- Zeit-Fragen: Wie imperiale Hybris zum Alptraum gerinnt - stocksorcerer, 30.07.2003, 10:41
Zeit-Fragen: Wie imperiale Hybris zum Alptraum gerinnt
-->Artikel 4: Zeit-Fragen Nr. 28 vom 28. 7. 2003
Wahn und Wirklichkeit
Wie imperiale Hybris zum Alptraum gerinnt
von Dipl.-Päd. Jürgen Rose, Deutschland*
Die anglo-amerikanischen Besatzungstruppen im Irak geraten immer tiefer in den Sumpf eines Kolonialkrieges.
Die tagtäglichen Verlustmeldungen vornehmlich der amerikanischen Okkupationsstreitkräfte im Irak wecken Reminiszenzen an eine beklemmende Szene aus dem Stalingrad-Epos «Hunde, wollt ihr ewig leben?»: Die Rote Armee hatte in Hörweite der eingekesselten Wehrmachtstruppen Lautsprecher in Stellung gebracht, um deren Widerstandswillen zu zermürben. In endloser Wiederholung ertönte das Paukenschlagmotiv aus Beethovens 5. Sinfonie, verknüpft mit der Sentenz: «Alle sieben Sekunden stirbt ein deutscher Soldat - Stalingrad - Massengrab.» Im Irak stirbt derzeit alle 24 Stunden ein amerikanischer Soldat, und mit der unerbittlichen Präzision eines Uhrwerks nähert sich die Verlustmarge, die in den Reihen der anglo-amerikanischen Besatzungstruppen zu verzeichnen ist - seit US-Präsident George W. Bush am 1. Mai in theatralischer Inszenierung das offizielle Ende der Kampfhandlungen erklärt und seinen grandiosen Sieg verkündet hatte - der Zahl der während des vierwöchigen Eroberungskrieges Gefallenen an.
Derweil meldet sich aus dem Off der angeblich entmachtete Diktator zu Wort. Mehrfach strahlte der arabische TV-Sender al-Jazzera letzte Woche Tonbänder aus, auf denen Saddam Hussein alle Iraker aufruft, sich am Widerstand gegen die Besatzungsmächte zu beteiligen. Geheimdienstkreise gehen davon aus, dass die erst im Juni aufgezeichneten Tonbänder authentisch sind. Gleichzeitig sprechen die Indizien immer deutlicher dafür, dass es sich bei den Attacken gegen die Besatzer nicht um singuläre Ereignisse, individuelle Racheakte oder zufällige Übergriffe handelt. Im Gegenteil:
Alle Erkenntnisse aus der Lageentwicklung deuten darauf hin, dass eine ausgewachsene Guerillaorganisation im Begriff steht, sich zu formieren. So hat sich unter dem Namen «Die Rückkehr» eine lose Gruppierung bewaffneter Angehöriger aus diversen Sicherheitsdiensten Saddam Husseins zusammengefunden. Daneben existieren zwei Milizen namens «Schlangen-Partei» und «Neue Wiederkehr». Die sogenannte «Irakische Nationale Front der Fedajjin» sowie die «Irakischen Widerstandsbrigaden» bilden weitere Organisationen. Allesamt verfolgen diese Guerillagruppen eine Strategie der systematischen Zerstörung der irakischen Ã-l- und Energieinfrastruktur mit dem Ziel, der Besatzungsmacht die Wiederherstellung stabiler staatlicher Strukturen und gesellschaftlicher Verhältnisse unmöglich zu machen. Dadurch suchen sie eine umfassende Kontrolle des Iraks seitens der anglo-amerikanischen Übergangsverwaltung zu verhindern. Flankierend sorgen Exekutionen von Kollaborateuren dafür, dass jegliche Zusammenarbeit mit der Besatzungsmacht ein tödliches Risiko bildet.
Ihre Operationsbasis hat die Guerilla im sogenannten «Dreieck des Todes», einer hauptsächlich von sunnitischen Gefolgsleuten Saddam Husseins bewohnten Region, deren Areal grob von den Städten Bagdad, Fallujah, Ramadi, Hit, Rawa, Tikrit, Balad und Baquba markiert wird. Bis dato geht das Konzept der Widerständler voll auf. Die angeblich mächtigste Militärmaschinerie der Welt kann weder die Sicherheit der Bevölkerung, geschweige denn die eigene garantieren. Die Versorgungslage ist katastrophal, es fehlt an Strom, sauberem Trinkwasser, Nahrungsmitteln, Benzin und Dieselöl; humanitäre Hilfslieferungen werden mit Waffengewalt geraubt, die archäologischen Stätten flächendeckend geplündert.
Ganz offenkundig ist die supermoderne High-Tech-Streitmacht der USA weder mental noch konzeptionell auf eine derartige Entwicklung und Situation vorbereitet gewesen. Der erste Schock bestand darin, dass die Invasoren vom irakischen Volk nicht wie erwartet als Befreier begrüsst und umjubelt wurden. Der zweite lag in der Erfahrung, dass selbst meilenweit überlegene amerikanische Rüstungstechnologie im asymmetrischen Krieg nur bedingt taugt. Der dritte Schock resultiert daraus, dass die US-Doktrin der «Full Spectrum Dominance» gegen einen fanatischen Gegner offenkundig nicht greift. Gemäss dieser soll der Krieg aus der Distanz geführt werden, vor allem mit überlegenen, weltraum- und luftgestützten Aufklärungssystemen, modernster Informations- und Führungstechnologie sowie konkurrenzlos überlegenen Luftkriegsmitteln. Bodengebundene Streitkräfte sollen tendenziell eigentlich nur noch den Luftkrieg mittels Aufklärung und Zielbeleuchtung unterstützen sowie sonstige Spezial- oder Kommandooperationen durchführen. Die zentrale Intention dabei: unbedingt eigene Verluste an Menschenleben vermeiden.
Die massenmedial in Szene gesetzte Heimkehr grösserer Mengen eigener Soldaten in schwarzen Leichensäcken wirkt sich nämlich ausgesprochen negativ auf die Wählergunst aus. Dementsprechend versuchen die US-Strategen auch, Streitkräfte für den stets mit erheblichen Verlustrisiken verbundenen Krieg am Boden unter den Vasallenvölkern zu rekrutieren. Im Falle Irak klappte das aber nicht, da weder die Kurden im Norden noch die Schiiten im Süden das Risiko eingehen wollten, ein zweites Mal von einem US-Präsidenten verraten zu werden. Diesmal also mussten US-Army und Marine Corps selber antreten.
Den Blitzkrieg gegen die irakische «Barfuss»-Armee haben sie erwartungsgemäss gewonnen - nicht zuletzt dadurch, dass gegnerische Kommandeure schlicht qua Bestechung vom Schlachtfeld weggekauft wurden. Den Frieden stiften - die weitaus schwierigere Herausforderung -, das scheint den High-Tech-Kriegern indessen nicht zu gelingen. Nicht einmal für Ruhe und Ordnung zu sorgen und die völkerrechtlich verbindlich fixierten Grundpflichten einer Besatzungsmacht zu erfüllen, erweisen sie sich als fähig - und prompt erschallt der Appell an Hilfeleistung durch das «alte Europa». An Unverfrorenheit und Dreistigkeit ist solch Ansinnen nicht zu überbieten: Dem Räuber wird der Boden unter den Füssen zu heiss, und in seiner Zwangslage sucht er Spiessgesellen - gegen Beteiligung an der Beute.
Der Eindruck liegt mithin nahe, dass Frieden zu sichern und zu stiften gar nicht den essentiellen Auftrag der US-Streitkräfte ausmacht. Vielmehr handelt es sich bei ihnen offenbar um ein auf einen einzigen Zweck hin optimiertes Instrument: nämlich siegreich Krieg zu führen. Mit diesem Militärapparat in Händen erweisen sich die USA mehr und mehr als Chaosmacht, die in Abkehr von Clausewitz den Krieg nicht mehr als «Fortsetzung von Politik unter Einmischung anderer Mittel» betreibt, sondern den Krieg per se zum Zweck erhebt. Legitimiert wird dieser als «Kampf gegen den Terror und Massenvernichtungswaffen». Als solcher kann er aber niemals endgültig gewonnen werden und lässt sich somit praktischerweise ad infinitum perpetuieren. Dies sichert den USA auf Dauer den Anspruch auf die Rolle der «Weltpolizisten». Auch zwingt die Suggestion permanenter Terrorgefahr die Vasallenvölker an die Seite ihrer Schutzmacht. Und schliesslich ermöglichen patriotische Verblödung und massenmedial inszenierte Meinungsmanipulation in Kriegszeiten die Aufrechterhaltung einer Illusion von Demokratie, die sich unter der Hand längst in eine mehr oder minder autoritäre Plutokratie verwandelt. Bei näherer Betrachtung also entpuppt sich der «Vierte Weltkrieg» (CIA-Direktor a. D. James Woolsey) unversehens im Kern als Operation zur Absicherung der ökonomischen Kolonialisierung des Planeten mit militärischen Mitteln.
Europa sieht sich demzufolge mit dem Umstand konfrontiert, dass die grösste Gefahr für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit auf absehbare Zeit vom Weissen Haus in Washington ausgeht. Eine autonom handlungsfähige «Europäische Verteidigungsunion» stellt die einzig tragfähige sicherheitspolitische Antwort auf diese Gefahr dar. Mit de Gaulle gegen Bush muss die Devise lauten!
*Dipl.-Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag seine persönlichen Auffassungen.
Artikel 4: Zeit-Fragen Nr. 28 vom 28. 7. 2003, letzte Änderung am 29. 7. 2003 #
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winkääää
stocksorcerer

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