- ein brief an schily - orwell, 21.06.2003, 17:39
ein brief an schily
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Von Harald Neubauer
Sehr geehrter Herr Bundesinnenminister, lieber Otto Schily!
Dieser Tage präsentierten Sie in Berlin den Jahresbericht 2002 des
Bundesamtes für Verfassungsschutz. Offen gesagt: Ich war gespannt
wie ein Flitzbogen. Nicht, daß ich sensationelle Neuigkeiten erwartet
hätte. Aber mein Mitgefühl wollte wissen, ob Sie das blamable Scheitern
des NPD-Verbots halbwegs verkraftet haben. Nun, ein Blick in das
vorgelegte Papier enthebt uns aller Sorgen. Otto der Hartleibige. Von
ein paar Verfassungsrichtern läßt er sich nicht ins Bockshorn jagen.
Kein Rechtfertigungsversuch, kein Wort der Entschuldigung, kein
Hinweis, daß man den Bedenken aus Karlsruhe künftig Rechnung tragen
will.
Statt dessen streichelten Sie auf der Pressekonferenz das verletzte
Ego Ihrer Agenten: Deren Umtriebe trügen, so wörtlich,"zur Wahrung
der Grundwerte unserer Gesellschaft als auch zu gegenseitiger Achtung
und gegenseitigem Respekt bei". Darauf, lieber Schily, muß man erst
einmal kommen: Die Bespitzelung von Mitbürgern - eine
Respektshandlung. Geheimdienstliche Machenschaften gegen politisch
Andersdenkende - ein Beweis gegenseitiger Achtung. Die Betroffenen
können ihr Glück kaum fassen.
Dem Jahresbericht ist zu entnehmen, daß sich im Bundesamt die Zahl
der Bediensteten von 2097 auf nun 2235 erhöht hat. Entsprechend
stiegen die Kosten von 115 Millionen auf 124 Millionen Euro. Da freut
sich Florian Gerster. Nahezu überall in Deutschland werden
Arbeitsplätze abgebaut, gilt Sparsamkeit als höchstes Gebot. Aber Sie
als Herr der Spitzel und Wanzen sorgen für Beschäftigung. Herzlichen
Glückwunsch! Trotzdem nicht übermütig werden. Aus den Umbrüchen
deutscher Geschichte wissen wir, daß die Lebensdauer eines Regimes in
der gleichen Geschwindigkeit abnimmt, wie die Menge seiner Agenten
zunimmt. Die genaue Formel können Sie sich bei Joachim Gauck oder
Marianne Birthler besorgen.
Laut Bericht haben Sie bereits 942 350 Personen im Computer
gespeichert - dreimal soviel, wie die Bundeswehr Soldaten hat. Eine
ganze Großstadt. Alle Achtung! Nach dem Parkinsonschen Gesetz über
die eigendynamische Entwicklung behördlicher Apparate wird die Zahl
der Eintragungen unablässig wachsen, bis Sie und Ihr Nachfolger selber
auf der Liste stehen (oder haben Sie sich als ehemaliger
Vertrauensanwalt der Rote-Armee-Fraktion dort schon entdeckt?).
Auch Zeitungen und Zeitschriften werden in Ihrem Bericht der
Verfassungsfeindlichkeit geziehen. Dazu ein brandaktueller Tipp: Haben
Sie die letzten Ausgaben des"Spiegels" gelesen? Dort lief eine
dreiteilige Serie unter dem Titel"Die verstaubte Verfassung". Danach ist
das Grundgesetz"ein Regelwerk voller Konstruktionsfehler". Es tauge
nicht zum Regieren und gehöre in den Mülleimer:"Keiner, der sich
auskennt, glaubt daran, daß mit dieser Verfassung die schleudernde
Industrienation noch zu managen ist."
Damit nicht genug. Das Hamburger Nachrichtenmagazin (Nr. 20/03)
behauptet zudem, daß die Väter des Grundgesetzes 1948 nicht aus
freien Stücken gehandelt hätten, sondern von den Alliierten"zum
Befehlsempfang einbestellt worden" seien. Die siegerbefohlene
Verfassung habe garantieren sollen, daß Deutschland"niemals wieder
nationale Größe erreichen würde". Dazu zitiert der"Spiegel" den
SPD-Politiker Klaus von Dohnanyi mit dem Satz:"Die Alliierten wollten
uns enthaupten."
Bei solchen Darlegungen muß sich doch Ihnen, verehrter Herr Minister,
der Pony sträuben. Wer sich so einläßt, verstößt eklatant gegen die
herrschende Geschichtsschreibung und kann eigentlich nur eines sein:
Rechtsextremist. Eine andere Deutung läßt jedenfalls der jüngste
Verfassungsschutzbericht nicht zu. Er belegt die Verbotswürdigkeit der
NPD mit einem Zitat des Parteivorsitzenden Voigt, wonach die
Bundesrepublik"auf den Bajonetten der Alliierten" gegründet worden
sei. Nichts anderes setzt der"Spiegel" seinen Lesern vor. Verbunden
mit der Forderung nach einem anderen System. Muß hier nicht
energisch eingeschritten werden? Oder handelt es sich bei den
verantwortlichen Journalisten wiederum nur um V-Leute, deren
Äußerungen man nicht auf die Goldwaage legen darf?
Möglich ist heutzutage ja alles. Im"Linksextremismus"-Teil Ihres
Berichtes, lieber Herr Schily, entdecke ich zum Beispiel die PDS. Wenn
ich mich richtig erinnere, ist das die Truppe, mit der Ihre Partei, die
SPD, in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern koaliert. Über den
Bundesrat regiert selbige PDS, die sich früher SED nannte, sogar
deutschlandweit mit. Deshalb mein Vorschlag, werter Herr Minister:
Stellen Sie doch Ihre verfassungsschützerische Arbeit unter das Motto:
"Einen Jux will er sich machen." Nestroy statt Mielke. Ich lache gerne
mit.
Nichts für ungut, Ihr Harald Neubauer

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