- FTD: Loehne erhoehen - Deflation bekaempfen - Pudelbirne, 24.06.2003, 03:21
- Re: FTD: Loehne erhoehen - Deflation bekaempfen - dottore, 24.06.2003, 12:02
FTD: Loehne erhoehen - Deflation bekaempfen
-->[i]Aus der FTD vom 24.6.2003 [i]
[b]Gastkommentar: Apostel der Deflation [b]
Von Heiner Flassbeck
Wenn Ă-konomen nichts als Enthaltsamkeit predigen, schnallen Unternehmer und Konsumenten den GĂŒrtel enger - und der deutschen Wirtschaft geht die Luft aus.
Warum ist Deflation eine so gefĂ€hrliche Krankheit? Standardantwort: Die Geldpolitik wirkt bei Deflation nicht, da man die Zinsen nicht unter null senken kann. Weil sich die privaten Verbraucher zurĂŒckhalten, sind gegenwĂ€rtig selbst die eingeschrĂ€nkten Möglichkeiten der Finanzpolitik, die Konjunktur anzuregen, in aller Munde. Ist das wirklich alles? Warum redet niemand ĂŒber den NĂ€hrboden fĂŒr das Virus, das die Krankheit verursacht?
In diesen Tagen kann man in Deutschland beobachten, wie sich dieses Virus durch die Köpfe frisst und jeden ruhigen Gedanken vernichtet. Die Parolen sind Programm: Wir mĂŒssen auf lieb gewordene Annehmlichkeiten verzichten, wir mĂŒssen den Staat verschlanken, wir mĂŒssen mehr arbeiten, Feiertage streichen, die Gesundheitskosten senken, Arbeitslosen weniger Geld geben, insgesamt billiger werden. Der unbĂ€ndige Wille, den GĂŒrtel enger zu schnallen, die Liebe zum Verzicht ist der Vater der Deflation; die UnfĂ€higkeit, ĂŒber diese Krankheit zu sprechen, ist ihre Mutter.
Aura des Unbekannten
Deflation ist nicht schwerer zu verstehen als Inflation. Dennoch wird sie inzwischen mit einer Aura des Unbekannten umgeben, die auf schwere innere Konflikte des Patienten hinweist. In der Summe der sie auslösenden Faktoren ist Inflation nichts anderes als die Folge des Versuchs, dauernd ĂŒber die eigenen VerhĂ€ltnisse zu leben. Weil die Kosten im Vergleich zur ProduktivitĂ€t stark steigen, mĂŒssen die Unternehmen die Preise erhöhen. Umgekehrt ist Deflation immer Folge des Versuchs, unter den eigenen VerhĂ€ltnissen zu leben. Weil die Kosten - relativ - sinken, mĂŒssen die Unternehmen die Preise zurĂŒcknehmen.
Dass eine solch schlichte Einsicht die herrschende Lehre in der Ă-konomie, die Politiker, die Notenbanker, Soziologen und andere Apostel der Enthaltsamkeit ins Mark trifft, ist leicht nachzuvollziehen. Predigen sie doch einzeln und im Chor seit Jahren im Kern nichts anderes als Deflation: Weil die Gesellschaft permanent ĂŒber ihre VerhĂ€ltnisse lebe, mĂŒsse sie endlich den GĂŒrtel enger schnallen, um auf den Pfad der Tugend zurĂŒckzukehren.
Da es aber keine Inflation gab, ist Deflation die natĂŒrliche Folge einer solchen Politik. Das hatte man wohl nicht bedacht. Nun, wo die Deflation als konkrete Gefahr auftaucht, schweigen die Apologeten des Verzichts das PhĂ€nomen am liebsten tot oder erklĂ€ren es voreilig als wirtschaftspolitisch beherrschbar - obwohl sie die Politik, die dazu nötig ist, gerade nicht wollen. Der Doktor ahnt, dass seine bittere Medizin die Krankheit verschlimmert, aber er schweigt lieber.
Entartete Diskussion um Lohnnebenkosten
Nichts zeigt das besser als die zum Glaubenskrieg entartete Diskussion um Löhne und Lohnnebenkosten. Nichts, aber auch gar nichts lĂ€sst sich in Deutschland fĂŒr die These vorbringen, die Löhne oder Lohnnebenkosten seien im VerhĂ€ltnis zur ProduktivitĂ€t zu hoch. Eine niedrige Inflationsrate seit Jahrzehnten ist der beste Gegenbeweis, denn die Arbeitskosten sind die mit Abstand wichtigsten Kosten in einer Volkswirtschaft. Dies gilt heute mehr denn je.
Zwischen 1996 und 2002 stiegen die gesamten Arbeitskosten in GroĂbritannien pro Jahr nominal um 3,2 Prozentpunkte stĂ€rker als die ProduktivitĂ€t. In den USA lag dieser Wert bei 1,8, in Frankreich bei 1,1. In Deutschland stiegen die Arbeitskosten lediglich um 0,6 Prozentpunkte mehr als die ProduktivitĂ€t. Nur das akut deflationĂ€re Japan ĂŒbertraf die Bundesrepublik mit einem ZurĂŒckbleiben der Arbeitskosten von 1,2 Prozentpunkten im Vergleich zur ProduktivitĂ€t.
Ist das Zufall? Wo wollen all die Lohnsenker hin? Wer das Krankengeld allein die Arbeitnehmer zahlen lĂ€sst, senkt die Löhne. Auch wer den Beamten das Weihnachts- oder Urlaubsgeld streicht, Zahnersatz aus der Versicherung nimmt und Feiertage kassiert, senkt die Löhne. Jeder, der Lohnnebenkosten drĂŒckt, wĂ€hrend die Löhne selbst nicht steigen, vermindert die Arbeitskosten in deflationĂ€rer Weise.
Der Markt entscheidet, nicht der Staat
Das wollen wir aber nicht, werden die Reformer sagen. Die Kostensenkung soll den Unternehmen zugute kommen, die dann ArbeitsplĂ€tze schaffen. Dumm nur, dass in einer Marktwirtschaft der Wettbewerb und nicht der Staat darĂŒber entscheidet, ob die Unternehmen eine Kostensenkung behalten können oder in Form von Preissenkungen weitergeben mĂŒssen, und nicht der Staat. Ist, wie derzeit, die Nachfrage schwach und der Wettbewerbsdruck hoch, kann die Politik noch so guten Willens sein - sie kann den Unternehmen die Kostensenkung nicht zuschustern.
Deflation ist gefĂ€hrlich, weil sie die logische Folge der herrschenden Verzichtstendenzen in der Gesellschaft ist. Vor Inflation warnt jeder, vor Deflation warnen nur wenige. Wer japanische VerhĂ€ltnisse oder gar eine von Deflation geschĂŒrte Depression wie nach 1929 verhindern will, muss die Finger von den Arbeitskosten lassen. Wer die Lohnnebenkosten senken will, muss die Löhne entsprechend stĂ€rker erhöhen, damit aus der gut gemeinten Kostensenkung nicht eine böse Deflation wird.
Heiner Flassbeck ist Chefökonom der Unctad in Genf
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