- jessica lynch - orwell, 21.06.2003, 20:46
- der Fall war ja schon von Anfang an klar! - nasdaq, 22.06.2003, 06:22
jessica lynch
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MONITOR Nr. 504 am 19. Juni 2003
Soldatin Jessica - Wie das Pentagon eine Heldentat
inszenierte
Bericht: John Kampfner, Sonia Mikich
Sonia Mikich:"Und jetzt die Geschichte der amerikanischen
Soldatin Jessica Lynch. Eine Geschichte mit Schurken und Helden.
Jessica Lynch tat im Irakkrieg ihre patriotische Pflicht, geriet in
Gefangenschaft und wurde unter Lebensgefahr von ihren tollkühnen
Kameraden gerettet.
Eine spektakuläre Aktion. Sie erhöhte Fernseh-Quoten und beflügelte
Fantasien. Nur: die Story stimmt so nicht. Denn es sah in jenen
Kriegstagen im April schlecht aus für die US-Streitkräfte, es gab die
ersten eigenen Toten, vieles ging schief, und da brauchte das
Pentagon unbedingt eine schöne Erfolgsgeschichte und bastelte sie
zusammen, immer schön an der Oberfläche entlang.
Unser britischer BBC-Kollege John Kampfner fuhr noch einmal zum
Ort der Mythenbildung und stellte fest: die dramatischen Bilder waren
einfach eine perfekte Reality-Show."
Die Legende beginnt in der Nacht zum 2. April.
Jim Wilkinson, US-Militärsprecher:"Ich blieb die ganze Nacht
wach, denn ich wusste, dass etwas losging, die Nachrichten
überschlugen sich..."
Brigadegeneral Vincent Brooks, US-Zentralkommando:
Die Presseleute wurden zusammen getrommelt. Sie hörten eine
Spitzennachricht.
Brigadegeneral Vincent Brooks, US-Zentralkommando:
"Koalitionsstreitkräfte haben eine amerikanische Militärangehörige
befreit, die im Irak gefangen gehalten wurde."
Das Mädchen, worum sich ganz Amerika sorgte. Die 19-jährige
Jessica Lynch wurde gefangen genommen, als ihre
Versorgungskompanie falsch abbog und in einen Hinterhalt geriet.
Neun Kameraden wurden dabei getötet.
Und so sah die Rettung von Jessica Lynch aus. Die Videokamera der
Militärs nahm jede Phase des todesmutigen Einsatzes auf. Dann der
schnelle Zusammenschnitt. Dann wenige Stunden später
Ausstrahlung im amerikanischen Frühstücksfernsehen. Genau zur
rechten Zeit. Denn der Kriegsverlauf sah in jenen Tagen schlecht
aus, die Nation befürchtete einen langen Krieg, mit vielen Toten.
Doch jetzt Sondersendungen mit einer guten Botschaft.
Brigadegeneral Vincent Brooks, US-Zentralkommando:"Es war eine
klassische Blitzoperation. Durchgeführt von unseren besten Kriegern.
Ihr Motto ist es, niemals einen Kameraden im Feindesland
zurückzulassen. Nun ist sie in Sicherheit. Ich habe sie gefragt, wer sie
gefangen genommen hatte. Es war das Regime."
Ein Knüller für die dankbaren Medien. Kaum jemand sprach von den
neun gefallenen Kameraden Jessicas. Aus einem Alptraum wurde ein
Action-Film.
Bill Whitaker, amerik. Journalist:"Die Washington Post meldet,
dass die Soldatin Lynch mutig gekämpft hat, bis ihr die Munition
ausging, dass sie mehrere Feinde erschoss, obwohl sie selber
verwundet war."
Beim Briefing hieß es: Jessica habe Stich- und Schussverletzungen.
Angeblich sahen irakische Zeugen, wie Jessica im Krankenhaus
geschlagen wurde.
Donald Rumsfeld, US-Verteidigungsminister:"Wir sind dankbar
für die glanzvolle und mutige Rettung von Soldatin Jessica Lynch. Sie
wurde von irakischen Streitkräften gefangen gehalten - in einem
Gebäude, das man dort ein Krankenhaus nennt."
Soweit die Geschichte aus amerikanischer Sicht.
Der Ort der dramatischen Rettungsaktion, ein paar Wochen später.
Ein ganz gewöhnliches irakisches Krankenhaus. Einer von Jessicas
Ärzten. Er gab ihr, gleich nach der Einlieferung, das einzige
Spezialbett des Krankenhauses.
Dr. Harith Al-Hussuna:"Ich untersuchte sie und sah, dass Arm
und Bein gebrochen waren und ein Knöchel verstaucht war. Auch
bei einer zweiten Untersuchung fanden wir nichts, keine Kugel,
keinerlei Schuss- oder Stichverletzungen."
Die Ärzte sagten, sie mussten operieren, um die Knochen neu zu
richten. Sie kümmerten sich, so gut es ging in diesen Kriegszeiten.
Dr. Harith Al-Hussuna:"Wir gaben ihr drei Blutkonserven. Weil
Blut so knapp war, hat das Krankenhauspersonal zwei gespendet."
Dr. Anmar Udai:"Wir behandelten Jessica nicht wie eine
Gefangene, sondern wie eine von uns, wie eine verletzte Irakerin."
Im Ort Nassirijah wussten alle inzwischen, dass Jessica Lynch im
Krankenhaus lag. Und: dass das irakische Militär das
Krankenhausgelände längst verlassen hatte. Ein Zeuge berichtete,
dass die Vorhut des Spezialkommandos wusste, wie ungefährlich die
Rettung sein würde:
Hassan Hamud:"Die Amerikaner wollten wissen, wo das
Saddam-Krankenhaus ist. Ich sagte: Da lang. Und es sind keine
Kämpfer dort. Nichts dergleichen."
Dennoch stürmten Amerikas"beste Krieger" das Krankenhaus.
Dr. Harith Al-Hussuna:"Sie brüllten: 'go go go' und viel Schießerei,
aber mit Platzpatronen, nicht mit echter Munition. Sie zertrümmerten
die Tür. Wir hatten große Angst."
Dr. Anmar Udai:"Wir waren überrascht. Wozu das Ganze? Es gab
keinen einzigen irakischen Soldaten im Krankenhaus."
Aber die Spezialtruppen gingen kein Risiko ein. Sie trieben die Ärzte
zusammen und fesselten einen Patienten sogar mit Handschellen an
sein Bett.
Dr. Harith Al-Hussuna:"Warum nur? Er konnte sich doch gar
nicht bewegen."
Das ist noch nicht alles. Zwei Tage vor der Rettungsaktion, sagte Dr.
Al-Hussuna, hätte er versucht, Jessica in einem Krankenwagen
fortzuschaffen und den Amerikanern zu übergeben.
Dr. Harith Al-Hussuna:"Sie sagte mir jedes Mal: 'Ich will nach
Hause, ich will nach Hause'. Ich sagte ihr, ich will ja versuchen, dich
rauszubringen, aber sehr vorsichtig, weil ich sonst in Lebensgefahr
bin. Wir legten sie in einen Krankenwagen und sagten dem Fahrer, er
solle sie zum amerikanischen Checkpoint bringen. Als er sich aber
näherte, wurde er von den Amerikanern beschossen."
Das war der einzig wirklich gefährliche Moment für Jessica - weil sie
fast von den eigenen Leuten erschossen wurde. Doch längst war sie
eine Ikone des Patriotismus. Die Heldengeschichte stand.
Bis heute lehnt das Pentagon ab, das gesamte Video der Aktion
freizugeben.
Sonia Mikich:"Jessica Lynch, so ihre Ärzte, kann sich an nichts
erinnern. Sie wird wahrscheinlich nie etwas zur Wahrheitsfindung
beitragen können."

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