- Was geschah 1980? Dottore? - chiron, 08.08.2003, 15:43
- Das Ei des Kostolany - HB, 08.08.2003, 16:20
- Re: Was geschah 1980? Dottore? Zusatz - chiron, 08.08.2003, 16:38
- Re: Was geschah 1980? Dottore? Zusatz - dottore, 08.08.2003, 17:06
- Re: Nur Volcker und Leutwiler - dottore, 08.08.2003, 16:57
- Re: Was geschah 1980? Was war denn da so gefährlich für das System?? (owT) - CRASH_GURU, 08.08.2003, 17:29
- Re: Was geschah 1980? Was war denn da so gefährlich für das System?? (owT) - chiron, 08.08.2003, 17:49
- Re: Was geschah 1980? Dottore? - sensortimecom, 08.08.2003, 18:04
Das Ei des Kostolany
-->Ich möchte dottore nicht ins Handwerk pfuschen, aber Kostolany hat zumindest einen Teil der Frage in"Die Kunst über Geld nachzudenken" beantwortet:
------------------------------------------------------------------------
Das Ei des Kostolany
Um beurteilen zu können, ob ein Markt übergekauft oder
überverkauft ist, muß man zunächst die Anatomie einer Auf-
und Abwärtsbewegung verstehen. Dabei müssen beide
zusammen betrachtet werden. Sie sind an der Börse ein
unzertrennliches Gespann. Erkennt man nicht das Ende einer
Abwärtsbewegung, kann man auch den Anfang einer
Aufwärtsbewegung nicht erkennen, und erkennt man nicht das
Ende einer Aufwärtsbewegung, kann man nicht den Anfang
einer Abwärtsbewegung voraussehen.
Meiner Erfahrung nach besteht jede Hausse und jede Baisse
an der Börse (sei es bei Aktien, Anleihen, Rohstoffen oder
Edelmetallen, also all jenen Märkten, auf denen spekuliert wird)
aus jeweils drei Phasen:
- der Phase der Korrektur;
- der Phase der Anpassung oder Begleitung;
- der Phase der Übertreibung.
Das Ei des Kostolany
A 1 = Phase der Korrektur (kleiner Umsatz, Zahl der Aktienbesitzer
gering)
A 2 = Phase der Begleitung (Umsatz und Zahl der Aktienbesitzer
steigend)
A 3 = Phase der Übertreibung (Umsatz wird euphorisch, Zahl der
Aktienbesitzer ist hoch, bei X am höchsten)
B 1 = Phase der Korrektur (kleiner Umsatz, Zahl der Aktienbesitzer geht
langsam zurück)
B 2 = Phase der Begleitung (Umsatz ist steigend, Zahl der Aktienbesitzer
ist niedrig, bei Y am niedrigsten)
Kaufen in der Phase A 1 und B 3
Abwarten und Papiere halten in der Phase A 2
Verkaufen in den Phasen A 3 und B 1
Abwarten und Bargeld halten in der Phase B 2
Weil die verschiedenen Phasen der Aufwärts- und
Abwärtsbewegung einander ablösen, stelle ich sie in einem
Kreisel dar, den ich das Ei des Kostolany genannt habe (siehe
Abbildung). Am Beispiel der Hausse von 1982 bis August 1987
und der anschließenden Baisse von August bis zum 19. Oktober
1987 möchte ich die Anatomie eines kompletten Börsenzyklus
erklären.
Wir beginnen 1982. am tiefsten Punkt des Kreisels am Ende
der Übertreibung nach unten. Die Kurse waren bereits über
Jahre auf Talfahrt gewesen. Auf dem Tiefpunkt der Krise
erschien in der Business Week eine Titelgeschichte mit der
Überschrift »Der Tod der Aktie«. Niemand wolle mehr Aktien
haben, die Leute würden sich nur noch für Gold, Immobilien
und Sachwerte aller Art interessieren, war der Tenor der
Geschichte. Die Situationsbeschreibung war nicht ganz falsch Å’
die Inflationsraten waren aufgrund der Ã-lpreiskrise zweistellig
und jeder versuchte sein Vermögen vor der Geldentwertung zu
schützen Œ, doch sie war auch nicht ganz richtig. Und an der
Börse ist eine halbe Wahrheit bereits eine ganze Lüge. Denn
obwohl angeblich niemand mehr Aktien haben wollte, wurden
an der Wall Street 50 Millionen Aktien pro Tag gehandelt. Das
bedeutet, daß 50 Millionen Aktien verkauft, aber eben auch 50
Millionen Aktien gekauft wurden. An der Börse steht jedem
Verkauf ein Kauf gegenüber, sonst würde es keinen Umsatz und
auch keinen Kurs geben. »Niemand wollte kaufen« oder
»niemand wollte verkaufen«, diese Sätze gehören zu den
dümmsten Formulierungen in den Börsenkommentaren.
Doch wer waren diese Käufer, die an den trüben Tagen 1982
die 50 Millionen Aktien gekauft haben? Ganz klar: die
Hartgesottenen. Sie decken sich zu Ausverkaufspreisen mit
Aktien ein, zu einem Zeitpunkt, an dem die Nachrichten aus der
Wirtschaft noch extrem schlecht sind. Dann beginnt die erste
Phase der Aufwärtsbewegung, die Korrektur.
Während dieser werden die Kurse, die zu tief gefallen sind,
bei geringen Umsätzen auf ein Niveau korrigiert, das
gewissermaßen realistisch und berechtigt ist. Die Käufer sind
immer noch die Hartgesottenen. Begünstigt wurde die Korrektur
Ende 1982 vom Faktor Geld, der mittlerweile positiv war. Der
US-Notenbank war es durch die vorherige Hochzinspolitik
gelungen, die Inflation abzuwürgen, und sie hatte die
Zinsschraube bereits gelockert, woraufhin auch die langfristigen
Zinsen zurückgegangen waren.
Dann wurden die Nachrichten aus der Wirtschaft und der
Politik zunehmend besser. Amerika befreite sich aus seiner
Psychose, in der es seit dem Vietnamkrieg und der Geiselnahme
in ihrer Teheraner Botschaft gesteckt hatte. Der Riese erwachte
wieder. Die meisten hatten geglaubt, er sei tot. Ich persönlich
war aufgrund meiner Erfahrungen als Flüchtling in New York
während des Zweiten Weltkriegs immer davon überzeugt
gewesen, daß er nur schlief. Ronald Reagan erweckte ihn wieder
zum Leben und gab den Amerikanern ihr Selbstbewusstsein
zurück. Zu diesem Zeitpunkt trat der Markt in die zweite Phase,
die ich die Phase der Begleitung nenne. Während dieser Zeit
entwickeln sich die Kurse bei leicht steigenden Umsätzen
parallel zu den laufenden Ereignissen. Sind sie gut, gehen die
Kurse berechtigterweise weiter nach oben. Sind sie schlecht,
bröckeln die Kurse wieder ab.
Mitte der 80er-Jahre waren die Ereignisse äußerst positiv. Die
Ã-lpreise brachen zusammen. Die OPEC, die die westliche Welt
in die größte Energiekrise gestürzt hatte, war besiegt. Die
Inflationsraten fielen auf fast Null. Paul Volcker, der damalige
Präsident der Federal Reserve Bank, konnte die Zinsen weiter
senken. Die Wirtschaft wies kräftige Wachstumsraten aus und
die Unternehmensgewinne explodierten, nicht zuletzt aufgrund
einer wirklichen Steuerreform, die den Spitzensteuersatz auf 28
und den Körperschaftsteuersatz auf 32 Prozent senkte. Millionen
neue Jobs wurden geschaffen.
Diese überaus positiven Nachrichten wurden von steigenden
Kursen begleitet, die wiederum weitere Käufer anzogen. Die
Käufer in der zweiten Phase, der Phase Begleitung, nenne ich
Mischlinge. Sie sind halb hartgesotten und halb zittrig. Es sind
Anleger, die sich traditionell für Aktien interessieren und bereits
eine gewisse Erfahrung haben. Sie erkennen noch rechtzeitig die
wieder haussierenden Kurse und steigen ein. Diese Käufe lassen
die Kurse weiter steigen.
An diesem Punkt der zweiten Phase besteht nun die Gefahr,
daß, begünstigt durch weitere positive Ereignisse, automatisch
in die dritte Phase übergegangen wird. In dieser Phase des
Bullenmarkts, der gemeinhin auch als Milchmädchen-Hausse
bezeichnet wird, kaufen die Zittrigen. Die Kurse springen bei
stark steigenden Umsätzen von Stunde zu Stunde in die Höhe.
Die Kurse und die Stimmungen eskalieren wechselseitig. Die
gestiegenen Kurse erzeugen eine rosige Stimmung, und diese
treibt die Kurse jetzt noch weiter in die Höhe. Sie haben keine
Bedeutung mehr, sind ausschließlich von der Masseneuphorie
bestimmt.
In einer derartigen Stimmung sagte Sir Isaac Newton, der
selbst ein leidenschaftlicher Spekulant war und sein ganzes Geld
in dem Londoner Seifenblasenkrach verloren hat: »Die Bahn der
Himmelskörper kann ich auf Zentimeter und Sekunden
berechnen, nicht jedoch, wohin eine verrückte Menge einen
Kurs treibt.«
Zu Beginn des Jahres 1987 trat der Markt in die dritte, die
Phase der Übertreibung. Die fünfjährige Hausse mit einem
Kursanstieg von rund 200 Prozent übte eine enorme
Anziehungskraft auf das breite Publikum aus. Die Zittrigen, die
zwischen 1980 und 1982 der Aktie abgeschworen, ihre Papiere
frustriert zu Tiefstpreisen verkauft und ihr Geld in Sachwerte
investiert hatten, wollten jetzt schnell wieder einsteigen. Sie
kaufen immer dann, wenn in den Massenmedien von der großen
Aktienhausse berichtet wird und auf jeder Party Aktien das
Thema Nummer eins sind. Ihre Freunde prahlen mit großen
Aktiengewinnen, und da wollen sie unbedingt dabei sein. Fast
panisch kaufen sie alles, was bereits stark gestiegen ist. Sie
suchen nicht nach unentdeckten, unterbewerteten Aktien,
sondern steigen dort ein, wo ihre Freunde angeblich bereits das
große Geld gemacht haben. Kurzum, sie kauften die Aktien, die
gerade in Mode sind. Und wer verkauft den Zittrigen die Aktien
zu Rekordpreisen? Natürlich die Hartgesottenen, die unten
gekauft haben.
Die Phase der Übertreibung kann eine Zeit lang andauern, und
die Hausse kann noch weitergehen, vor allem solange der Faktor
Geld noch positiv ist. Sie findet erst ihr Ende, wenn alle Papiere
aus den starken Händen der Hartgesottenen in die schwachen
Hände der Zittrigen gewandert sind. Dann haben die Zittrigen
kein Bargeld mehr, sondern die Hände voll mit Papieren, die sie
sogar auf Kredit gekauft haben, und die Hartgesottenen haben
das Bargeld. Jetzt warten die Zittrigen auf noch Zittrigere, die
ihnen die Papiere zu noch höheren Preisen abkaufen. Aber die
gibt es nicht. Und die Hartgesottenen, die auf Bargeld sitzen,
kaufen zu diesen Kursen nicht. Wenn dann der Faktor Geld noch
negativ wird, ist der Zusammenbruch vorprogrammiert.
Als ich Anfang 1987 in einem meiner Vorträge vor der
Überhitzung warnte, weil sich meiner Ansicht nach zu viele
Papiere in den Händen der Zittrigen befänden, stellte mir ein
junger Mann eine provozierende Frage:
»Herr Kostolany, wie ich lese und höre werden heutzutage 90
Prozent der Umsätze von Fondmanagern und institutionellen
Anlegern getätigt. Sollen das etwa auch Zittrige sein?«
Mein Antwort war kurz: »Ja, natürlich sind das auch Zittrige.
Sie sind keine Milchmädchen, aber sie verhalten sich wie diese.
Sie laufen der Masse hinterher und haben weder das G für
Gedanken noch das G für Geduld.«
Die bei den institutionellen Anlegern verantwortlichen
Money-Manager waren die so genannten Golden Boys Å’ die
Symbolfiguren für die Yuppies der 80er-Jahre. Die
Investmentbanken, Fondgesellschaften und Versicherungen
hatten sie mit Riesengehältern von Havard und der London
School of Economics in ihre Handelsabteilungen geholt. Wer
unterschrieb, konnte zwischen Mercedes, BMW, Jaguar oder
Porsche wählen. Diese Grünschnäbel zwischen 25 und 30 Jahren
hatten weniger Erfahrung als jeder Börsenlaufbursche und
sollten Hunderte von Millionen verwalten. Und im August 1987
ging Ihnen auch noch das G für Geld aus. Sie waren sogar
vollkommen überinvestiert Œ nicht am Aktienmarkt, sondern an
der Terminbörse.
Nachdem die Rohstoffhausse vorbei war, mussten sich die
Terminspieler etwas Neues einfallen lassen. Und so begannen
sie mit dem Handel von Terminkontrakten auf Aktienindizes.
Aktienindizes gab es schon immer. Einer der ältesten und der
wohl bekannteste ist der Dow-Jones-lndex. Er ist an sich ein
kleiner Index, da er den Durchschnittskurs von nur 30
Unternehmen wiedergibt. Es handelt sich dabei zwar um die 30
größten amerikanischen Unternehmen, doch gibt es andere
Aktienindizes, wie zum Beispiel den Standard and Poorâ„¢s 500,
der diese 30 Aktien und noch 470 andere Wert umfasst. Auf den
S&P 500, wie der Index kurz genannt wird, hatte man einen
Terminkontrakt kreiert. Er hat eine Kontraktgröße von 500
multipliziert mit dem Index. Zum damaligen Stand von rund 340
Punkten ergab sich ein Wert von rund 170 000 Dollar. Der
Einschuss, den man hinterlegen mußte, um einen Kontrakt
handeln zu können, betrug gerade mal 6000 Dollar, was einer
Kapitaldeckung von weniger als fünf Prozent entsprach. Das
war genau genommen nichts anderes, als würde man mit
weniger als fünf Prozent Eigenkapital und zu 95 Prozent auf
Kredit spekulieren. Eine Relation, die noch perverser war als die
1929, wo zumindest zehn Prozent Eigenmittel hinterlegt werden
mussten.
Die Funktionsweise des Terminmarktes ist jedoch viel
schneller und effizienter als der Aktienmarkt 1929. Ist man zum
Beispiel long in einem Terminkontrakt und der Markt geht
zurück, dann wird man umgehend vom Broker aufgefordert, die
nötige Sicherheitsdeckung, die so genannte Margin, wieder
aufzufüllen. Kommt man diesem Margin-Call nicht nach, wird
die Position automatisch zwangsliquidiert. Ob der Kunde bei
dem jeweiligen Brokerhaus mit anderen Sparguthaben oder
großem Immobilienbesitz als solvent bekannt ist, was ihn in der
Schweiz oder auch in Deutschland sicher retten würde, spielt
dabei überhaupt keine Rolle. Die Regeln der Terminbörsen
zwingen die Broker zur sofortigen Exekution, wird die Margin
nicht gleich wieder aufgefüllt.
Diese neue Variante der Spekulation eröffnete auch der
Arbitrage ein neues Spielfeld. Computergesteuert kaufen die
großen Investmentbanken Terminkontrakte in Chicago, wenn
diese billiger sind als die Aktien in New York, und umgekehrt
(siehe dazu Seite 33, »Arbitrageure«) Die Index-Arbitrage
verbindet den New Yorker Aktienmarkt mit dem Terminmarkt
in Chicago wie zwei kommunizierende Röhren.
Die geringen Einschüsse entfesselten 1987 ein
hemmungsloses Spiel in diesen Indexkontrakten. Fast
regelmäßig war das Volumen der in New York umgesetzten
Aktien geringer als das aller in Chicago an einem Tag
gehandelten S&P-500-Kontrakte, was den Terminmarkt zur
dominierenden Kraft werden ließ. Nicht mehr der Hund wedelte
mit dem Schwanz, sondern der Schwanz mit dem Hund. Die
Golden Boys waren voll engagiert und trieben mit ihren
Indexkäufen den Markt weiter nach oben. Ein Rekord im Dow-
Jones nach dem anderen wurde mit Champagner begossen. Die
Broker freuten sich über immer höhere Umsätze und versuchten,
weitere Anleger in die Spielhölle hereinzulocken. Ein
Börsenguru namens Robert Prechter, der mit Hilfe der Elliot-
Wellen einen Dow-Jones von 3686 für 1988 voraussagte, war
der Star der Anleger. Seine Berühmtheit war ein klares Indiz
dafür, daß sich die Papiere bereits überwiegend in den Händen
der Zittrigen befanden. Jeder nur ein wenig erfahrene Börsianer
würde niemals einem Guru hinterherlaufen, der behauptet, den
Dow-Jones auf den Punkt genau vorhersagen zu können. Man
kann optimistisch oder pessimistisch sein, aber was Prechter
machte, war eine Beleidigung des gesunden
Menschenverstandes.
In ihrer Euphorie bemerkten die Zittrigen nicht, daß der
Faktor Geld mittlerweile negativ war. Die
Geldmengenexpansion war in den vorangegangenen Jahren der
Motor der Hausse gewesen. Der mittlerweile im Amt
befindliche Notenbankpräsident Alan Greenspan wollte
Inflationsgefahren vorbeugen und hob die Zinsen von
Jahresanfang 1987 bis zum Sommer mehrmals an. Am
Kapitalmarkt stiegen die Zinsen der lang laufenden Anleihen um
rund zwei Prozentpunkte. Im August ging dem Dow-Jones dann
bei 2722 Punkten die Puste aus. Die Kurse begannen mit der
ersten Phase der Abwärtsbewegung, der Korrektur. In dieser
reichen wenige Verkäufe, um die Kurse abbröckeln zu lassen, da
es an neuen Käufern fehlt. Von August bis Oktober gingen die
Kurse zunächst langsam zurück. Die Börsianer wurden
zunehmend nervös und die rückläufigen Kurse führten zu
weiteren Verkäufen. Mitte Oktober trat der Markt dann in die
Phase der Begleitung. Zwischen den USA und Deutschland gab
es Spannungen. Amerika hatte gegenüber Europa und speziell
gegenüber Deutschland ein großes Handelsbilanzdefizit. Sie
forderten Deutschland auf, endlich die Binnenkonjunktur
anzukurbeln, damit auch US-Unternehmen nach Europa
exportieren könnten. Die Forderung war durchaus berechtigt,
denn die Bundesbank, deren Vizepräsident damals Helmut
Schlesinger war, fuhr einen übermäßig restriktiven
geldpolitischen Kurs, der in der ganzen Welt Kritik erntete.
Am Donnerstag und Freitag stürzten die Kurse bereits um
jeweils 100 Punkte, was damals über vier Prozent bedeutete. Die
Stimmung war nervös und auf das Äußerste gespannt. Als dann
am Wochenende der damalige US-Finanzminister James Baker
drohte, den Dollar noch weiter fallen zu lassen, wenn die
deutsche Bundesbank nicht bereit sei, durch eine Zinssenkung
die Binnenkonjunktur anzukurbeln, stürzte der Markt in die
dritte Phase der Abwärtsbewegung, die Übertreibung.
In dieser erzeugen allein die fallenden Kurse einen schwarzen
Pessimismus, der wiederum auf die Preise drückt, und die Kurse
fallen wie Blätter im Herbst. Diese Baissewelle der letzten
Phase dauert immer so lange, bis ein psychischer Elektroschock
aus irgendeiner Richtung den Teufelskreis zu durchbrechen
vermag. Wenn der Elektroschock nicht kommt, obwohl
Argumente für die Gegenrichtung bereits vorhanden sind, dann
toben sich die Kurse nach unten aus.
Am 19. Oktober blieb der Elektroschock aus. Den Golden
Boys ging auch noch das letzte für Glück stehende G aus. Durch
die bereits in der Vorwoche stark gefallenen Kurse waren viele
ihrer Terminpositionen nachschusspflichtig. Doch sie waren
nicht willens oder konnten nicht nachschießen. Der 19. Oktober
begann mit einer Reihe von Zwangsexekutionen, die den S&P-
Kontrakt weiter in die Tiefe rissen. Die Kursverluste machten
weitere Positionen nachschusspflichtig und lösten die nächste
Welle von Zwangsverkäufen aus, die wiederum für weitere
Kursverluste sorgten. Die Lawine war nicht mehr aufzuhalten.
Zusätzlich zu diesen Verkäufen, die bestehende Long-Positionen
schlossen, verkauften die Golden Boys weitere Kontrakte short,
um ihre Aktienpositionen, die sie an Wall Street hatten,
abzusichern. Anstatt alle Aktienpositionen einzeln zu verkaufen,
verkauften sie lieber leer den Betrag in Terminkontrakten, was
wesentlich einfacher, schneller und vor allem spesengünstiger
war.
Diese Strategie ist auch heute noch die große Mode unter den
jungen Money-Managern. Sie nennen es Portfolio Insurance
(Portfolio-Versicherung). Ein Unsinn an sich. Denn die
Versicherung funktioniert nach dem Motto: Ich verkaufe mein
Haus, um es gegen Feuer zu versichern. Ich kann auch nicht
verstehen, wie selbst erfahrene Kollegen davon sprechen, daß
sie sich am Terminmarkt abgesichert hätten. Es reicht ein Satz:
Ich habe verkauft. Versichern kann man sich nur durch den Kauf
von Verkaufsoptionen, was auf die Dauer jedoch sehr
kostspielig wird.
Die Portfolio-Insurance-Verkäufe trieben den Markt weiter
nach unten. Die Index-Arbitrage lief derweil natürlich auf
Hochtouren. Der Terminmarkt stand ständig tiefer als der
Kassamarkt, was dementsprechend Verkäufe an der Wall Street
und Käufe in Chicago auslöste. Doch diese Käufe waren nicht in
Lage, den Kursverfall auf dem Index-Terminmarkt, ausgelöst
durch die Zwangliquidation Tausender kleiner und großer
Spieler, aufzuhalten. Alle wollten nur noch durch eine Tür. So
wie in einem Kino, in dem einer Feuer schreit und alle durch die
kleine Tür hinaus wollen. Am Ende gibt es sogar Tote und
Verletzte, obwohl kein Zündholz gebrannt hat. Ich war am 19.
Oktober zufällig bei einem Broker. Ich saß da und hörte wie
ununterbrochen das Telefon klingelte. Die Kunden riefen
aufgeregt an. Doch sie gaben nicht wie üblich den Auftrag:
»Verkaufen Sie die Papiere X und halbieren sie die Position Y!«
Die Zittrigen, die zuvor bei den hohen Kursen eingestiegen
waren, gaben nur noch einen Auftrag: Alles verkaufen! Zum
Börsenschluss um 16.00 Uhr hatte der Dow-Jones-lndex 508
Punkte verloren. Der Krach war da.
Und wer kaufte die Papiere zu den Schleuderpreisen am 19.
Oktober 1987? Ganz klar! Die Hartgesottenen. Sie hatten das
Geld und auch die Nerven. Die Zittrigen hingegen hatten
ausverkauft und leckten ihre Wunden. Man suchte einen
Schuldigen. Denn gewinnt der Börsianer, schreibt er sich den
Erfolg selbst zu. Verliert er jedoch, ist immer ein anderer schuld.
Der Schuldige war schnell ausgemacht: die Computer, die den
Programmhandel betrieben. Eine Täterrolle, die der arme
Computer natürlich nicht ausfüllen konnte. Genauso wenig wie
das Besteck, mit dem man einen schlechten Fisch gegessen hat,
an der Magenverstimmung schuld ist. Schuld ist nur der faule
Fisch oder, um in der Wall-Street-Sprache zu sprechen, die
Golden Boys.
Doch unbenommen, ob die Aussage James Bakers berechtigt
oder unberechtigt war, sie war der Nadelstich in den
geschwollenen Ballon und die Börse stürzte zusammen. Ein
Ereignis, das ich unter diesen Umständen durchaus erwartet
hatte. Wären die Papiere in den Händen der Hartgesottenen
gewesen, hätte die Börse von Bakers Aussage wahrscheinlich
überhaupt keine Notiz genommen. Was jedoch auch mich
überraschte war die Tatsache, daß die dritte Phase an nur einem
Tag ablief. Einen Kurssturz um 22 Prozent oder auch noch mehr
habe ich unzählige Male erlebt, aber eben nicht in dieser
Geschwindigkeit. Ich fühlte mich etwa so wie der Europäer, der
in Amerika lebt und sich bei seinem New Yorker Freund über
das amerikanische Wetter beklagt:
»Der Winter ist zu kalt, der Sommer zu heiß und Frühling und
Herbst taugen eh nichts.«
»Habt Ihr denn nicht auch vier Jahreszeiten in Europa?«, fragt
ihn sein Freund.
»Doch«, entgegnet er, »aber nicht am selben Tag.«
Viele Journalisten fragten mich damals, ob ich viel verloren
hätte. Ich entgegnete: »Verloren? Das ist ja ein Witz. Ich habe
nichts verloren. Die Papiere, die ich habe, stehen auch heute
noch ein vielfaches höher, als ich sie gekauft habe.«
Dem reichsten Mann Frankreichs, der Großaktionär bei
mehreren französischen Unternehmen und gewichtigster
Anteilseigner der größten Versicherung AGF ist, stellte man die
gleiche Frage. Woran man erkennen kann, wie dumm viele, die
sich im Börsenzoo tummeln, doch sind. Herr X verkauft seine
Aktien doch nicht, weil die Börsen schwächer werden können.
Wenn er verkaufen würde, dann gingen die Papiere allein
deswegen zurück. Genauso könnte man die Familie Quandt,
Großaktionär von BMW und eine der reichsten Familien in
Deutschland, fragen, ob sie viel verloren habe, wenn die BMW-
Aktie aus irgendeinem Grund zurückgeht. Verloren hat nur
derjenige, der hoch kauft und tief verkauft. Das habe ich nicht
getan. Und deshalb war ich auch nicht nervös. Viele unserer
Freunde erkundigten sich nach dem 19. Oktober 1987 bei
meiner Frau nach meinem Wohlbefinden. Sie fragten: »Wie geht
es André. Ist er nervös?« Œ »Nervös? Ich kann nichts feststellen.
Er sitzt in seinem Sessel und hört Musik, so wie immer«,
antwortete meine Frau. Wenn ich voll bezahlte Papiere habe,
was mir bereits seit vielen Jahren Gesetz ist, bin und war ich bei
Kursstürzen eigentlich immer ruhig. Wenn ich merke, daß sich
dennoch ein wenig Unruhe in mir breit machen will, denke ich
immer an meinen guten alten Freund Eugène Weinreb, einen
routinierten Börsenfuchs, der bereits im Alter von zehn Jahren
mit dem Spekulieren begonnen hatte. Eines Tages kam sein
Sekretär voller Aufregung zu ihm. »Die Papiere gehen
dramatisch zurück, was sollen wir tun?« Er antwortete völlig
gelassen: »Die Papiere gehen zurück? Soll ich mich aufregen?
Ich war drei Jahre in Auschwitz -«
Aber nicht alle meine Freunde waren so gelassen. Kurz nach
dem Krach traf ich meinen lieben und intelligenten Freund
Heiko Thieme auf dem Flughafen. Er war jahrelang der Wall-
Street-Experte der Deutschen Bank und managt heute in New
York einen eigenen Fonds. Ich schätze ihn sehr, weil er genau
wie ich Optimist ist, wenn auch manchmal etwas überzogen.
Das stört mich aber überhaupt nicht, und er ist mir tausend Mal
lieber als die Schwarzmalerei der Crash-Gurus. Ich konnte mich
allerdings nicht des Eindrucks erwehren, daß er gestresst und
nervös war. Ich weiß nicht, welche Engagements er hatte.
Möglicherweise war mein Freund long in S&P-500-Kontrakten,
was damals die neue Mode war, oder vielleicht hatte er
Schulden auf seine Papiere. Und wie man dadurch ins
Schwitzen kommen kann, habe ich durch meine eigenen
Erfahrungen illustriert.
Ich stand 1987 nicht mehr auf der Käuferseite und hatte
Barreserven, was meine Position sehr komfortabel machte. Das
eine oder andere Papier habe ich sogar verkauft, weil ich mit
einem größeren Rückschlag rechnete. Das kann nachher
natürlich jeder sagen, doch ich habe einen Beweis. In Capital,
wo ich seit nunmehr 30 Jahren Kolumnist bin, schrieb ich im
Oktoberheft 1987, daß am letzten Freitag im September
erschien: »Auch die Wall Street ist keine Einbahnstraße. Der
nächste Einbruch kommt deshalb bestimmt.« Eine
Binsenweisheit, mag man denken. Diese Aussage kann natürlich
jeder machen, denn Einbrüche kommen immer irgendwann.
Doch meine Leser wissen, daß ich solche Warnungen dann
ausstoße, wenn ich auch eine Gefahr sehe. In den Kolumnen
schrieb ich während der Hausse der 80er-Jahre häufig über die
Wall Street, aber nie in diesen Tönen. Ich war jedenfalls
seelisch, mental und materiell vorbereitet. Ich hatte Cash in
Reserve. Dass es dann weniger als einen Monat dauerte, bis der
Krach passierte, war nur Glück. Das konnte ich auch nicht
wissen. Ich spürte durch meine erfahrene Nase nur, daß es nach
Pulver roch.
Aber es war nicht die einzige Prognose, die ich in der
besagten Kolumne machte. Der Vorspann ging folgendermaßen
weiter: »Doch langfristig wird es am amerikanischen
Aktienmarkt aufwärts gehen Œ den Sowjets sei Dank.« Diese
Prognose war ein wirklicher Volltreffer. Wie wir wissen, steht
der Dow-Jones-Index heute bereits rund viermal so hoch wie vor
dem Krach 1987. Die sich abzeichnende Entspannung zwischen
den Sowjets und den Vereinigten Staaten machte mich so
optimistisch.
Einen Tag nach dem Krach hielt ich einen Vortrag im
Deutschen Museum in München. Mein Koreferent war kein
geringerer als der damalige Außenminister der Bundesrepublik,
Hans-Dietrich Genscher. Er sprach über Außenpolitik und ich,
wie sollte es anders sein, über die Börse. Ich verkündete großen
Optimismus für die Finanzmärkte und die Weltwirtschaft. Die
Süddeutsche Zeitung widmete mir am nächsten Tag eine halbe
Seite, weil es, wie sie in dem Artikel selbst zum Ausdruck
brachte, so angenehm war, endlich mal einen Optimisten zu
hören. Was mich bereits einen Tag nach dem Krach so
optimistisch machte, war die damalige Äußerung des US-
Notenbankpräsidenten Alan Greenspan: »Die Federal Reserve
steht der Wirtschaft mit allen Mitteln zur Verfügung und wenn
nötig werde ich die Banken in Liquidität baden.« Damit war für
mich die Krise gelöst. Eine Wiederholung von 1929 war
ausgeschlossen. Diese Aussage Greenspans war für jeden
Hartgesottenen das Signal zum Einstieg. Der Faktor Geld war
wieder positiv und der nächste Aufschwung somit nur eine
Frage der Zeit.
Die Volkswirte sahen das ganz anders. Sie rechneten mit einer
schweren Wirtschaftskrise. In Washington trafen sich 33
Wirtschaftsprofessoren. Mein damaliger Kommentar war kurz
aber vielsagend: »33 Professoren, o schöne Welt, du bist
verloren.«
Nach dem 19. Oktober 1987 pilgerten auch viele
Sensationstouristen nach New York. Sie dachten, die Wall-
Street-Magnaten würden wie 1929 aus den Fenstern springen.
Doch sie warteten vergebens. Niemand sprang. Rund 50 000 der
Golden Boys verloren zwar ihre Jobs, doch ihr Leben verloren
sie glücklicherweise nicht. Und die Kündigungswelle war nicht
bedauerlich, sondern eine gesunde Bereinigung. Schließlich
waren es die Golden Boys, die aus der Wall Street ein
Spielcasino gemacht hatten.
Auch Guru Robert Prechter schwenkte ins Lager der
Pessimisten um. Fortan prognostizierte er einen Dow-Jones von
unter 1000 Punkten. Tatsächlich markierte der 19. Oktober
bereits den tiefsten Stand. Es folgte die Korrektur, und da sich
die Wirtschaft entgegen der Prophezeiungen der Professoren
weiter nach oben entwickelte, konnten die Kurse weiter steigen
und in die Phase der Begleitung durch gute Nachrichten
übergehen. Und was waren das für Nachrichten? Der Zerfall der
Sowjetunion, die deutsche Einheit und ein neues
technologisches Zeitalter.
1998 kam es dann wieder zu Übertreibungen. Jeder wollte
mitmischen. Besonders am Neuen Markt in Deutschland tobte
ein wildes Spiel. Selbst Leute, die zwei Jahre zuvor noch nicht
wussten, was Börse überhaupt ist, bekamen Appetit und wurden
zum Schluss fress-, sprich: börsensüchtig.
Ein Rückschlag mußte kommen. Es fehlte nur der Nadelstich
in den aufgeblasenen Ballon. Und tatsächlich kamen gleich drei
Nadelstiche: Die Südostasienkrise, die verheerende Lage der
russischen Finanzen und die berechtigte Warnung Alan
Greenspans vor übertriebener Spekulation brachten die Kurse
zum Einsturz. Wieder wurde eine weltweite Rezession und
Deflation prognostiziert. Die amerikanische Notenbank öffnete
die Geldschleusen, um einen Zusammenbruch des
Weltfinanzsystems zu vermeiden. Dieser Schritt war für den
hartgesottenen Börsianer das definitive Signal zum Einstieg. Der
Faktor Geld war wieder positiv. Die Kurse erholten sich fast so
schnell, wie sie gefallen waren, und wie es nicht anders zu
erwarten war, blieben die von Volkswirten prognostizierte
Rezession und Deflation aus.
Und wo stehen wir heute? Der Krach von 1998 wurde am
Markt nicht so stark bereinigt wie der Krach von 1987. Die
Übertreibungen sowohl nach oben als auch nach unten waren
diesmal nicht so stark. Die Erholung kam zu schnell, um alle
Zittrigen aus dem Markt zu werfen. Trotzdem, die Angst ist ein
Jahr später größer als 1998, obwohl der Index seinen alten
Rekord schon wieder überboten hat. Ich glaube, daß wir zur Zeit
am Ende der zweiten Phase stehen. Euphorie kann ich nicht
erkennen.
Fürchteten sich die Börsianer vor knapp einem Jahr vor der
Deflation, ist es jetzt die Furcht vor Inflation und steigenden
Zinsen. Erst wenn immer klarer wird, daß die Wirtschaft
aufgrund der rasant steigenden Produktivität weiter inflationsfrei
wächst, dürfte die Euphorie kommen und der Markt in die dritte
Phase der Aufwärtsbewegung eintreten. Ein größerer
Rückschlag wäre dann wie immer nach einem Boom
unvermeidbar.
Doch auch dann bleibe ich bei meiner Prognose vom Oktober
1987. Langfristig wird es am amerikanischen Aktienmarkt
aufwärts gehen!

gesamter Thread: