
sche, sondern das Bedeutungslose die Grenzen der Wahrheit
bildet. Aber es gibt auch das Falsche, das vom Wahren begrenzt
und umschrieben wird, das Prinzip des Irrtums, das von einem
Lichthof der Wahrheit umgeben ist. Ich wage zu behaupten, daß
diese wahrheitsschaffende Falschheit das Wesen der Wissen-
schaft selbst ausmacht.»
Thom meint also, daß in der Wissenschaft immer das Falsche
das Wahre schafft. Aber was ist dieses wahrheitsschaffende Fal-
sche? Sicherlich sind damit nicht die gewöhnlichen Betrüge-
reien gemeint, wie sie heute dominieren. Dies würde Thom als
«bedeutungslos» klassifizieren, als das, was die Wahrheit be-
grenzt. Wahre wissenschaftliche Theorien werden seiner Mei-
nung nach nicht von falschen wissenschaftlichen Theorien be-
grenzt, sondern von unbedeutenden Theorien, die nichts Inter-
essantes aussagen. Das Falsche dagegen begrenzt das Wahre
nicht, sondern ist ein wesentlicher Teil davon, insofern es das
Wahre hervorbringt. Das «Falsche» sind für Thom natürlich
nicht die kleinen und im Grunde unerheblichen Anpassungen
und Manipulationen, mit denen Wissenschaftler versuchen, die
Wirklichkeit ihren Theorien anzugleichen. Wirklich falsch sind
für Thom vielmehr gerade die großen Theorien, die man gerne
mit diesen kleinen Fälschungen aufrechterhalten und stützen
möchte, also die Theorien der großen Geister der Menschheits-
geschichte (die aber trotzdem noch ein Lichthof der Wahrheit
umgibt und die folglich als wahr angesehen werden): die Me-
chanik Galileis, die Theorie Newtons und die Relativitätstheo-
rie. Sie alle sind für Thom wahre Theorien, die aus dem Fal-
schen hervorgegangen sind, das heißt, sie sind falsch.
Das scheint paradox zu sein, denn offenbar wird hier die Be-
hauptung aufgestellt, daß Theorien wie die Relativitätstheorie
gleichzeitig wahr und falsch sind. In Wirklichkeit verhält es sich
anders. Thom meint vielmehr, daß alle Theorien, die eine ge-
wisse Zeit lang für wahr gehalten werden, aus früheren Theo-
rien entstehen, die als falsch erkannt werden oder wenigstens
von neuen Theorien korrigiert werden. Diese neuen Theorien
werden dann ihrerseits als falsch erkannt und korrigiert. Am
Beginn und am Ende jeder Theorie steht also das Falsche. Das
ist der Grund, warum Thom meint, daß diese Wahrheit schaf-
fende Falschheit das Wesen der Wissenschaft konstituiert. Dies
bedeutet, daß in einem ganz bestimmten Sinn der große Wis-
senschaftler, das Genie, ein Fälscher und Betrüger ist. Was uns
die Wissenschaftler als Wahrheit präsentieren und was wir
manchmal jahrhundertelang als Wahrheit akzeptieren, ist im-
mer nur eine Annäherung an die Realität. Aufgrund einer Reihe
von kulturellen Faktoren und auch aufgrund der Geschicklich-
keit der Wissenschaftler selbst werden diese Fälschungen eine
mehr oder weniger lange Zeit als «Wahrheit» angesehen.
Hier hätten wir also eine erste Antwort auf die Frage, warum
Wissenschaftler betrügen. Sie betrügen, weil es ihre professio-
nelle Pflicht ist, weil sie nur auf diese Weise die Wissenschaft
voranbringen können, die letztendlich nichts anderes als eine
große Illusion ist. Diese Schlußfolgerung, die zu den wichtig-
sten Ergebnissen der Wissenschaftsphilosophie der letzten Jahre
gehört, könnte als Aufforderung zum Skeptizismus verstanden
werden, als Aufforderung, jeden Wert der Forschung und des
wissenschaftlichen Fortschritts zu leugnen. Das wäre jedoch
falsch.
Wir gewinnen nämlich aus dieser Abfolge von falschen Theo-
rien durchaus etwas Handfestes und Konkretes. Physikalische
Theorien können früher oder später falsifiziert und aufgegeben
werden, aber die Flugzeuge, die auf der Grundlage der Aerody-
namik gebaut worden sind, fliegen und erlauben es uns, in we-
nigen Stunden die Strecke zwischen Rom und New York zurück-
zulegen. Die heutigen astrophysikalischen Theorien können
eines Tages korrigiert werden, aber in der Zwischenzeit ist es
möglich, auf ihrer Grundlage Satelliten und Sonden ins All zu
schießen, die, von Zwischenfällen abgesehen, genau das tun, was
man von ihnen erwartet. Bakteriologie und Virologie werden
sich zweifellos in den nächsten Jahren erheblich weiter entwik-
keln, aber in der Zwischenzeit lassen sich mit Antibiotika Infek-
tionskrankheiten heilen, die früher tödlich verlaufen wären.
Wissenschaftliche Theorien können und werden sich also ei-
nes Tages als falsch erweisen, doch ihre technologischen Aus-
wirkungen sind unbestreitbare Fakten - was allerdings nicht
heißt, daß diese immer und notwendigerweise positiv sein müs-
sen. Wenn die Wissenschaft auch einerseits nur ein ständiges
Fortschreiten von einer Illusion zur nächsten ist, so stellen die
technologischen Ergebnisse dieses Fortschreitens andererseits
doch feste Bezugspunkte dar, die in bestimmter Hinsicht tat-
sächlich als «wahr» betrachtet werden können.
Es sind also gewissermaßen die technologischen Abfallpro-
dukte der Forschung, die es ermöglichen, wirkliche wissen-
schaftliche Entdeckungen und Theorien von schlichten Fäl-
schungen und Betrügereien zu scheiden, wenn auch nur rein
empirisch. Falsche Entdeckungen und Theorien lassen sich
nicht praktisch anwenden. Die praktische Anwendbarkeit von
Forschungsergebnissen steht nicht im Mittelpunkt der Wissen-
schaft oder der wissenschaftlichen Methode, jedenfalls nicht
prinzipiell. Sie beruht jedoch auf einer fundamentalen Voraus-
setzung, auf der auch die wissenschaftliche Methode gründet:
der Gleichförmigkeit der Natur, das heißt der Überzeugung, daß
sich in der Natur unter den gleichen Bedingungen Phänomene
auf die gleiche Weise ereignen. Dies ist eines der wenigen me-
thodologischen Prinzipien, vielleicht das einzige, über das sich
alle Wissenschaftler immer einig waren, denn seine Negierung
würde bedeuten, die Möglichkeit von Wissenschaft selbst zu
leugnen. Ereigneten sich Phänomene nicht immer auf die glei-
che Weise und in der gleichen Ordnung, hätte es keinen Sinn zu
versuchen, Gesetze aufzustellen, die dieser Ordnung zugrunde
liegen. Wenn beispielsweise ein Gegenstand, den wir aus dem
Fenster werfen, einmal mit einer bestimmten Geschwindigkeit
senkrecht nach unten fallen, ein andermal langsam nach oben
steigen und wieder ein anderes Mal horizontal zum Fensterbrett
davonfliegen würde, bliebe der Fall physikalischer Körper un-
verständlich, er wiese keine Regelmäßigkeit auf und ließe sich
nicht auf ein Gesetz zurückführen. Die Idee der Regelmäßigkeit
unserer Welt ist nicht immer, wie wir noch sehen werden, rich-
tig, aber sie trifft ohne Zweifel für den Typus von Phänomenen
zu, den die moderne Wissenschaft seit Galilei untersucht hat,
für die Phänomene also, die der mit bloßem Auge sichtbaren
Umwelt angehören, in der sich der Mensch bewegt.
Die Hypothese der Gleichförmigkeit der Natur ermöglichte
nicht nur die Wissenschaft, sondern hatte noch zwei andere
Konsequenzen. Erstens erlaubte sie die technische Anwendung
wissenschaftlicher Forschungsergebnisse. Wenn Gegenstände
nämlich immer auf die gleiche Weise fallen und wenn die Fall-
gesetze physikalischer Körper eine angemessene Beschreibung
dieses Vorgangs liefern, dann ist es auch möglich, diese Gesetze
zu benutzen, um beispielsweise die Widerstandskraft eines Net-
zes oder eines Sprungtuches zu berechnen, die erforderlich ist,
um das Gewicht eines Menschen aufzufangen, der aus dem
sechsten Stock eines Gebäudes fällt. Die zweite Konsequenz ist
die Möglichkeit, Experimente zu wiederholen, die eine be-
stimmte Theorie oder Hypothese beweisen sollen. Die Wieder-
holbarkeit von Experimenten wird von den Wissenschaftlern
seit einigen Jahrhunderten als das geeignetste Kriterium be-
trachtet, Wissenschaftlichkeit von Unwissenschaftlichkeit zu
unterscheiden bzw. «wahre» wissenschaftliche Theorien von
falschen zu trennen.
Wissenschaftsphilosophen haben sich jedoch immer gewei-
gert, diesem Kriterium Bedeutung beizumessen, weil es sich nur
um ein empirisches Kriterium handelt. Außerdem ist es wie alle
anderen methodologischen Regeln auch von den größten Wis-
senschaftlern wiederholt mißachtet worden. So haben wir etwa
gesehen, daß Galileis Experimente mit der schiefen Ebene (un-
abhängig davon, ob er sie durchgeführt hat oder nicht) nicht
wiederholbar waren, denn diejenigen, die sie wiederholt haben,
erhielten andere Ergebnisse. Das gleiche passierte mit dem 1887
durchgeführten Experiment von Michelson und Morley, das
Einstein zur Stützung der Relativitätstheorie erwähnt und das
in vielen Handbüchern dann fälschlicherweise als der entschei-
dende Beweis auftaucht, der ihn zur Formulierung seiner Theo-
rie gebracht habe: Als es wiederholt wurde, kam man zu ande-
ren Ergebnissen. Der erste, der dies bemerkte, war W. M. Hicks.
Er wiederum regte D. C. Miller dazu an, das Experiment zwi-
schen 1902 und 1926 mehrere Male zu wiederholen, und zwar
unter Verwendung einer Versuchsapparatur, die weitaus präzi-
ser als die ursprünglich benutzte Apparatur war. Miller kam
jedesmal zu Versuchsergebnissen, die merklich von denen abwi-
chen, die Michelson und Morley erzielt hatten. «Man hätte mei-
nen können», schrieb der Physiker M. Polanyi, «daß in dem
Moment, als diese Ergebnisse im Dezember 1925 im Verlauf ei-
ner Plenarsitzung der Amerikanischen Gesellschaft für Physik
bekannt wurden, die Physiker sofort die Relativitätstheorie auf-
geben würden. Aber nichts dergleichen geschah. In jener Zeit
hatten sie ihre Köpfe so gut gegen jede Idee abgeschottet, welche
die neue, von Einsteins Weltbild geprägte Rationalität bedrohen
konnte, daß es ihnen unmöglich war, aufs neue in anderen Be-
griffen zu denken. Die Experimente wurden nur wenig beach-
tet. Der Beweis wurde beiseite geschoben in der Hoffnung, daß
er sich eines schönen Tages als falsch erweisen würde.»
Vielleicht haben die Wissenschaftsphilosophen ja recht, wenn
sie dem Kriterium der Wiederholbarkeit mißtrauisch gegen-
überstehen, denn offensichtlich sind dieselben Wissenschaftler,
die es als wichtigstes Abgrenzungskriterium ansehen, gleichzei-
tig bereit, es gegebenenfalls außer acht zu lassen. Folgt man
Pera, der vorschlägt, jeden Appell an die wissenschaftliche Me-
thode als rhetorisches Mittel zu betrachten, um die Verbreitung
einer Theorie zu begünstigen und abzusichern, so kann man
durchaus die (plausible und vernünftige) Auffassung vertreten,
daß in Wirklichkeit auch das Kriterium der Wiederholbarkeit
nur eines der linguistischen, rhetorischen oder, wenn man so
will, dialektischen Instrumente ist, mit denen Forscher ihre Kol-
legen von der Stichhaltigkeit ihrer Entdeckungen und Theorien
überzeugen. Auch diese Position läßt sich jedoch nicht katego-
risch und mit letzter Konsequenz durchhalten. Man kann je-
doch sagen, daß das Kriterium der Wiederholbarkeit Ausnah-
men zuläßt. Dabei handelt es sich allerdings um Ausnahmen, die
überall möglich (und tatsächlich in der Wissenschaft weit ver-
breitet) sind und darüber hinaus Wissenschaftler ersten Ranges
oder zumindest von ausgewiesener Kompetenz betreffen. Ihnen
zu vertrauen ist nicht nur erlaubt, sondern vernünftig. Also sind
die Ausnahmen vom Kriterium der Wiederholbarkeit in der
Glaubwürdigkeit begründet, die ein Wissenschaftler bei seinen
Kollegen genießt. Natürlich ist das keine rationale und «wissen-
schaftliche» Rechtfertigung des Kriteriums der Wiederholbar-
keit, aber es definiert die Grenzen seiner praktischen Anwen-
dung und verleiht ihm Glaubwürdigkeit.
Erkenntnistheoretisch betrachtet, ist es also strenggenom-
men richtig, daß die Wiederholbarkeit kein sicheres Kriterium
darstellt, um wirkliche Wissenschaftler und wahre Theorien
von Betrügereien und Wissenschaftsfälschern zu unterscheiden.
Andererseits weigern sich die Forscher zu Recht, diese Unter-
scheidung für unmöglich zu halten. Für sie ist das Kriterium der
Wiederholbarkeit tauglich und zuverlässig, auch wenn es nicht
rigoros zu handhaben ist.
Das zeigt sich gerade im Falle der Wissenschaftsfälschungen.
Alle Betrügereien, die auf dem Gebiet der Wissenschaft began-
gen werden, kommen früher oder später gerade deshalb ans
Licht, weil es einem anderen Forscher nicht gelingt, die gleichen
Resultate wie der Fälscher zu erhalten. Heute wissen wir, daß
sich alle Theorien früher oder später als falsch erweisen, aber
der Unterschied zwischen wissenschaftlich falschen Theorien
(denjenigen Theorien also, die wir gemeinhin als wahr ansehen)
und Theorien, die auf ganz gewöhnliche Weise falsch sind (und
die wir üblicherweise Fälschungen nennen), liegt in ihrer Le-
bensdauer: Die «wahren» Theorien halten sich gewöhnlich viel
länger als die Fälschungen, und zwar gerade deshalb, weil die
Experimente, die wissenschaftliche Betrügereien untermauern
sollen, nicht wiederholbar sind.
Das, was eine «wahre» wissenschaftliche Theorie von einer
«falschen» unterscheidet, ist also ihre Lebensdauer und das
Ausmaß der Zustimmung, die ihr in der Welt der Wissenschaft
zuteil wird. Praktisch unterscheiden sich die gewöhnlichen Be-
trügereien von den verzeihlichen Fälschungen der großen Wis-
senschaftler nur durch die Tatsache, daß sie früher und leichter
als falsch erkannt werden. Faktisch verläßt man sich in der Wis-
senschaft nie auf die Ergebnisse eines einzelnen Wissenschaft-
lers oder einer einzelnen Gruppe von Wissenschaftlern. Eine
Entdeckung wird erst dann als wahr in Betracht gezogen, wenn
sie von verschiedenen, über den Globus verstreuten For-
schungslabors bestätigt worden ist.
Die Betrüger, die selbst Wissenschaftler von Beruf sind, wis-
sen dies natürlich und setzen ihre Kenntnisse und ihre Kompe-
tenz ein, damit der Betrug so lange wie möglich unentdeckt
bleibt. Eine der am weitesten verbreiteten Techniken, mit denen
man dies erreicht, setzte etwa Moewus bewußt und mit Ge-
schick ein. Sie besteht darin, die Experimente so zu manipulie-
ren, daß man Ergebnisse erhält, die man aufgrund des erreich-
ten Wissensstandes in hohem Grade für wahrscheinlich hält
und nach denen auch andere Wissenschaftler forschen. Statt
eine falsche Entdeckung vollständig zu erfinden, nimmt man
eine unlautere Abkürzung in der nicht unbegründeten Über-
zeugung, daß die Kollegen wahrscheinlich nicht an einen Betrug
denken werden.
Eine andere Technik besteht darin, mit einem Betrug Ergeb-
nisse vorzutäuschen, die zwar durchaus bedeutsam sind, aber
doch nicht so bedeutsam, daß andere Forscher sich bemüßigt
fühlen, die Experimente zu wiederholen. In diesen Fällen ver-
sucht der Betrüger, das eigene wissenschaftliche Ansehen, das
Ansehen der Gruppe, in der er arbeitet, und das Vertrauen der
Kollegen auszunutzen. Auf diese Weise, so hofft er, wird nie-
mand seine angeblichen Experimente wiederholen und seine
Ergebnisse widerlegen. Es ist wahrscheinlich, daß viele der Ver-
öffentlichungen, von denen Zeitschriften und wissenschaftliche
Bibliotheken überquellen, Forschungsergebnisse dieses Typs
enthalten, bei denen sich niemand je die Mühe gemacht hat, sie
zu widerlegen. Sie bleiben unbeachtet, bis sie vergilben und ver-
gessen werden, ohne daß ihre wahre Natur zum Vorschein ge-
kommen wäre.
Doch im allgemeinen kann man sich darauf verlassen, daß
eine Entdeckung mit einem gewissen Stellenwert von irgend je-
mandem überprüft wird, so daß ein eventueller Betrug mit gro-
ßer Wahrscheinlichkeit aufgedeckt wird. Tatsächlich beträgt die
durchschnittliche Lebenserwartung eines wissenschaftlichen
Betruges heute etwa acht Monate. So lange dauerte es beispiels-
weise, die Entdeckung der kalten Fusion zu widerlegen. Den Re-
kord hält wahrscheinlich der Betrug von Piltdown, der gut 41
Jahre überlebte.
Die «wahren» Theorien, die man auch als «geniale Fälschun-
gen» bezeichnen könnte, sind dagegen viel langlebiger. Rekord-
halter ist hier wahrscheinlich Claudius Ptolemäus, dessen Theo-
rie, nach der die Erde im Mittelpunkt unseres Planetensystems
liegt, 1397 Jahre durchhielt. Die Physik Newtons, die noch heute
weitgehend ihre Gültigkeit bewahrt, ist in einigen fundamenta-
len Punkten nach etwa 200 Jahren korrigiert worden. Einsteins
Relativitätstheorie, die er 1905 aufstellte, hat trotz der zahlrei-
chen Angriffe gegen sie bis heute standgehalten. Alles deutet je-
doch darauf hin, daß sie nicht so lange akzeptiert werden wird
wie die Physik Newtons, die ihrerseits nicht so lange standhielt
wie das ptolemäische Weltbild. Der wissenschaftliche Fort-
schritt scheint also die Lebensdauer wissenschaftlich gültiger
Theorien tendenziell zu verkürzen. Das bedeutet, daß in einigen
Jahrzehnten auch das Kriterium der Wiederholbarkeit ver-
schwinden könnte, mit dem sich eine wahre von einer falschen
Entdeckung unterscheiden läßt.
Wenn in Zukunft die Lebensdauer wissenschaftlicher Betrü-
gereien mit der durchschnittlichen Lebensdauer echter Theo-
rien zusammenfällt, wird die Falsifizierung eines Betrugs durch
die Wiederholung der Experimente der Falsifizierung entspre-
chen, mit der eine anerkannte Theorie entwertet oder modifi-
ziert wird. Damit aber gäbe es kein empirisches Kriterium
mehr, um Betrügereien oder Betrüger von verläßlicher For-
schung und vertrauenswürdigen Forschern zu unterscheiden.
Aber auf die Wissenschaft der Zukunft kommen noch ganz
andere Probleme zu, die es immer schwieriger machen werden,
wahr und falsch voneinander zu unterscheiden. Es ist zwar noch
nicht ins öffentliche Bewußtsein gedrungen, aber vor etwa 30
Jahren sind wir aus dem «Paradies der linearen Gleichungen»
vertrieben worden, wie es der italienische Physiker Giorgio Pa-
risi genannt hat. Dieses Paradies, das große Geister wie Galilei
und Newton schufen, war regelhaft und deterministisch. Jede
Ursache hatte ihre Wirkung, und alle Phänomene folgten ge-
horsam den Gesetzen der Physik. Die Gesetze Newtons bei-
spielsweise erlaubten es, die Umlaufbahnen der Planeten und
nahezu jedes Objekts, das sich im All bewegt, präzise zu berech-
nen. Die Präzision und Regelhaftigkeit dieser Welt verbürgten
Gesetze, die sich in linearen Gleichungen ausdrücken ließen. Es
handelt sich dabei um bestechend schöne algebraische Glei-
chungen, weil sie eine schnurgerade Linie ergeben, sobald die
Zahlenwerte auf zwei kartesische Achsen projiziert werden. Sie
sind das gängigste Mittel, mit dem die Wissenschaftler die Welt
und die Natur beschreiben und zugleich der natürlichste und
klarste Ausdruck der Regelhaftigkeit und Präzision, die die Ge-
lehrten in der Welt gesucht haben und auch gefunden zu haben
meinen.
Woher aber rührt die Schönheit und Einfachheit linearer
Gleichungen? Sie rührt daher, daß durch sie die Welt als eine Art
großes Billardspiel vorstellbar wird, in dem jede Ursache eine
Wirkung produziert, die ihrerseits Ursache einer anderen Wir-
kung werden kann, so wie ein Stoß mit dem Queue eine Kugel
in Bewegung setzen kann, die ihrerseits eine andere Kugel an-
stößt, die wiederum eine andere zuerst gegen die Bande schlägt
und dann in ein Loch versenkt. Unter diesem Gesichtspunkt ist
ein guter Physiker in gewissem Sinne einem geschickten Billard-
spieler vergleichbar. Die Kenntnis physikalischer Gesetze und
die Fähigkeit, sie bei Berechnungen richtig anzuwenden, er-
möglicht die Beherrschung physikalischer Phänomene, so wie
ein guter Billardspieler die Kraft und die Wirkung kalkuliert, die
er benötigt, um eine Kugel ins Loch zu stoßen. Das war das
Spiel, das man in der schönen Welt der linearen Gleichungen
spielte.
Aber eines häßlichen Tages im Jahr 1961 wurde der Mensch aus
diesem Paradies vertrieben. Die Schuld daran trug dieses Mal
nicht eine Schlange, sondern der Computer, mit dem Edward
Lorenz, ein Meteorologe des Massachusetts Institute of Techno-
logy, mögliche Wetterentwicklungen simulierte. Lorenz hatte
dem Computer aufgegeben, erneut die gleiche Entwicklung der
Wetterbedingungen zu berechnen, die er bereits zuvor errech-
net und in einer langen Zahlenreihe dargestellt hatte. Um die
Sache zu vereinfachen, hatte Lorenz einen der Ausgangswerte
leicht verändert und statt des Wertes 0,506127 den Wert 0,506
eingegeben. Lorenz hatte angenommen, daß die Differenz von
einem Zehntausendstel keine Bedeutung habe. Als er sich nach
einer Stunde das Ergebnis ansah, bemerkte er, daß durch die
kleine Veränderung die neue Zahlenreihe nur am Anfang halb-
wegs mit der ersten Reihe übereinstimmte, dann aber erstaun-
lich von ihr abwich. Zu dieser Differenz war es gekommen, weil
der Computer Gleichungen benutzt hatte, die nicht linear wa-
ren.
Es ist das grundlegende Merkmal solcher Gleichungen, daß
sich ihre Parameter nicht als Ursache und Wirkung geordnet
einer nach dem anderen beeinflussen, sondern abwechselnd so-
wohl Ursache als auch Wirkung sind. Es ist, als ginge man vom
Billard zum Eishockey über. Im Gegensatz zum Billard könnte
man dieses Spiel nicht durch lineare Gleichungen darstellen.
Um zum Beispiel die Kraft zu errechnen, die ein Spieler benö-
tigt, um den Puck auf eine bestimmte Geschwindigkeit zu be-
schleunigen, muß man die Reibung mit einbeziehen, die nicht
konstant bleibt, sondern vielmehr von der Geschwindigkeit des
Pucks abhängt. Wenn sich dieser bereits mit hoher Geschwin-
digkeit bewegt, reicht ein kleiner Stoß aus, um ihn zu beschleu-
nigen, weil die Reibung bei höherer Geschwindigkeit abnimmt.
Die Geschwindigkeit ihrerseits hängt aber wieder von der Rei-
bung ab. Diejenigen Systeme, deren Parameter sich wie beim
Hockey wechselseitig beeinflussen, sind äußerst komplex und
lassen sich nur sehr schwer mit der gleichen Klarheit und Präzi-
sion beschreiben wie lineare Systeme. Sie können auch nicht als
schöne gerade Linien dargestellt werden oder als mehr oder we-
niger bewegte Kurven, deren Komplexität immer noch leicht zu
überblicken ist. Sie werden gewöhnlich als chaotisch verwik-
kelte Spiralen dargestellt, die mathematisch schwer zu beschrei-
ben sind. Doch die chaotischen sind noch nicht die schlechte-
sten Eigenschaften nichtlinearer Systeme. Viel schlimmer ist,
daß man bei ihnen die Details, die kleinen, scheinbar bedeu-
tungslosen Veränderungen der Parameter, nicht mehr vernach-
lässigen kann. Hier liegt der Ursprung ihrer chaotischen Natur.
Bei nichtlinearen Systemen, und dies ist der wichtigste Aspekt
der Entdeckung, die Lorenz machte, kann eine winzige, kaum
wahrnehmbare Störung einen Weltuntergang herbeiführen. Er
hatte entdeckt, daß in der Meteorologie, wie wahrscheinlich in
der ganzen Physik, die Details und die kleinen Störungen kei-
neswegs irrelevant sind, wie man bis dahin angenommen hatte.
Das Phänomen erhielt den Namen «Schmetterlingseffekt»,
nach dem Titel des Vortrags, den Lorenz im Dezember 1979
hielt: «Vorhersagbarkeit: Kann der Flügelschlag eines Schmet-
terlings in Brasilien einen Tornado in Texas auslösen?»
Es war das Ende einer Illusion. Von jenem Tag an konnten die
Professoren ihren Studenten nicht länger sagen, was Arthur T.
Winfree jedes Jahr in seiner Vorlesung verkündete: «Es ist die
grundlegende Idee der westlichen Wissenschaft, daß man nicht
das Fallen eines Blattes auf irgendeinem Planeten in einer ande-
ren Galaxie berücksichtigt, wenn man die Bewegung einer
Kugel auf einem Billardtisch auf der Erde zu erklären versucht.
Minimale Einflüsse können vernachlässigt werden. Um zu er-
klären, wie etwas funktioniert, reichen Annäherungswerte. Be-
liebig kleine Einflüsse haben keine beliebig großen Wirkungen.»
Heute wissen wir, daß dies nicht länger wahr ist. Beliebig kleine
Einflüsse können katastrophale Wirkungen haben.
Auf den ersten Blick könnte es scheinen, daß sich dadurch in
Wirklichkeit nichts ändert und wir vielmehr nun eine endgül-
tige Erklärung dafür geliefert bekommen, warum die Meteoro-
logen immer an der Wettervorhersage scheitern: Das System,
das sie untersuchen, ist derart komplex und die Parameter so
sehr wechselseitig voneinander abhängig, daß wir uns eigentlich
nur darüber wundern müßten, wie man überhaupt auf die Idee
kommen konnte, genaue Vorhersagen treffen zu wollen. Folg-
lich könnte man die Meteorologie als eine der Ausnahmen von
der Linearität betrachten, die für Physiker immer uninteressant
waren. Die unter Wissenschaftlern am weitesten verbreitete
Meinung ist deshalb, daß sich der wichtigste Teil der Wissen-
schaft mit der Beschreibung der Welt als Billardspiel beschäftigt,
während es sich bei den komplizierteren Spielen wie Eishockey
oder der Meteorologie um Abweichungen handelt, die nicht
sehr interessant sind. Doch das ist nicht richtig. Heute wissen
wir nämlich, daß die Idee, man könne die Welt oder wenigstens
ihre wichtigsten Aspekte wie ein riesiges Billardspiel beschrei-
ben, das Ergebnis einer naiven Vereinfachung, im Extremfall je-
doch einer zwar unschuldigen, aber gewaltigen Fälschung ist.
Urheber dieser Vorstellung waren Galilei und Newton, die syste-
matisch Details und kleine Störungen außer acht ließen. Da-
durch «linearisierten» sie die Welt und schrieben Phänomenen
eine Regelhaftigkeit, Ordnung und Präzision zu, die tatsächlich
im wesentlichen chaotisch sind.
Nehmen wir zum Beispiel das Gesetz des Pendelisochronis-
mus von Galilei. Es stellt fest, daß die Schwingungsdauer des
Pendels unabhängig von der Größe der Schwingung selbst ist.
Mit anderen Worten: Nimmt man zwei Pendel von der gleichen
Länge und läßt das eine mit einem kleinen, das andere Pendel
mit einem großen Winkel zum Ruhepunkt schwingen, so daß
letzteres weit größere Schwingungen vollzieht, läßt sich nach
diesem Gesetz beobachten, daß beide eine vollständige Schwin-
gung in der gleichen Zeit zurücklegen, und zwar weil das Pen-
del, das größere Schwingungen macht und also auch größere
Entfernungen zurücklegt, schneller schwingt. Galilei behaup-
tete, daß er dieses Gesetz, das auf den meisten Gymnasien noch
wie das Evangelium behandelt wird, auf der Basis einfacher ex-
perimenteller Beobachtungen aufgestellt habe. Aber das Gesetz
ist falsch. Die Regelmäßigkeit, die es beschreibt, ist nur ein An-
näherungswert. Galilei ließ einige störende Effekte außer acht,
und nur so gelang es ihm, ein präzises Gesetz zu formulieren.
Vor allem vernachlässigte er die Reibung und den Widerstand
der Luft. Wie wir im ersten Kapitel sahen, hatte er behauptet,
daß eine Bleikugel und eine Kugel aus Kork an gleich langen Fä-
den für ihre Schwingungen die gleiche Zeit benötigen. Das ist
falsch, wie Naylor gezeigt hat, der das Experiment wiederholte.
Das Bleipendel schwingt schneller und ist der Schwingung des
Korkpendels nach etwa 25 Schwingungen um eine Viertel-
schwingung voraus.
Einen wichtigeren nichtlinearen Faktor stellt jedoch der
Schwingungswinkel dar. Im Gegensatz zu dem, was Galilei be-
hauptete, werden die Gleichungen bei einer Veränderung des
Winkels leicht nichtlinear. Dies ist bei kleinen Veränderungen
der Schwingungsweite nicht wahrzunehmen, wäre aber selbst
bei einem recht grobschlächtigen Experiment wie dem von Ga-
lilei beschriebenen meßbar gewesen. Auch zwei gleich lange
Bleipendel benötigen unterschiedlich viel Zeit für eine Schwin-
gung, wenn der Schwingungswinkel nicht der gleiche ist. Im
Unterschied zu dem, was das Gesetz besagt, ist also die Schwin-
gungsdauer nicht unabhängig vom Schwingungswinkel. Ist das
Gesetz folglich falsch? Nein, nur ist es lediglich annäherungs-
weise richtig. Es beschreibt nicht, wie sich die Pendel wirklich
verhalten, sondern wie sie sich im Paradies der linearen Glei-
chungen verhalten müßten. Wer wirklich Experimente anstellt,
der wird sich sehr bald darüber im klaren sein, daß er in einer
unvollkommenen, unpräzisen Welt lebt. In dieses Reich des Un-
gefähren Ordnung zu bringen ist nur möglich, wenn man die
geringfügigen Abweichungen von der Linearität und die klei-
nen Störungen außer acht läßt oder verschleiert. Im Falle des
Pendels könnte es scheinen, als ob diese kleinen Fälschungen
und Angleichungen legitim seien, denn nur dank ihrer konnte
die Wissenschaft der letzten Jahrhunderte große Erfolge erzie-
len, die in der antiken Welt des Ungefähren undenkbar gewesen
wären. Doch heute entdecken wir das andere, weit weniger er-
hebende Gesicht der klassischen Wissenschaft. Die Präzision ist
nur ein Laken, mit dem die Wissenschaftler die Phänomene der
wirklichen Welt zugedeckt haben. Unter diesem Laken herrscht
Chaos.
Heute gelangen die Wissenschaftler mehr und mehr zu der
Überzeugung, daß nicht einmal in unserem Planetensystem Re-
gelhaftigkeit und Ordnung herrschen. Und das will etwas hei-
ßen, denn noch heute wird die Himmelsmechanik als präziseste
aller Wissenschaften angesehen.
Mittlerweile gibt es auch experimentelle Beweise der Tatsa-
che, daß wir in einer Welt des Chaos und der Unordnung leben.
Die Voyager-Sonde beispielsweise hat zum ersten Mal Bilder
von Hyperion, einem Satelliten des Saturns, auf die Erde gesen-
det, der eine sehr unregelmäßige Form hat. Diese Form erklären
sich die Astronomen als Folge der Instabilität der Bewegungsbe-
dingungen dieses Satelliten. Mit anderen Worten: Er steht am
Rande des Chaos, seine Umlaufbahn schickt sich an, die Regel-
mäßigkeit, die ihr die Gesetze Newtons auferlegen, zu mißach-
ten und chaotisch und konfus zu werden. Daß in diesem Teil des
Universums niemand mehr so recht auf Newton hört, belegen
auch die Ringe des Saturns, die ebenfalls von Voyager fotogra-
fiert wurden. Diese Ringe sind nicht homogen. Es lassen sich
drei Hauptformen unterscheiden, die ihrerseits in eine Unzahl
weiterer Ringe unterteilt sind. Bisher haben die Astronomen
verzweifelt, aber erfolglos versucht, diese Unterteilungen der
Ringe aus den Gesetzen Newtons abzuleiten. Man hält es heute
für wahrscheinlich, daß auch sie das Ergebnis einer dem Chaos
nahen Instabilität sind. Man kann also nicht nur sicher sein, daß
sich die schöne Regelhaftigkeit unseres Universums in Milliar-
den von Jahren in einen chaotischen Tanz der Planeten verwan-
deln wird, sondern auch, daß an einigen Stellen dieses Chaos
bereits eingetreten ist. Man sollte vielleicht besser sagen, daß
das, was wir seit Jahrtausenden als Ordnung beschreiben und
seit 300 Jahren dank Newton auch in Gleichungen ausdrücken
können, in Wirklichkeit nichts anderes als eine Fiktion oder
eine vereinfachte Darstellung eines Momentes in der Geschichte
des Chaos ist. Die Vereinfachung besteht in der trügerischen
und nur zeitweilig gerechtfertigten Annahme, daß die kleinen
Wirkungen, die Blätter, die auf Planeten einer anderen Galaxie
fallen, unerheblich sind und außer acht gelassen werden kön-
nen.
In der Epoche Galileis verwandelte die Wissenschaft die Welt
des Ungefähren in eine Welt der Präzision. Dies war nicht nur
dank der Genialität Galileis und Newtons möglich, sondern
auch dank ihrer Tricks und ihrer Ungeniertheit. So konnten sie
die Wirkungen der Komplexität und des Chaos verschleiern, die
die Regelmäßigkeit und Präzision bedrohten, mit der sie die
Wissenschaft gleichsetzten. So wird schließlich klar, warum wir
sie als Betrüger betrachten können: Sie betrogen, weil sie die
Dinge simplifizierten. Heute sind wir auf dem Weg, in die Welt
des Ungefähren zurückzukehren, doch handelt es sich dabei
nicht um einen Rückschritt. Die Wissenschaft hat lediglich be-
griffen, daß sie die Herausforderung der Komplexität anneh-
men muß. Sie schickt sich an, die verborgene und seltsame Ord-
nung der Phänomene zu beschreiben, die sich scheinbar zufällig
und ohne Präzision ereignen.
Die Wissenschaft muß sich also künftig dem zuwenden, was
uns bisher als unwesentlich und zufällig erschien, und dies wird
erhebliche Auswirkungen auf die Methode und die Arbeitsweise
der Wissenschaftler haben. Eine der Konsequenzen dürfte darin
bestehen, daß es nicht länger möglich sein wird, das Kriterium
der Wiederholbarkeit einzusetzen, um festzustellen, ob eine
Entdeckung wahr oder falsch ist. Die untersuchten Phänomene
werden selbst zufällig oder stark von den Bedingungen beein-
flußt sein, unter denen sie beobachtet werden, und schließlich
wird die älteste und wichtigste Annahme der experimentellen
Wissenschaft verschwinden: die Hypothese von der Gleichför-
migkeit der Natur.
Denn das Zufällige ist nie gleichförmig, es vollzieht sich nie
auf die gleiche Art und Weise unter den gleichen Bedingungen.
Wenn jemand das Haus lieber durch ein Fenster im sechsten
Stock verläßt, statt durch die Haustür zu gehen, erfährt er auf
eigene Kosten die Gültigkeit der klassischen Mechanik, denn er
wird sich unweigerlich das Genick brechen. Geht er aber statt
dessen ganz normal durch die Haustür, grüßt hastig den Haus-
meister und fährt mit dem Wagen ins Büro, kann es ihm an der
ersten Kreuzung passieren, daß er mit einer Polizeistreife zu-
sammenstößt, die einem flüchtigen Verbrecher hinterherjagt.
Dieser Unfall läßt sich mathematisch genausowenig vorausbe-
rechnen wie der Sprung aus dem Fenster. Die Polizeistreife fährt
schließlich nicht jeden Tag zur gleichen Stunde und mit der
gleichen Geschwindigkeit über dieselbe Kreuzung. Hätte sich
jedenfalls der Fahrer des Unfallwagens ein wenig Zeit für eine
Plauderei mit dem Hausmeister genommen, wäre er mit dem
Bus statt mit seinem Auto gefahren, wäre er noch einmal umge-
kehrt, weil er etwas vergessen hatte, oder hätte sein Wagen an
diesem Morgen etwas mehr Zeit gebraucht, um anzuspringen,
kurz: hätte sich der Fahrer auch nur um ein weniges verspätet,
dann wäre es auf der Kreuzung nicht zu einem Unfall gekom-
men.
Heute sieht sich die Wissenschaft vor die Aufgabe gestellt, ge-
rade Probleme dieses Typs zu lösen. Da sie keine Gleichförmig-
keit aufweisen, verringert sich folglich auch die Möglichkeit,
Experimente unter den gleichen Bedingungen und mit den glei-
chen Ergebnissen zu wiederholen. Vielleicht ist die kalte Kern-
fusion das erste Beispiel solcher unwiederholbarer Experi-
mente. Jedenfalls werden es die Wissenschaftler in Zukunft vor
allem mit derartigen Phänomenen zu tun haben. Dadurch
könnte sich die Zahl der Betrugsfälle erhöhen, die, wie wir gese-
hen haben, bereits aus anderen Gründen recht hoch ist. Ist der
Appell an das Kriterium der Wiederholbarkeit einmal nicht
mehr zugkräftig, wird es in der Tat äußerst schwierig sein, her-
auszufinden, ob eine neue Theorie oder Erfindung wahr und
echt ist oder vielmehr das Ergebnis von Betrug und Fälschung.
Das muß allerdings nicht notwendig heißen, daß die Betrüger
immer sicher sein können, unbehelligt davonzukommen. Auch
wenn das Prinzip der Gleichförmigkeit der Natur und das em-
pirische Kriterium der Wiederholbarkeit von Experimenten an
Bedeutung verlieren werden, wird es doch weiterhin eine letzte
und entscheidende Feuerprobe für neue Theorien geben: ihre
praktische Anwendbarkeit, ihr technologischer Nutzwert. Die
Untersuchung chaotischer Phänomene ist für uns nämlich nur
in dem Maße von Belang, als wir durch sie die Welt Newtons, in
der wir leben, besser zu verstehen und technologisch zu beherr-
schen lernen. Deshalb müssen die Ergebnisse der Erforschung
ungleichförmiger Chaosphänomene für eine von Menschen be-
herrschbare, gleichförmige Technologie nutzbar gemacht wer-
den.
So müßte etwa die Erforschung der kalten Fusion - vorausge-
setzt, sie bleibt frei von Betrügereien - an einem bestimmten
Punkt zu experimentellen Lösungen führen, durch die zumin-
dest die Wirkung, wenn nicht gar das Phänomen selbst, wieder-
holbar wird, um Energie zu produzieren. Sollte sich aber her-
ausstellen, daß dieses Phänomen allein und notwendig dem
Zufall unterliegt und in jedem Fall nur geringe Energiemengen
produziert, so wüßten wir letztendlich nichts damit anzufan-
gen. Schließlich können wir uns nicht damit zufriedengeben,
nur dann Licht im Haus zu haben, wenn sich zufällig eine kalte
Fusion ereignet, die unsere Glühbirnen nur für eine Sekunde
lang müde flackern läßt. In Zukunft wird es also schwieriger,
aber doch nicht unmöglich sein, die gewöhnlichen Betrügereien
und die Söldner der Wissenschaft zu entlarven.
Doch ist die Entlarvung nicht das eigentliche Problem. Wie
bei der normalen Verbrechensbekämpfung ist es auch hier die
vernünftigste Strategie, die Motive und folglich die Bedingun-
gen zu beseitigen, die den Betrügereien zugrunde liegen und sie
erst ermöglichen. Wir haben gesehen, daß die Wissenschaft
nicht ohne Betrug auskommt. Aber manche betrügen eben aus
Eigeninteresse, andere im Interesse des Fortschritts.
Niemand kann sich wünschen, daß die Betrügereien im Na-
men der Wissenschaft unterbunden werden, denn wir haben
gesehen, daß diese Art der Fälschung nur die Kehrseite der Ge-
nialität ist. Sehr wohl kann und muß jedoch verhindert werden,
daß die Wissenschaft der Zukunft, statt von den Einsteins und
Galileis bestimmt zu werden, in die Hände kleiner und gewöhn-
licher Betrüger fällt. Sie könnten in den kommenden Jahrzehn-
ten, in denen die Lage der wissenschaftlichen Forschung un-
übersichtlich und komplex sein wird, ein Klima vorfinden, das
ihre Vermehrung noch begünstigt. Die wissenschaftliche Erfor-
schung des Chaos könnte sich, kurz gesagt, in eine chaotische
Wissenschaft verwandeln, in der es von falschen und bedeu-
tungslosen Entdeckungen nur so wimmelt. Dies läßt sich aber
verhindern: Es würde ausreichen, wenn Gesellschaft und Politik
nach einem Weg suchten, um den Wissenschaftlern aus Beru-
fung ihre Freiheit und Würde zurückzugeben. Sie müssen aus
einer Lage befreit werden, in der sie zu «Söldnern» geworden
sind. Man muß ihr Recht auf Muße anerkennen, das durch die
Jahrhunderte die großen Erfolge der Wissenschaft begünstigt
hat. Nur dann werden wir noch den neuen Weltbildern und den
neuen, überzeugenden Betrügereien trauen können: den neuen
Geschichten, die uns die Wissenschaftler erzählen werden.
Inhalt
Einleitung..................................................................7
I. Auch Nobelpreisträger betrügen.......................... 13
1. Die seltsamen Sterne des Ptolemäus............................ 13
2. Die Experimente, die Galilei nicht machte................. 17
3. Newton und der «Fälschungsfaktor»............................ 27
4. Millikan und die fehlenden Tröpfchen......................... 36
5. Emilio Segrè: Ein umstrittener Nobelpreisträger......... 42
6. Die Relativität: Scherz oder Betrug?............................ 47
II. Big Science oder großer Betrug?.......................57
1. Der Präzedenzfall: Breuning........................................ 57
2. «Der ehrliche Jim»....................................................... 72
3. Das amerikanische System........................................... 87
4. Wenn Athene weint...................................................... 97
5. Die Wissenschaft als unendliches Unternehmen........ 102
6. Die Zukunft der Wissenschaft.................................... 106
III. Fälschungen, Skandale und
merkwürdige Begebenheiten................................112
1. Herzensangelegenheiten............................................. 112
2. Aufstieg und Fall des Franz Moewus......................... 118
3. Mendel: Genie oder Betrüger?................................... 130
4. Burt und die erbliche Dummheit................................ 141
5. Die verlorene Ehre des Jacques Deprat...................... 150
IV. Falsche Fossilien und fehlende Glieder..........159
1. Der Krieg der Affen................................................... 159
2. Der Mensch von Piltdown.......................................... 172
3. Dawson....................................................................... 180
4. Woodward.................................................................. 184
5. Teilhard de Chardin.................................................... 185
6. Arthur Keith............................................................... 195
7. Smith und Barlow....................................................... 200
8. Woodhead, Hewitt und Hinton................................... 204
9. Conan Doyle............................................................... 209
V. Der Wissenschaftler als Betrüger.....................217
Literatur............................................................................ 245

gesamter Thread: