- Arbeit: Sperrstunde in Deutschland (aus: Die Zeit, Nr. 33, 07.08.2003) - Sascha, 07.08.2003, 03:43
- ganz einfach... - fridolin, 07.08.2003, 09:08
Arbeit: Sperrstunde in Deutschland (aus: Die Zeit, Nr. 33, 07.08.2003)
-->Arbeit
<font size=5>Sperrstunde in Deutschland </font>
<font color="#FF0000">In den Arbeitsämtern verschärft sich das Klima. Längst sorgen neue Regeln und Gesetze für massiven Druck. Wirtschaftsminister Wolfgang Clement reicht das noch nicht </font>
Von Gunhild Lütge
Wochenlang wurde Martin Möller* vom Arbeitsamt <font color="#FF0000">quer durchs Ruhrgebiet geschickt, um sich als Elektriker zu bewerben</font>. Das Problem nur: Er ist gelernter Büroinformationselektroniker. Bei den Firmen schüttelte man nur mit dem Kopf. Einen Job fand er nicht. Ganz im Gegenteil:"Ich habe den Eindruck, dass das Amt versucht, mich zu zermürben und mich zu provozieren, diese sinnlosen Vermittlungsvorschläge abzulehnen", schrieb der Betroffene an quer, eine Zeitschrift für Erwerbslose. <font color="#FF0000">In solchen Fällen aber droht eine Sperrzeit</font>. Dabei hatte er das Amt gebeten, ihm doch solche Angebote zu machen, die <font color="#FF0000">"durchaus auch unterhalb, aber nicht völlig außerhalb meiner Qualifikation liegen"</font>.
Ein Drückeberger?
Ende vergangener Woche eröffnete Bild die alte Debatte aufs Neue."Minister Clement knallhart. Keine Stütze mehr für Faulenzer!", titelte das Boulevard-Blatt auf seiner ersten Seite. Hintergrund: Die rot-grüne Regierung will Mitte August die Arbeitslosen- und Sozialhilfe neu ordnen <font color="#FF0000">und künftig die Betroffenen massiv drängen, einen Job anzunehmen - egal welchen. Sonst wird der Geldhahn zugedreht</font>.
Vieles läuft nur noch mündlich
Offensichtlich möchte Wirtschafts- und Arbeitsminister Wolfgang Clement jetzt noch forcieren, was inzwischen sowieso schon gängige Praxis ist. In den Arbeitsämtern haben sich Klima und Druck längst verschärft, genau wie die Regeln und Gesetze, die Jobsuchende auf Trab halten sollen. Oder auch bestrafen. <font color="#FF0000">Dazu gibt es Sperr- und Säumniszeiten, in denen schon heute kein Geld mehr fließt. Ihre Zahl wächst drastisch. Verhängt werden sie, wenn jemand Jobs ablehnt, vielleicht auch nur einen Termin verpatzt oder nur zu spät kommt</font>.
Die 12000 Vermittler in den 180 Ämtern sollen sparen. Florian Gerster, der Chef der Bundesanstalt für Arbeit und ihr Dienstherr, hatte sich schließlich vorgenommen, in diesem Jahr ohne Zuschuss vom Bund auszukommen. Mutig, sagten die einen. Illusorisch, die anderen, weil sich abzeichnete, dass die Wirtschaft weiter lahmt und neue Jobs Mangelware bleiben.
Für den ambitionierten Reformer Gerster ist das ein Desaster: Er wird den Bundesfinanzminister voraussichtlich um sieben Milliarden Euro bitten müssen. Seine Einnahmen schrumpfen, die Ausgaben steigen. <font color="#FF0000">Und das vor allem, weil inzwischen immer mehr Arbeitslose aus gut bezahlten Positionen zu seiner Kundschaft zählen. Die reißt große Löcher ins Budget - und setzt einen Verdrängungswettbewerb in Gang</font>. Jeder vermittelte Top-Verdiener spart mehr als ein Langzeitarbeitsloser, der geringere Arbeitslosenhilfe bezieht.
An der Basis macht sich Sarkasmus breit."Die Verantwortlichen an der Spitze der BA schätzen zu Recht ein, dass mit einer gutwilligen Rückgabe der Gelder durch die Arbeitslosen nicht zu rechnen ist", heißt es bei den ver.di-Organisierten. <font color="#FF0000">Die Ideenliste zur Schröpfung der Arbeitslosen scheine schier unerschöpflich, ebenso der Druck auf die Kolleg(inn)en in der BA, diese Ideen umzusetzen</font>. <font color="#FF0000">"Konkret bedeutet das, jede mögliche und unmögliche Gelegenheit zur Verhängung einer Sperrzeit zu nutzen."</font>
In vielen Ämtern haben Controller akribisch aufgelistet, <font color="#FF0000">welche"Maßnahmen" dazu führen, dass Arbeitslosen zeitweise das Geld gestrichen werden kann</font>. <font color="#FF0000">Zum Beispiel, wenn sie in einem bestimmten Zeitraum nicht genügend Eigenbewerbungen präsentieren</font>. Vor derlei"aktiver Steuerung" bewahrte das Sozialgericht in Münster einen Betroffenen. Es befand, dass es nicht zumutbar sei, immerzu <font color="#FF0000">"sinnlose Bewerbungsversuche"</font> zu starten. Als <font color="#FF0000">effektiv </font>gilt auch die Masseneinladung zu einer Info-Veranstaltung an einem Brückentag oder in der Osterwoche.
Für eine Vermittlung sinnvoller erscheint es, beim potenziellen Arbeitgeber verstärkt nachzuforschen, warum es nicht zu einer Einstellung kam. Wenn Aussage gegen Aussage steht, könne künftig nicht mehr in allen Fällen der Grundsatz"in dubio pro reo" Anwendung finden, heißt es in einem Behörden-Papier. Das hat durchaus seine Gründe. Nicht selten werden Kandidaten beim Lügen ertappt. Im Zweifel aber auch gegen den Arbeitslosen? Das provoziert Konflikte.
Schriftstücke dieser Art sollen inzwischen aus dem Verkehr gezogen worden sein. Aus den Köpfen sind sie damit nicht verschwunden. Vieles läuft auch nur noch mündlich. <font color="#FF0000">Egal wie: Wo keine Arbeit ist, da nutzt auch kein Druck</font>. <font color="#FF0000">Im Juni kamen auf 4,4 Millionen Menschen ohne Job gerade einmal 347000 gemeldete offene Stellen </font>- für die Vermittler wenig Chancen auf Erfolg. Und so kam es, dass dieser Begriff plötzlich eine neue Bedeutung erhielt; zumindest bei den Controllern. Als Erfolg werten sie inzwischen auch die Zahl derer, die zwar ohne Arbeit bleiben, aber keine Leistung mehr beziehen.
Diese"Erfolgs"-Statistik kann sich inzwischen sehen lassen: <font color="#FF0000">Allein die Sperren wegen Arbeitsablehnung oder widrigen Verhaltens (also nicht jene, die wegen freiwilliger Arbeitsaufgabe verhängt werden) kletterten im ersten Quartal dieses Jahres um 65 Prozent</font>, <font color="#FF0000">im zweiten Quartal um fast 150 Prozent</font>. Absolute Zahlen verrät die Bundesanstalt für Arbeit hingegen nur bis Mai: Da waren es 51400. Zum Vergleich: Vermittelt wurden bis dahin gerade einmal 152000 Arbeitslose - in eine Beschäftigung über 7 Tage. Blieben die Vermittler auch im Juni und Juli bei ihrer strikten Praxis, <font color="#FF0000">dürften die Strafsperren inzwischen auf 85000 hochgeschnellt sein </font>- und damit auf fast so viel wie im gesamten vergangenen Jahr.
"Unser Beitrag ist in erster Linie, zu vermitteln und zu qualifizieren, aber auch, den Leistungsbezug da zu beenden, wo er ungerechtfertigt ist", sagte Hans Werner Walzel, der neue Chef des Münchner Arbeitsamtes, kurz vor seinem Amtsantritt im Juni. Theoretisch klingt das gut. Praktisch aber fühlt sich so mancher Vermittler offensichtlich in die falsche Rolle gedrängt. Man müsse ihnen erklären, so Walzel weiter"dass sie nicht zum Arbeitsmarktpolizisten degradiert werden, nur weil man den Begriff,fördern und fordern‘ ernst nimmt".
Überall kam das offensichtlich noch nicht an. So forderte die Personalversammlung des Arbeitsamtes in Frankfurt jüngst die Vorgesetzten auf,"nicht nur hinter vorgehaltener Hand den zuschussfreien Haushalt als illusorisch zu bezeichnen, sondern dies der Amtsleitung gegenüber auch laut und unmissverständlich zum Ausdruck zu bringen". Es wird befürchtet, dass sich"bei einem Teil der Kunden latent vorhandenes Konfliktpotenzial in gewaltsamen Aktionen gegen uns Beschäftigte entlädt". Das ist nicht übertrieben. Als Antwort auf eine Anfrage nach der Stimmung im Amt kamen in der Redaktion Fotos von demolierten Fluren an.
Manchmal aber sieht man die Dinge auch nur sportlich. In einigen Ämtern würden Hitlisten geführt, die aufzeigten, wer die meisten Sperrzeiten verhängt habe, berichten Mitarbeiter aus Nordrhein-Westfalen. Das spornt an.
Motivieren soll auch eine neue Regel, die von Juli an für alle gilt, die eine Kündigung erhalten. Wollen sie empfindliche Einbußen vermeiden, müssen sie sich sofort beim Arbeitsamt melden. <font color="#FF0000">Das gilt auch für all jene mit befristeten Verträgen. Sie müssen sich drei Monate vor deren Ablauf persönlich in die Behörde begeben - selbst dann, wenn sie guter Hoffnung sind, weiter beschäftigt zu werden</font>. Allen droht für jeden verstrichenen Tag ein Abschlag. Der kann sich auf 1500 Euro summieren.
Zwar haben die Arbeitgeber die Pflicht, ihre Mitarbeiter aufzuklären. Deren Personalabteilungen aber werden schnell darauf kommen, dass sich der Gesetzgeber einen dicken Schnitzer erlaubte. Denn im Text steht, dass sich die befristet Beschäftigten frühestens drei Monate vor Ablauf des Vertrages beim Amt einzufinden haben. Gemeint ist aber: spätestens, wie offiziell bestätigt wird. Ungeachtet dieser Panne sollen die Vermittler auf der Drei-Monats-Frist bestehen. <font color="#FF0000">Das gibt Ärger</font>.
Härtefälle vor dem Kadi
Weniger verwirrend, dafür um so krasser, fielen die neuen Vorschriften für die Arbeitslosenhilfe aus. Die wird schon immer nach Bedürftigkeit gezahlt. Und das heißt: <font color="#FF0000">Ab einem bestimmten Vermögen gibt es kein Geld vom Staat mehr</font>. Theoretisch ist auch das durchaus sinnvoll. <font color="#FF0000">Seit Jahresbeginn aber hat die rot-grüne Regierung die Freibeträge so drastisch reduziert, dass von Vermögen praktisch keine Rede mehr sein kann (siehe ZEIT Nr. 24/03)</font>. <font color="#FF0000">Selbst Lebensversicherungen, die als private Altersversorgung dienen, müssen oft aufgelöst werden."Das führt zu bislang nicht gekannten sozialen Härten"</font>, berichten Betreuer. Und zu unglaublichen Geschichten, die vor dem Kadi landen.
Der Fall: Ein Arbeitsloser kann wegen seiner geistigen Behinderung nur einfache Hilfsarbeiten verrichten. Seine Eltern hatten in seinem Namen Sparbriefe erworben. Das Geld sollte dem Sohn für seine Altersvorsorge, insbesondere aber für die Zeit nach dem Tod der Eltern zur Verfügung stehen. Als er Arbeitslosenhilfe beantragte, entschied das Amt, er sei nicht bedürftig und habe keinen Anspruch auf staatliche Hilfe. Das Landessozialgericht Rheinland-Pfalz war anderer Ansicht. Es kassierte den Beschluss.
Insgesamt haben die Kollegen der Vermittler in den Widerspruchstellen der Ämter mittlerweile gut zu tun. Schon im vergangenen Jahr stieg die Zahl der Beschwerden und Klagen um 12 Prozent auf 530000. Für das erste Halbjahr"gibt es keine Zahlen", wie eine Sprecherin der Bundesanstalt sagt.
Ein 52-Jähriger aus Thüringen versuchte es mit einem Brief an Florian Gerster. <font color="#FF0000">Zuvor verschickte er Hunderte von Bewerbungen - bundesweit, aber vergeblich."Ich kann und will es nicht hinnehmen, dass ich als arbeitsscheu und faul hingestellt und ab nächstem Jahr wahrscheinlich zum Sozialhilfeempfänger degradiert werde"</font>, so sein Appell.
Das, was das Bundeskabinett in der kommenden Woche beschließen soll, wird den Mann kaum beruhigen. Denn die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld soll verkürzt, die sich anschließende Arbeitslosenhilfe mit der Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II zusammengelegt werden. Doch was - vom Prinzip her - richtig ist, könnte sich für die Betroffenen als Kahlschlag erweisen. Denn künftig zahlt alles der Finanzminister. Und weil auch der kräftig sparen muss, soll sich die Leistung am Niveau der Mindestfürsorge orientieren. <font color="#FF0000">Das könnte für Ältere"zu einem für sie unabwendbaren existenziellen finanziellen und sozialen Abstieg führen"</font>, heißt es in einer Studie des renommierten Instituts für Arbeits- und Berufsforschung. Ziemlich spröde, aber deutlich.
<font color="#FF0000">Wer dann noch einen Job ablehnt, soll zunächst für drei Monate statt knapp 300 Euro im Monat nur noch 200 Euro erhalten</font>. Praktisch heißt das: Ein älterer und deshalb fast chancenloser Ingenieur, der nach längerer Arbeitslosigkeit nicht in die Klasse der Drückeberger absteigen will, <font color="#FF0000">muss jedes Angebot akzeptieren - wo auch immer und unabhängig vom Verdienst und seiner Qualifikation</font>. Junge"Faulenzer" unter 25 Jahren müssen damit rechnen, <font color="#FF0000">dass das Geld für diesen Zeitraum komplett gestrichen wird</font>.
Allerdings ist noch längst nicht sicher, was am Ende bei dieser Reform herauskommen wird. Denn ohne die Länderchefs geht gar nichts. Etliche aus ihren Reihen haben bereits Widerstand angekündigt. Den einen passt die künftige Kompetenzverteilung zwischen Arbeits- und Sozialämtern nicht. Die anderen fürchten, bei der Umverteilung der Finanzen zu kurz zu kommen. Von den sozialen Härten aber ist nur selten die Rede.
<font color="#FF0000">Es herrscht Sperrstunde in Deutschland.</font>
*Name geändert
[b] Quelle: (c) DIE ZEIT 07.08.2003 Nr.33
http://www.zeit.de/2003/33/Arbeits_8amter

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