- Gastkommentar: Abschied von der Pflegeversicherung - Sascha, 11.08.2003, 12:48
Gastkommentar: Abschied von der Pflegeversicherung
-->GASTKOMMENTAR
<font size=5>Abschied von der Pflegeversicherung</font>
Von Christoph Keese
Auch wenn nun von allen Seiten auf den 23-jährigen JU-Chef eingedroschen wird, Philipp Mißfelder hat auf ein wichtiges Problem hingewiesen. Mit der Pflegeversicherung scheitert ein weiteres Relikt des Blümschen Sozialstaats an <font color="#FF0000">seinem übertriebenen Vorsorgeanspruch</font>.
Drücke dich immer so aus, dass auch die radikalste Verkürzung deiner Aussage immer noch kompatibel mit dem herrschenden Konsens ist. Wie wichtig das ist und wie brutal die Politindustrie auf jeden eindrischt, der davon abweicht, dürfte Mißfelder nun begriffen haben.
Wörtlich hatte Mißfelder in einem Interview gesagt:"Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen." Behauptet wurde danach sofort, er habe ein Verbot von Hüftoperationen für Ältere gefordert. Das hat er aber nicht getan. Mißfelder sprach nur von der Finanzierung solcher Operationen. Dafür bekam er Klassenkeile: Von der seniorenpolitischen Sprecherin der Fraktion bis zu Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber attackierten ihn führende Parteifreunde als inhumanen Yuppie.
Nun ist Mißfelder nicht der hellste Kopf in der Union. Seine Beiträge waren bisher schlicht im Inhalt und überzogen aggressiv in der Form. <font color="#FF0000">Trotzdem weist er diesmal auf ein echtes Problem hin</font>: Die Politik des ehemaligen CDU-Sozialministers Norbert Blüm ist fast komplett gescheitert. <font color="#FF0000">Seine kollektiven Sicherungskassen stehen allesamt vor dem Ruin</font>. Die <font color="#FF0000">Rente ist unsicher und muss ihre Leistungen immer weiter streichen; für die Generation der heute Arbeitenden bleibt später kaum noch etwas übrig</font>. Die gesetzlichen Krankenkassen <font color="#FF0000">drehen ihre Beiträge hoch und senken die Leistungen, kommen der Kostenexplosion aber trotzdem nicht nach</font>. Die Arbeitslosenversicherung und die Bundesanstalt für Arbeit <font color="#FF0000">verschlingen Milliarden, die der Staat nicht hat</font>.
Langsames Ende
<font color="#FF0000">Und die Pflegeversicherung ist acht Jahre nach ihrer Gründung am Ende</font>. Seit vier Jahren liegen ihre Ausgaben über den Einnahmen, im Jahr 2002 um 400 Millionen Euro. Damit frisst die Kasse ihre Reserve auf. <font color="#FF0000">Die Kosten steigen, weil immer mehr Ansprüche erhoben werden</font>. Als Blüm die Pflegeversicherung 1995 gegen viele Warnungen durchgepeitscht hatte, <font color="#FF0000">reichte die Kasse Geld zunächst nur an ein Sechstel der Menschen aus, die sie heute bedient. Rund zwei Millionen greifen inzwischen auf sie zu</font>.
Nirgendwo schafft Angebot so schnell Nachfrage wie im Sozialsystem. Norbert Blüm trug bei seiner Amtsführung stets ein naiv-romantisches Bild von Gerechtigkeit in sich. Wenn alte Menschen Hilfe brauchen, muss man ihnen helfen, dachte er. <font color="#FF0000">Es darf nicht am Geld scheitern, und das Gebrechen der Oma soll auch nicht eine ganze einkommensschwache Familie finanziell ruinieren</font>. In seiner Empörung über das Unrecht handelte er <font color="#FF0000">nach einem Instinkt</font>, der eine ganze Generation christlicher Sozialpolitiker beherrscht hat: Wenn es irgendwo ein Problem gibt, müssen <font color="#FF0000">die Kosten zu seiner Lösung auf die ganze Gesellschaft verteilt werden. Blüm erfand daher die Pflegeversicherung</font>.
Sein Denkfehler war folgender: Kein Regelsystem wird von den Märkten unreflektiert übernommen, sondern seine Anreize werden eingepreist und bei künftigen Entscheidungen in das ökonomische Kalkül mit einbezogen. Blüms menschenfreundliche Naivität ist rührend, <font color="#FF0000">fließt aber leider sofort in die Nutzenmaximierung der Haushalte ein</font>. Sprich: Wenn Mutter nicht mehr alleine zur Toilette gehen oder sich waschen kann, <font color="#FF0000">öffnet die Pflegeversicherung den Kindern eine Einnahmequelle, die vorher nicht bestand</font>.
<font color="#FF0000">Ein Teil der Kinder wird moralisch standfest bleiben und die Mutter aus Liebe kostenlos selber pflegen. Ein anderer Teil wird die Verdienstchance nutzen und die Mutter als Pflegefall anmelden</font>. Nach wie vor kann man sie ja liebevoll versorgen, aber es gibt dann eben ein Trinkgeld vom Staat dazu. <font color="#FF0000">Eine dritte Gruppe, die hartherzig ist oder das Pflegepensum selber nicht schafft, gibt die Mutter in die Obhut von Fremden, muss dafür aber nicht zahlen, auch wenn sie sich das leisten könnte</font>.
Hilfe für viele, die sie nicht brauchen
Tatsächlich benötigen würde nur eine vierte Gruppe die Versicherung: <font color="#FF0000">arme Alte, deren Verwandte tot oder selber arm sind</font>. Nur diesen Menschen müsste vom Staat geholfen werden. Aber braucht man dafür eine Pflegeversicherung, die das ganze Volk erfasst, jeden einzahlen lässt und jeden versorgt? Warum bekommen Millionäre Geld von der Kasse? Wieso hängt die Leistung der Versicherung nicht von der finanziellen Bedürftigkeit ab?
Diese Fragen konnte Norbert Blüm schon damals nicht beantworten. Heute treibt dieser Widersinn <font color="#FF0000">seine Versicherung in die Pleite</font>. Jeder, der es nicht selber zur Toilette oder zum Waschbecken schafft, wird bald einen Antrag auf Unterstützung stellen. Er wäre dumm, wenn er es nicht täte. Deswegen wird der Beitragssatz von 1,7 Prozent des Lohns steigen müssen, was die Lohnnebenkosten nach oben treibt und Arbeitsplätze vernichtet.
Die Alternative wäre billiger und besser gewesen: Wie früher hätten die Sozialämter bedürftigen Pflegefällen helfen sollen. Um die Gemeinden zu entlasten, hätten Bund und Länder Geld zuschießen können. Wer sich selber den entwürdigenden Gang zum Sozialamt ersparen will, hätte eine private Zusatzversicherung abschließen können. Es wäre vernünftig, jetzt zu diesem Modell zurückzuwechseln. Die Pflegeversicherung sollte einen gnädigen Tod sterben: entweder mit einem Knall Bankrott gehen, weil die Einnahmen nicht mehr die Kosten decken, oder langsam auslaufen, indem keine neuen Anträge akzeptiert werden und die Beitragssätze Stück für Stück auf null sinken.
Verschwinden aber muss diese Versicherung auf jeden Fall. Sie war der vergebliche Versuch der Volkserziehung per Zwangsmaßnahme. Ob Menschen sich gegen Pflegerisiken versichern oder nicht, sollte ihre eigene Entscheidung bleiben. Der Staat hat keine andere Aufgabe, als die Notversorgung für Härtefälle zu organisieren.
Christoph Keese ist Chefredakteur der Financial Times Deutschland
[b] Quelle: http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,260807,00.html, Spiegel-Online, 11.08.2003

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