- Statistik des Grauens Teil III / Lehrstellen - Sascha, 11.08.2003, 22:29
- Re: Statistik des Grauens Teil III / Lehrstellen - Karl52, 11.08.2003, 23:38
- Da ist sehr sehr viel Wahres dran! [mkT] - Sascha, 12.08.2003, 02:17
- Re: Da ist sehr sehr viel Wahres dran! [mkT] - Sascha, 12.08.2003, 04:33
- Die Erziehungskrise & Die Elternkatastrophe (aus: Die Zeit) - Sascha, 12.08.2003, 05:07
- Re: Die Erziehungskrise /Das Problem ist die staatl. ZWANGSSCHULE - Cujo, 12.08.2003, 13:11
- Re: Die Erziehungskrise /Das Problem ist die staatl. ZWANGSSCHULE - Cujo, 12.08.2003, 13:20
- Re: Die Erziehungskrise /CDU gegen freie Schulen - Cujo, 12.08.2003, 13:22
- Re: Die Erziehungskrise /SPD gegen freie Schulen - Cujo, 12.08.2003, 13:32
- Re: Die Erziehungskrise /Das Problem ist die staatl. ZWANGSSCHULE - Cujo, 12.08.2003, 13:11
- Adidas und Co: Der Markenfetischismus in den Schulen - Sascha, 12.08.2003, 05:51
- Re: Adidas und Co: Der Markenfetischismus in den Schulen - marotte, 12.08.2003, 23:15
- Mama, da ist Ei auf dem Teppich... Anspruchsdenken und Fungesellschaft - Sascha, 12.08.2003, 06:34
- Re: Mama, da ist Ei auf dem Teppich... Anspruchsdenken und Fungesellschaft - Jagg, 12.08.2003, 06:37
- Da ist sehr sehr viel Wahres dran! [mkT] - Sascha, 12.08.2003, 02:17
- Re: Statistik des Grauens Teil III / Lehrstellen - Karl52, 11.08.2003, 23:38
Die Erziehungskrise & Die Elternkatastrophe (aus: Die Zeit)
--> Die beiden folgenden Artikel aus der Zeit 20/2000 und 18/2001 nennen m.E. das Problem sehr exakt:
<font size=5>Die Erziehungskrise</font>
Kindheit heute, Teil II: <font color="#FF0000">Viele Eltern stehlen sich aus ihrer Verantwortung. Die Schule ist mit den unerzogenen Schülern überfordert</font>
Susanne Gaschke
Eine Gesamtschule in einem alten Arbeiterviertel, das gerade den Rückzug der örtlichen Großindustrie zu verkraften hat. Der Klassenlehrerin einer fünften Klasse fällt auf, dass einer ihrer Schützlinge häufig verprügelt wird. Und dass das Kind ein typisches"Opferverhalten" an den Tag legt: Also einerseits Stärkere provoziert, sich aber andererseits kaum zu wehren weiß. Ein Anruf bei der Mutter soll klären, ob man dem Jungen helfen kann. Ob er zu Hause Schwierigkeiten hat, die sein Verhalten in der Schule beeinflussen. Die hat er allerdings. Seine beiden älteren Brüder, sagt die Mutter, steckten ihm gelegentlich den Kopf ins Klo:"Aber da halt ich mich raus."
Da halt ich mich raus: Selten geht die Unempfindlichkeit von Eltern so weit wie in diesem Fall. Aber aus der Perspektive der Schule <font color="#FF0000">markiert der Satz einen Trend: Eltern ziehen sich aus ihrer Erziehungsverantwortung zurück</font>. Natürlich nicht alle Eltern, natürlich nicht an jeder Schule, nicht in jedem Milieu. Doch offenbar interpretieren etliche Mütter und Väter das allgemeine Gerede von der Dienstleistungsgesellschaft dahingehend, dass es Sache der Lehrer sei, die Kinder zu erziehen: Schließlich würden sie dafür bezahlt.
Nimmt man hingegen die Beobachtungen der Pädagogen ernst, dann steht unsere Gesellschaft vor einem <font color="#FF0000">nennenswerten Problem</font>, wenn nicht gar vor einer <font color="#FF0000">Erziehungskatastrophe</font>. <font color="#FF0000">Während man vor zwanzig Jahren mit ein oder zwei auffälligen Kindern pro Klasse rechnen musste, sind es heute eher fünf oder sechs</font>.[Eigener Kommentar: Das ist eines der Hauptprobleme. Man darf raten woher das wohl kommt?] Wenn in den Familien <font color="#FF0000">keine Primärsozialisation </font>stattfindet, wachsen der Schule neue Aufgaben zu, für die sie bisher nicht vorgesehen war: Dann muss sie lehren, wie man Kontakt zu anderen Kindern aufnehmen kann, ohne ihnen ein Bein zu stellen; welche Begrüßungsrituale unter zivilisierten Menschen üblich sind; <font color="#FF0000">dass"alte Fotze" keine angemessene Anrede für die Musiklehrerin ist und dass sechs Dosen Coca-Cola keine vollwertige Nahrungsration für den Tag sind</font>.
Repräsentativität ist bei Streifzügen durch die Schulen kaum herzustellen: Zu groß sind die Unterschiede zwischen Schularten und Bundesländern, Stadt und Land, Wohngebieten unterschiedlicher Qualität. Doch bestimmte Phänomene (unsere Beispiele stammen sämtlich aus Schleswig-Holstein) tauchen mit einer Regelmäßigkeit in den Berichten der Lehrer auf, die aussagekräftig sein dürfte.
<font color="#FF0000">"Das große, unauffällige Mittelfeld wird zugunsten der Extreme kleiner"</font>[Eigener Kommentar: Korrekt und voll ins Schwarze getroffen], sagt der Rektor einer Grund- und Hauptschule in einem kleinbürgerlichen Stadtteil: <font color="#FF0000">"Ein Teil unserer Kinder ist vollkommen überbehütet, ein anderer Teil ist verwahrlost."</font>[Eigener Kommentar: Die einen leben in armen Familien bei anderen werden selbst Dinge wie die Handyrechnung und der Urlaub mitbezahlt, teure Klamotten gekauft und noch der Führerschein gezahlt usw.] Die Verhätschelten werden zur Schule gefahren und aufmerksam auf je- des Anzeichen von Krankheit untersucht. Die Verwahrlosten kommen ohne Frühstück, ohne warme Kleidung, ohne Arbeitsmaterialien in die Schule. Beiden Gruppen werden zu Hause - <font color="#FF0000">vermeintliche Liberalität </font>hier, Unfähigkeit dort - <font color="#FF0000">kaum Grenzen gesetzt</font>. Solche Kinder, sagt der Rektor, zeigten häufig eine geringe Frustrationstoleranz, seien empört, wütend und enttäuscht bei allem, was ihnen in der Schule misslinge. Eine Gesamtschullehrerin drückt es drastischer aus:"Diese Kinder sind eine Belastung, <font color="#FF0000">aber nicht belastbar</font>." Sie prügelten und beschimpften Mitschüler, brächen aber selbst beim geringsten Anlass in Tränen aus."Und sie können nicht zuhören, weil zu Hause niemand ist, der ihnen zuhört", sagt eine von drei Sozialpädagoginnen, die an derselben Gesamtschule für problematische Einzelfälle zuständig ist:"Manchen von ihnen fehlt jede Fähigkeit, sich in andere Menschen hineinzuversetzen."
Die Einzelbetreuung von Kindern, die den Unterricht massiv stören, gehört bei immer mehr Grund-, Haupt- und Gesamtschulen zum Standard: Die Kinder empfinden Extrastunden in den"pädagogischen Inseln" durchaus nicht als Strafe: Sie sind vielmehr glücklich, dass sich endlich jemand um sie kümmert. Doch der Einsatz von Sozialpädagogen und Betreuungslehrern ist eine Kostenfrage.
Auch an Gymnasien gibt es Formen von Verwahrlosung
Für den normalen Unterricht bedeutet die Verdreifachung der Problemkinder, dass beispielsweise die Deutschstunde in einer fünften Hauptschulklasse zur Dressurnummer wird: <font color="#FF0000">Etliche Kinder sind nicht in der Lage, den 45-Minuten-Takt auch nur annähernd durchzuhalten</font>: Sie stehen auf, gehen umher, summen vor sich hin, piesacken ihre Tischnachbarn. Vier Jungen haben Schwierigkeiten, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten: Sie grimassieren, lassen ihre Zungen heraushängen. Zwei Kinder sind übernächtigt. Nahezu alle haben Probleme mit dem Vorlesen. Die eigentliche Aufgabe, nämlich Teile der Geschichte von der Arche Noah in die richtige Reihenfolge zu bringen, <font color="#FF0000">bewältigen die wenigsten</font>."Es gibt ein <font color="#FF0000">Intelligenzproblem und ein Verhaltensproblem</font>", sagt die Klassenlehrerin."<font color="#FF0000">Einige Kinder hier gehörten eigentlich auf die Sonderschule</font>. Andere wachsen zu Hause quasi wild auf, <font color="#FF0000">ohne alle Umgangsformen</font>." <font color="#FF0000">Seit in den Medien viel von Hyperaktivität die Rede sei, könne man beobachten, wie sich Problemeltern dieses Erklärungsmuster für die Schwierigkeiten ihrer Kinder zu eigen machten: Statt etwas an ih- rem eigenen Erziehungseinsatz zu ändern, zögen sie sich darauf zurück, ihr Kind sei krank. Es brauche Medikamente, nicht sorgsamere Behandlung</font>.
Einzelne Sonderschulen werden in diesem Bundesland im Namen der"Integration" zurückgebaut, selbst schwierigste Kinder besuchen die normale Hauptschule. Ganz schwere Fälle von Verhaltensstörungen können diese Schulen dann nur noch an die Kinderpsychiatrie abgeben. Vorher lassen sich die Pädagogen durchaus einiges einfallen. Im Fall eines gewalttätigen Sechstklässlers erreichte eine Hauptschule in Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, dass die Eltern des Jungen in jeder Pause antreten und ihr Kind auf dem Schulhof beaufsichtigen mussten. Solche unkonventionellen Lösungen erfordern eine enge Kooperation mit der örtlichen Jugendhilfe. Häufig scheitert sie an Zeitmangel - und an Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den unterschiedlichen pädagogischen Professionen. Ein Großteil der Lehrer versteht sich nach wie vor als Fachlehrer, die in erster Linie Wissen zu vermitteln hätten. Und in der Tat können Kinder, gerade die benachteiligten, auf dieses Wissen nicht verzichten."Ich wende aber in meinen Unterstufenklassen mehr Zeit für Erziehungsaufgaben als für den eigentlichen Unterricht auf", sagt eine Gesamtschullehrerin. Besonders zeitraubend sei der Kampf um Konzentration. Deren größte Feinde heißen"Übermüdung" und"Fernsehen".
<font color="#FF0000">Auch die Einübung der berüchtigten Sekundärtugenden Pünktlichkeit und Höflichkeit fällt zunehmend in die Zuständigkeit der Schule</font>."Man sollte diese Dinge nicht unterschätzen", sagt ein Realschulrektor:"Die Arbeitgeber, mit denen wir in Kontakt stehen, signalisieren uns, wie viel Wert sie darauf legen. Der äußere Eindruck ist oft wichtiger als die Noten."
<font color="#FF0000">Massive Disziplin- und Verhaltensprobleme mögen in erster Linie in schwierigen sozialen Verhältnissen auftreten. Doch die Auswirkungen eines vermeintlich liberalen, in Wirklichkeit aber gleichgültigen Erziehungsstils lassen sich auch an Gymnasien beobachten: zum Beispiel in der Form von Markenterror und Alkoholexzessen</font>. Manche Eltern, die das Wochenende, natürlich ohne Kinder, in ihrem Ferienhaus auf Sylt verbringen, <font color="#FF0000">füllen den häuslichen Kühlschrank mit Aldi-Champagner</font>, damit die teureren Flaschen im Keller unangetastet bleiben.[Eigener Kommentar: Leider auch keine Übertreibung. So etwas ähnliches habe ich auch schon öfter gesehen]
Je weniger auch die privilegierten Eltern bereit sind, ihren Kindern Zeit zu widmen und sich mit ihnen auseinander zu setzen, desto schlechter sind deren Chancen, urteilsfähige Erwachsene zu werden. Eine Deutsch- und Geschichtslehrerin an einem Gymnasium in einem teuren Villenvorort beschreibt die mangelnde Kritikfähigkeit ihrer Schüler:"<font color="#FF0000">Ich kann ihnen jede noch so irrsinnige Quelle vorlegen - sie sagen dann: Ja, seltsam, aber wenn das die Meinung des Autors ist...</font>" Von zu Hause brächten die Schüler immer <font color="#FF0000">seltener die Fähigkeit mit, zwischen einer Meinung und einem Argument zu unterscheiden</font>.
Der Befund der schwindenden Erziehungsbereitschaft aus Gesprächen mit Lehrern in einer Region ist notwendig lückenhaft; es wird viele Gegenbeispiele geben. Dennoch täte die (bildungs)politisch interessierte Ã-ffentlichkeit gut daran, die sich abzeichnende Krise der Erziehung ernst zu nehmen - vielleicht so ernst wie jene Zustände, die unter dem Stichwort <font color="#FF0000">"Bildungskatastrophe"</font> in den sechziger Jahren Anlass zu einem der größten Reformprojekte der Bundesrepublik gaben. Wie die staatlichen Institutionen für diesen Fall aufzurüsten wären, lässt sich immerhin grob umreißen: Die Ganztagsschulangebote müssten ausgebaut werden - wenn es aus Kostengründen nicht anders geht, zunächst an sozial benachteiligten Standorten. Betreuungslehrerstunden sind dringend notwendig, aber sie dürfen nicht zu Lasten des Fachunterrichts verrechnet werden. Der Rückbau der Sonderschulen sollte einer Revision unterzogen werden: Dient er wirklich den schwächsten Schülern, oder etikettiert er als"Integration", was in Wahrheit eine Sparmaßnahme ist?
Wenn es nicht mehr durchsetzbar ist, dass Eltern ihre Kinder vernünftig ernähren, brauchen die Schulen Kantinen - und Unterricht in Ernährungslehre. Wenn Eltern ihren Kindern nicht mehr beibringen können, dass man andere Kinder nicht zusammenschlägt, brauchen die Lehrer andere Strafen als schriftliche Verweise - zum Beispiel Bewegung an frischer Luft unter sportpädagogischer Anleitung.
<font color="#FF0000">Wenn dem Markenterror in den Elternhäusern kein Riegel vorgeschoben wird, kann man über Schuluniformen nachdenken </font>- wie über alles, was einem formlosen, unstrukturierten Dasein ein Gerüst einzieht. Wenn schließlich in manchen Familien eine geradezu gewalttätige Vernachlässigung herrscht, braucht der Staat bessere Interventionsmöglichkeiten, um die Eltern zur Erfüllung ihrer Erziehungspflicht zu zwingen.
All dies kostet Geld. Und wird, mit wie viel Engagement die Schulen sich auch zu Erziehungsanstalten wandeln, immer nur eine Hilfslösung bleiben. Es führt kein Weg daran vorbei: Eltern müssen ihre Kinder selbst erziehen. Keine Ehekrise, keine Arbeitsüberlastung, keine Pseudoliberalität, keine Unwissenheit sind eine Entschuldigung dafür, es nicht zu tun.
(c) DIE ZEIT 2000
Quelle: http://www.zeit.de/archiv/2000/20/200020.schule_.xml, Die Zeit 20/2000
Bemerkenswert finde ich, daß die Autorin bereits vor Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse im November/Dezember 2000 die Probleme erkannte und beim Namen nannte.
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S C H U L E & F A M I L I E
<font size=5>Die Elternkatastrophe </font>
<font color="#FF0000">Zur Erziehung abgeliefert: Die Schule kann an den Kindern nicht wettmachen, was die Familie sträflich versäumt </font>
Susanne Gaschke
<font color="#FF0000">Wenn Ahnungen in Gewissheit umschlagen</font>:<font color="#FF0000"> Diesen Punkt haben wir im Bildungswesen erreicht</font>. Gefragt ist allerdings nicht die"Bildungsoffensive", die neuerdings in schöner Eintracht von Bundeskanzler, Ministerpräsidenten und Wirtschaftsbossen gefordert wird.
Wir wissen längst, dass den Schulen eine Legion neuer Aufgaben, von <font color="#FF0000">Computerkunde bis Ernährungslehre</font>, zuwachsen. Wir wissen, dass deutsche Schüler <font color="#FF0000">im internationalen Vergleich nicht überragend abschneiden</font>, dass es viele ausgebrannte oder unterengagierte Lehrer gibt. Wir wissen es aus den Medien, aus den wohlfeilen Aufrüttelungsreden. <font color="#FF0000">Doch über die Bedingung des lauthals beschworenen Aufbruchs in die Wissensgesellschaft wird beharrlich geschwiegen: den Elternbeitrag zur"Bildungsoffensive", die Erziehung</font>.
Wer eigene Kinder hat, wer sich in den Schulen umsieht und den guten und kämpferischen Lehrern zuhört (von denen es mehr gibt, als die Medien suggerieren), der sieht sich mit einem dramatischen Widerspruch zwischen zweckoptimistischer Rhetorik und ernüchternder Wirklichkeit konfrontiert. Die Schulen sollen immer mehr lehren - <font color="#FF0000">und die Schüler bringen immer weniger von zu Hause mit</font>.
Der Deutsche Lehrerverband hat sich in der vergangenen Woche mit einem drängenden Appell (www.lehrerverband.de) an die Eltern gewandt:"Bildungsoffensiven", heißt es darin, <font color="#FF0000">"sind nur denkbar, wenn sie von den Eltern zu Hause durch aktives Erziehen mitgetragen werden."</font>
<font color="#FF0000">"Aktives Erziehen" ist die dürre Umschreibung für Selbstverständlichkeiten, die keine mehr sind</font>. Dazu gehört, dass Kinder vor der Schule ein Frühstück bekommen; dass es irgendjemanden interessiert, ob und wie sie ihre Schularbeiten erledigen; dass sie ausgeschlafen zur Schule gehen; dass sie am Nachmittag Gelegenheit zu Sport und Spiel haben; <font color="#FF0000">dass die kulturellen Anregungen im Elternhaus sich nicht auf Dauerfernsehen beschränken</font>; dass Schuleschwänzen zu Hause nicht verharmlost wird; <font color="#FF0000">dass Jugendliche nicht mehr Zeit beim Jobben als im Unterricht verbringen</font>; dass Kinder sich halbwegs artikulieren können; dass Eltern die Elternversammlungen besuchen.
Solche scheinbar banalen Rezepte sind keine Hirngespinste arbeitsscheuer Schulmeister. <font color="#FF0000">Denn dramatisch ist die Zunahme der"Verhaltensauffälligkeiten": Mussten Lehrer vor zwanzig Jahren mit ein bis zwei schwierigen Schülern pro Klasse rechnen, so sind es heute fünf oder sechs</font>. Diverse Statistiken liefern Beweise für die körperliche und seelische Vernachlässigung. Kinderärzte beobachten immer öfter Konzentrationsverlust und Hyperaktivität. Sprachheilpädagogen notieren alarmiert Sprachstörungen bei rund 20 Prozent der Erstklässler. Motorische Defizite haben den Unterricht im Geräteturnen dezimiert: Zu gefährlich, wenn man nicht einmal sicher auf einem Bein stehen kann, lautet die Begründung. <font color="#FF0000">Deutsche Schulkinder gehören nach einer Studie der WHO (Health Behavior in School-Aged Children Survey 1997/98) zu den müdesten in Europa</font>. Die Erklärung?"Hoher Fernsehkonsum, der Gebrauch psychoaktiver Substanzen, mangelnde Bewegung und Depressionen".
Die Charakterbildung beginnt zu Hause
Die Förderung geistiger Interessen im Elternhaus schwindet dahin. <font color="#FF0000">Während der tägliche Fernsehkonsum je nach Alter bis zu dreieinhalb Stunden auffrisst</font>, schrumpft die Zahl der lesefreundlichen Haushalte. Animierten 1992 knapp die Hälfte aller Familien ihre Kinder zum Lesen, so tut dies heute nur noch ein Viertel.
Von der Ernährung bis zum Spracherwerb - all dies sind primäre Erziehungsleistungen, die eine staatliche Institution wie die Schule den Eltern nicht abnehmen kann. Sie soll sie unterstützen - gewiss. Aber dieser Beistand darf nicht zulasten von Bildung und Unterricht gehen. Andernfalls bleibt nicht nur das Gerede von der Bildungsoffensive ein Witz - allen Kindern wird dann die Chance genommen, zukunftsträchtiges Basiswissen zu erwerben.
Die Mehrheit der Eltern bemüht sich immer noch, ihren Kindern eine liebevolle und aufmerksame Erziehung angedeihen zu lassen. Doch eine wachsende Minderheit verdirbt die Preise - und das Schulklima für alle. Dabei handelt es sich nicht bloß um sozial Benachteiligte; Erziehungsverweigerung findet sich ebenso unter viel beschäftigten Akademikern. Die Gründe für die wachsende Gleichgültigkeit sind vielfältig: <font color="#FF0000">Im Westen speist sie sich aus falsch verstandenen Restbeständen der antiautoritären Ideologie </font>(die heute freilich nur noch Bequemlichkeit maskiert) und einem über Jahrzehnte eingeübten Selbstverwirklichungsritual. Im Osten beanspruchte der Staat ohnehin das Monopol auf die Erziehung und gewöhnte die Eltern an den pädagogischen Volldienstleister.
Alle, die Schulkinder haben, kennen Vertreter der verantwortungslosen Minderheit von Elternversammlungen: <font color="#FF0000">Wenn deren Kind keine Hausaufgaben macht, muss sich der Lehrer einsetzen. Wenn es andere Kinder schlägt, ist es provoziert worden. Wenn die Noten absacken, wird erst der Nachhilfelehrer, dann der Anwalt mobilisiert. Wenn der Urlaub sich nicht anders buchen lässt, fangen die Ferien eben eine Woche früher an. Solche Erziehungs-"Berechtigten" lassen sich nur Rechte, aber keine Pflichten zurechnen</font>.
<font color="#FF0000">Die Mehrheit der Eltern muss sich gegen diese Unbekümmertheit zur Wehr setzen</font>. Die Frage, wie weit man eine der privatesten Angelegenheiten, die Kindererziehung, an den Staat delegieren kann, gehört an jeden Elternstammtisch, auf jedes bildungspolitische Podium. Es ist kein Angriff auf die Menschenrechte, wenn man Eltern auch am Ende eines Arbeitstages <font color="#FF0000">Zuwendung zu ihren Kindern abverlangt, die über das Aushändigen der Fernbedienung hinausgeht</font>.
Die Forderung nach flächendeckender Einführung der Ganztagsschule, die so oft in selbst entlastender Absicht erhoben wird, greift zu kurz, lenkt von der Erziehungskrise in den Elternhäusern ab und verschweigt die unerwünschten Nebeneffekte der aushäusigen Kinderbetreuung: Eine US-Langzeitstudie an 1300 Kindergarten- und Hortkindern hat just eindeutige Zusammenhänge zwischen langer Fremdbetreuung und gesteigerter Aggressivität nachgewiesen. Offenbar ist die Zeit in der Familie besonders wichtig. Die Ganztagsschule kann für benachteiligte Kinder eine Verbesserung gegenüber der häuslichen Situation darstellen; sie ist für manche eine ökonomische Notwendigkeit, für viele nur mehr Annehmlichkeit.
<font color="#FF0000">Doch keine Schule kann das Elternhaus ersetzen</font>, wo Wissens- und Charakterbildung beginnen. Bildungsoffensive? Zuerst die Erziehungsoffensive.
Quelle: http://www.zeit.de/archiv/2001/18/200118_1._leiter.xml, Die Zeit 18/2001

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