- "Wer am lautesten jammert, bekommt am meisten" - vladtepes, 26.07.2003, 13:12
"Wer am lautesten jammert, bekommt am meisten"
-->Zukunftsforscher Horx über die deutsche Mentalität, Umdenken und die Arbeitswelt von morgen
Steuer- und Gesundheitsreform änderten an den Grundproblemen der Deutschen gar nichts, sagt Zukunftsforscher Matthias Horx. Es fehle ein Entwurf für die Gesellschaft von morgen.
Herr Horx, Sie sind Zukunftsforscher. Eigentlich ein beneidenswerter Job, wenn man an die Gegenwart und die doch sehr schlechte Stimmung in Deutschland denkt. Warum sind wir Deutschen so besonders miesepetrig?
Wir jammern halt gern. Wir sind schrecklich in eine Vergangenheit verliebt, die wir nachträglich idealisieren. Das hat sich in einem langen Zeitraum als gesellschaftliche Mentalität verfestigt - schon Goethe und Heine beklagten das. Es gibt Völker, die optimistischer sind. Und es gibt Kulturkreise wie unseren, in denen das Klagen und Jammern ein erlerntes Muster ist. Verstärkt hat das in den letzten 30, 40 Jahren noch der konsensuelle Sozialstaat - nach dem Motto: Wer am lautesten jammert und klagt, bekommt die meisten Subventionen. So hat unsere soziale Kultur in einer langen Zeit des Wachstums funktioniert.
Was drückt die Laune der Konsumenten am stärksten?
Zweifellos haben wir die Blütephase der klassischen Konsummärkte hinter uns. Einerseits merken die Menschen, dass die Zeit des stetigen Wirtschaftswachstums vorbei ist. Sie realisieren, dass sie nicht jedes Jahr einfach mehr Geld haben werden. Das ist nach 40 Jahren Wachstum eine völlig neue Erfahrung. Andererseits sind unsere Konsummärkte übersättigt und überreizt. Es fehlen echte Innovationen, mutige Dienstleistungen und spannende Angebote. Deshalb entsteht so etwas wie ein Konsumüberdruss, der sich in Verweigerung und Schnäppchenkauf ausdrückt.
Wird daran das Vorziehen der Steuerreform etwas ändern?
Kaum. Das ist ein panischer Schnellschuss der Politik, um über ökonomische Hebel Stimmungen zu verändern. Es dringt aber nicht zum Kern der Probleme vor. Was fehlt, ist ein plausibler Zukunftsentwurf für die Gesellschaft. Wohin gehen wir im 21. Jahrhundert? Die Zukunft wird teuer, das kann man allein mit Steuersenkungen nicht bewältigen. Das Problem ist, dass die Politik nicht in der Lage ist, eine spannende Vision zu formulieren, wo die Reise hingeht. Sie ist derzeit völlig zukunftsblind.
Wie sieht denn Ihre Zukunftsvision aus?
Wir könnten uns bewusst und aktiv für eine Hochbildungsgesellschaft entscheiden, in der wir auf vielfältige Art in geistige Ressourcen investieren. Wir könnten es machen wie die Finnen oder Kanadier, die ihr Schulsystem radikal umstellen und heute bis zu 70 Prozent Abiturienten haben. Wir könnten verstehen, dass die Zukunft von kreativer Wissenarbeit und hochintelligenten Dienstleistungen bestimmt wird - und dass wir unsere Kinder darauf vorbereiten können. Der Produktionsarbeiter wird wie der Bauer im vorigen Jahrhundert aussterben. Für diese neue Wissens-welt zu sparen oder Investitionen umzuschichten, das könnte man der Bevölkerung sicher vermitteln.
Was halten Sie von der geplanten Gesundheitsreform?
Es ist nicht mehr als ein Rasenmäher-Kompromiss, der hier oder dort versucht etwas abzuknipsen. Völlig unbeantwortet bleibt aber die Frage, wie sich Gesundheitssysteme in einer Individualkultur, die schrumpft und altert, derart gestalten lassen, dass unsere Lebensqualität steigt. Wie verändern wir das Verhalten der Menschen, dass sie gesünder leben, mehr Vorsorge treiben, mehr Spaß an ihrem Körper haben - und dadurch auch Kosten sinken? Das sind wichtige Fragen.
Die deutsche Gesellschaft altert. Angesichts der Belastungen der sozialen Sicherungssysteme - ob Rente oder Gesundheit - wird dies nur als Bedrohung wahrgenommen. Ist das gerechtfertigt?
Das ist wieder klassisch deutsch. Wir haben zum erstem Mal eine Gesellschaft mit einem weiten Lebenshorizont für viele, viele Menschen. Mit der Chance, mehrere Berufe auszuüben, weiterzulernen, neue Aufbrüche auch mit 50 zu wagen. Wir haben die Möglichkeit, eine"Kultur der Reife" zu entwickeln, in der sich die Menschen ganz andere selbst bestimmte Lebensziele setzen können. Aber wir sehen das alles nur negativ, als Verlust.
Ein gutes Beispiel ist der Aufbruch 50-jähriger Frauen, für den symbolisch Filmstars wie Iris Berben stehen. Hier wird ein Stück Befreiungs- und Emanzipationsgeschichte in der zweiten Lebenshälfte geschrieben. Ich kenne inzwischen eine Menge 60-Jähriger, die noch einmal beruflich durchstarten wollen.
Mit der Selbstverwirklichung ist es aber nicht mehr weit her, wenn die über 50-Jährigen aus dem Arbeitsprozess gedrängt werden. Da muss sich doch gewaltig etwas ändern?
In der Tat. Das war ein Fehler. Der hat etwas mit unserem überkommenen Bild von industrieller Arbeit zu tun, die fremdbestimmt, monoton und ermüdend ist, aus der man mit 50 auch verständlicherweise rauswill. Heute realisieren die meisten Unternehmen sehr wohl, dass sie sich damit um das Erfahrungswissen ihrer Mitarbeiter gebracht haben. Fast alle großen Unternehmen - von Deutscher Bank bis VW - arbeiten heute an Second-Age-Programmen, an Maßnahmen, mit denen sie ihre älteren Mitarbeiter in Zukunft sinnvoll im Unternehmen halten können. Hier gibt es also eine Trendwende.
Derzeit wird vom Arbeitgeberlager eine Debatte über längere Wochenarbeitszeiten und Lebensarbeitszeiten entfacht. Müssen wir länger arbeiten?
Die Arbeitsverhältnisse der Zukunft werden frei aushandelbar sein. Nur das passt zu einer Individualkultur, in der jeder Einzelne eine ganz andere Lebenssituation hat. Wenn wir Familie haben, wollen wir weniger arbeiten. Wenn wir jung und frisch sind, wollen wir nicht um drei Uhr nachmittags das Büro verlassen müssen, sondern wir"brennen", auch weil Arbeit mehr und mehr Selbstverwirklichung bedeutet. Wenn wir in einer Krisenbranche arbeiten, arbeitet man zeitweise auch mal kürzer, um danach, wenn der Laden brummt, ranzuklotzen. Ich denke, wir sollten uns von den alten, starren Rhythmen des Fabriksystems verabschieden. Das war damals, in Wilhelminien. Jetzt ist das 21. Jahrhundert.
Gibt es in ihrer frei aushandelbaren Individualgesellschaft noch Platz für Gewerkschaften?
Ja, aber nur als ADAC-Gewerkschaften, als serviceorientierte Provider von Dienstleistungen rund um die Arbeit. Arbeitslosigkeit oder Jobprobleme sind dann analog der Panne beim Auto. Wenn ich im Graben liege, sprich in der Arbeitslosigkeit, muss die Gewerkschaft kommen und abschleppen und reparieren, also mir bei der Arbeitssuche, bei der Weiterbildung, Neuorientierung meiner Ich-AG helfen. Solche Gewerkschaften der neuen Art gibt es schon in England, in Neuseeland, in Australien. Die Zeit der Klassenorganisationen ist vorbei.
Herrscht in der Zukunft Arbeitskräftemangel?
Ganz massiv. Es entstehen ja ganz neue Arbeitsnachfragefelder. Zum Beispiel in der professionellen Hausarbeit, denn Frauen gehen selbst arbeiten, ebenso in den Bereichen Wellness, Gesundheits-Empowerment, Entertainment, Pflege, Sport, Training, Coaching, Beratung, Weiterbildung. Das sind alles riesige neue Arbeitsmärkte. Bei uns aber kommen immer weniger junge Leute auf den Arbeitsmarkt.
Wann tritt der Arbeitskräftemangel ein?
Sehr schnell. Im Jahre 2010 wird die alte Arbeitslosigkeit der Vergangenheit angehören. Dann herrscht in den meisten Branchen Arbeitskräftemangel.
Das Interview führte Petra Wache.
<ul> ~ http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/wirtschaft/263310.html</ul>

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