- Reform: Was wird? (Quelle: Die Zeit 33/03) - Sascha, 14.08.2003, 09:02
Reform: Was wird? (Quelle: Die Zeit 33/03)
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<font size=5>Was wird?</font>
<font size=4>Zwischen Lebensplanung und Zukunftsangst: In dieser LEBEN-Ausgabe verschreiben wir uns der Reform. Mit den Debatten um Gesundheitsvorsorge, Renten und Arbeitsmarkt ist die Zukunft in unser Bewusstsein zurückgekehrt - vor allem als Bedrohung. Ein Gespräch mit dem Soziologen Ulrich Beck </font>
Herr Beck, <font color="#FF0000">wann immer wir die Nachrichten einschalten, hören wir die Politiker neuerdings sagen: »Wir müssen, wir sollten, wir können nicht mehr</font>…«
Wir sind zurzeit in der Tat mit einer überraschend offenen Zukunft konfrontiert. Und wir haben den Eindruck, kaum noch zwischen Chancen wählen zu können, sondern <font color="#FF0000">uns immer öfter zwischen Übeln entscheiden zu müssen, das gilt in allen Bereichen</font>. Deshalb wird jeder Vorschlag sofort durch ein Aufzählen negativer Folgen niedergemacht.
Woran liegt das?
<font color="#FF0000">Das liegt daran, dass wir längst mit den Folgen unserer Lebensweise, unseres Fortschrittsglaubens leben</font>. Mit dem Ozonloch, den Schuldenbergen. Wir leben gewissermaßen in unserer eigenen Zukunft. Und mit allem haben wir schon schlechte Erfahrungen gemacht - mit der Technik, dem Krieg, mit staatlicher Steuerung und der Freiheit des Marktes. <font color="#FF0000">Die Staatsverschuldung hat die Zukunft unserer Kinder und Enkel kolonialisiert</font>, die Hinterlassenschaften der Atomkraft gleich die nächsten Jahrtausende.
Zwischen welchen Übeln haben wir denn zurzeit zu wählen?
Sparen wir bei den ohnehin Benachteiligten und fördern damit aber vielleicht deren Eigeninitiative? Bitten wir die Wohlhabenden zur Kasse, und verhindern damit vielleicht Investitionen, die Arbeit schaffen? Oder sparen wir bei den Alten, die ab 60 auf keine neue Niere mehr hoffen dürfen? Wer will das entscheiden? Wir müssen mittlerweile sogar schon Zukunftsentscheidungen treffen, bevor überhaupt ein neues Leben begonnen hat: in der pränatalen Diagnostik. Wenn angehende Eltern den Befund nicht kennen wollen, sind sie, sollte etwas schief laufen, mit dem Vorwurf konfrontiert, dass beide es hätten wissen können. Wollen beide es aber wissen, und der Befund ist unklar - entscheidet man sich dann zur Abtreibung oder nicht? Das sind unentscheidbare Entscheidungen, und davon gibt es für uns immer mehr. Die Zukunft ist auch deshalb wieder so präsent, weil es in fast keiner Frage mehr eindeutige Antworten gibt. Ebenso bei der Diskussion um Krieg und Frieden. Es gibt immer gute Gründe pro und kontra, kein eindeutiges Entweder-oder mehr.
Was bedeutet das für den Einzelnen?
Dass wir nicht allein bei den großen politischen Debatten immer öfter den Eindruck haben, <font color="#FF0000">nur noch nach dem geringsten Übel zu suchen, sondern auch im Privaten</font>: Wir suchen das ungefährlichste Urlaubsziel, die am wenigsten unsichere Altersvorsorge. An die Stelle von Verheißungen sind <font color="#FF0000">Angstszenarien </font>getreten - auch weil wir wissen: <font color="#FF0000">Es gibt einen Zwang zum Weniger. Und wie wir mit diesem Weniger umgehen, müssen wir eben zunehmend selbst entscheiden, nach unserer eigenen Kenntnis- und Finanzlage</font>.
Die Politiker benutzen gern den Euphemismus der »gestärkten Eigenverantwortung«.
Tatsächlich heißt das: Ob bei Bildung, Gesundheit, Rente, der Staat gibt Verantwortung ab. <font color="#FF0000">Damit werden die Risiken und die Zukunft zunehmend individualisiert. Die Instanzen, die bisher für die Zukunft zuständig waren, legen sie wieder dem Einzelnen in die Hände</font>. Die Abbuchung von seinem Gehalt ist nicht mehr automatisch. Er muss entscheiden. Er ist allein. <font color="#FF0000">Und wenn er jetzt Fehler macht, werden die ihm zugerechnet und nicht mehr dem System</font>.
Und dieser Zwang zum Weniger verunsichert uns derart?
<font color="#FF0000">Ja. Bis in die achtziger Jahre fuhr unsere Gesellschaft in einem Fahrstuhl nach oben. Die Ungleichheiten blieben zwar bestehen, aber es ging für alle aufwärts, und damit war eine Fülle von Perspektiven verbunden: Wir hatten alle beruflichen Möglichkeiten, eroberten uns als Touristen die Welt, alles schien Chance zu sein</font>. Aber jetzt, am Beginn des 21. Jahrhunderts, drohen überall in der Welt Gefahren - <font color="#FF0000">und der große Fahrstuhl fährt nach unten</font>.
Immerhin: Nach vielen satten Jahren ist die Zukunft in unser Bewusstsein zurückgekehrt - und sei es durch den Zwang, künftig selbst für unseren Zahnersatz zu sorgen.
Oder dadurch, dass wir über unsere Altersvorsorge reden, unsere Rentenbescheide wieder sorgsam durchlesen und über die Agenda 2010 streiten, wo die Zukunft schon im Namen steckt. Eine weitere typische Zukunftsfrage, mit der inzwischen vermutlich jede Familie schlechte Erfahrungen gemacht hat, ist die Bildung, die Frage nach dem besten Weg ins Berufsleben. <font color="#FF0000">Früher hieß es immer, eine gute Ausbildung sei die Garantie für einen Arbeitsplatz. Heute kann niemand mehr sagen, welcher Bedarf in drei, vier Jahren besteht. Man muss immer besser, immer spezieller ausgebildet sein, macht hier noch einen Computerkurs, da noch eine Weiterbildung - und hat am Ende knapp daneben gezielt, weil gerade in einer benachbarten Sparte Bedarf herrscht</font>.
Früher gab es die allgemeine Erwartung, dass es unseren Kindern und Enkeln einmal besser gehen wird. <font color="#FF0000">Vergangenheit?</font>
<font color="#FF0000">Ja, heute ahnen Eltern, dass es ihren Kindern vermutlich nicht besser, sondern schlechter gehen wird. Umso mehr beschäftigen sie sich mit deren Zukunft</font>. Eine weitere Erwartung, die enttäuscht wurde, ist die, dass wir in Zukunft nicht mehr von Kriegen bedroht sein würden. Bis Ende der achtziger Jahre bedeutete Krieg für uns die absolute Vernichtung, das Ende der Welt. Nach dem Fall der Mauer sahen wir uns dann von Freunden umgeben und dachten, unsere Zukunft würde immer friedlicher. Die Bundeswehr wurde gewissermaßen überflüssig. Und dann? Jugoslawien- und Kosovo-Krieg, Afghanistan- und Irak-Krieg. Jetzt sehen wir uns einer möglicherweise endlosen Kette von Kriegen gegenüber: Amerikas globalem Feldzug. Der jeweils nächste Schritt scheint schon absehbar. Wenn man so will: Auch das ist die Rückkehr der Zukunft. Das Warten auf den nächsten Terroranschlag im Übrigen auch. Mit all diesen Risiken - insbesondere auch ökonomischer Art - müssen wir nun umgehen, als Angestellte, Urlauber, Väter und Mütter.
Kehrt da eine Unsicherheit aus alten Zeiten zurück in unser Leben? So wie der Bauer das Wetter beobachtet, beobachten wir jetzt den Dax? Wie der Bauer Keller und Scheune für den Winter füllt, hüten wir unsere Rentenversicherung - jeder für sich selbst verantwortlich und den Klimawechseln ausgeliefert?
Das scheint so. Die Deutsche Bank zum Beispiel wirbt für eine Privatrente mittlerweile mit dem Spruch: »Wie viel Sie später ernten, bestimmen Sie schon heute.« Aber das ist nur die halbe Wahrheit: Die Menschen müssen die Folgen ihres Handelns nicht nur wieder selbst abschätzen - sie sind auch den Unwägbarkeiten der Welt ganz anders ausgesetzt. Wir legen unser Geld selbst an, und dadurch werden die Krisen am Aktienmarkt zu persönlichen Krisen. Dann fällt die Ernte aus. <font color="#FF0000">In den USA hat die Talfahrt der Kurse schon die Altersvorsorge einer ganzen Generation vernichtet</font>. Doch die Amerikaner akzeptieren das eher als Freiheitsrisiko, das mit dem Kapitalismus verbunden ist…
…während wir schon irritiert sind, wenn wir erkennen, dass auch unsere Zusatzversicherung von den Kursen abhängt? Wir bekommen einen Brief, der das Datum unseres Ruhestands nennt, die »Erlebensfall-Leistung« - und darunter steht der Satz: »Die Höhe hängt vor allem von der weiteren Entwicklung auf dem Kapitalmarkt ab.«
Das ist uns viel fremder als den Amerikanern. Überhaupt herrscht in den USA eine ganz andere Angstkultur: Die Amerikaner haben selten unsere Ängste geteilt, nicht vor der Atomkraft, nicht vor der Gentechnik, nicht vor dem Klimawandel. Dafür finden viele von uns den amerikanischen »Krieg gegen den Terror« paranoid, dass die Amerikaner sich in ihren Häusern befestigen, Hamsterkäufe tätigen. Bei der Terrorangst wie bei den Klimakonferenzen zum Beispiel wird sichtbar: Die Angst beschränkt sich immer noch auf die Welt diesseits des nationalen Gartenzauns. Auch wenn es ein weltweites Mitleiden, weltweite Demos gibt.
Nun wird die Angst in Deutschland weniger vor dem Hintergrund des Terrors als unter dem Stichwort »Krise« diskutiert. Ist der Begriff nicht völlig falsch, weil er vorspiegelt, dass ein Zurück zu den alten Verhältnissen denkbar ist?
Das ist unsere Lebenslüge schlechthin. Es beginnt schon mit der trügerischen Gewissheit in unserer Gesellschaft, dass das Wachstum, auf das wir so sehnlich warten, Arbeit schafft. <font color="#FF0000">Gerade im Bereich der Dienstleistungen, auf den wir große Hoffnungen gesetzt haben, wird stetig Arbeit vernichtet</font>. <font color="#FF0000">Bankfilialen bestehen nur noch aus Automaten, Reisen werden im Internet gebucht - und so weiter</font>. Aber alle sagen: Kommt bald der Aufschwung, wird es wieder gut. Da gibt es einen pathologischen Wirklichkeitsverlust in Deutschland.
Stattdessen müssten wir uns auf eine Utopie des Weniger einlassen?
Natürlich ist es mit der weltweiten Ausnahmestellung des »made in Germany« vorbei. <font color="#FF0000">Es gibt eine wahnsinnige Dynamik in den asiatischen Ländern, und instinktiv beunruhigt es uns zutiefst, wenn wir den Kanzler in Shanghai Transrapid fahren sehen, diese Bilder einer aufstrebenden Stadt, schon jetzt viel glänzender, höher, irrer als bei uns</font>. Da schleicht sich die Ahnung ein, dass wir unsere Weltmachtstellung als führende Exportnation verlieren.
Uns wird der Rang abgelaufen. Wir überaltern. Wir verbrauchen unsere Ressourcen über Gebühr und auf Kosten anderer. <font color="#FF0000">Müsste man da nicht sagen: Leute, wir müssen mit allem 20 Prozent runter? Oder was ist Ihre Utopie?</font>
Über die Gesellschaft des Weniger hat kaum jemand nachgedacht. Da muss auch die Soziologie passen.
Ihre Kollegen und Sie haben keine Idee?
Mir ist da nichts bekannt. Selten ist die Soziologie fantasievoller als die Gesellschaft.
Das bedeutet, dass wir weiterhin mehr unserem individuellen Karriere- und Vorsorgeplan folgen werden als kollektiven Demorouten?
Solange jeder für sich selbst nach dem Motto »Es gibt keine Chance, also nutzen wir sie« handelt, auf jeden Fall. Bei den großen gesellschaftlichen Risiken ist es ja immer so, dass sich der Einzelne sehr lange einbildet, auf ihn träfen sie allesamt nicht zu. <font color="#FF0000">»Rekordscheidungsraten, die Massenarbeitslosigkeit? Nicht ich.« Die Menschen versuchen unverdrossen, ihr Glück zu machen. Das Nadelöhr wird zwar enger, doch umso heftiger drängen die Leute hindurch</font>.
Ein paar Protestbewegungen gibt es schon.
Natürlich gibt es die Antigemeinschaften derer, die sich als Verlierer empfinden, Jugendgangs, fundamentalistische Gruppen, die anstelle der Mehrdeutigkeit eine neue Fraglosigkeit konstruieren. Dazu gehören auch die in regelmäßigen Abständen auftauchenden »neuen Konservativen«, die die alten Pflicht- und Tugendkataloge beschwören. Wie jüngst erst wieder im Spiegel. Nur - und das verdeutlicht das Problem: Gleichzeitig treten sie dafür ein, dass jeder, jede jederzeit flexibel und mobil sein soll, was es vielen Menschen unmöglich macht, die alten Werte zu leben.
Könnte es bei den jetzigen Zukunftsaussichten sein, dass wir unseren Partner wieder mehr nach dem Aspekt der Sicherheit aussuchen, die Zukunft als Bonus, als Status, unter dem Motto: »Ich hab vorgesorgt, Baby!«?
Die gute Partie, von der wir uns Sicherheit für die Zukunft versprechen, ist zwar nie bedeutungslos geworden, aber es kann gut sein, dass viele ihre Partner jetzt noch mehr unter dem Gesichtspunkt der Sicherheit wählen. Die Partnerschaft als private Zusatzversicherung. Daneben gibt es aber nach wie vor die andere Form: die Partnerschaft als Selbstverwirklichungsgemeinschaft. Da ist der Partner Teil der eigenen Selbstfindung, ist Therapeut und Animateur. Man geht zusammen auf ein Abenteuer, präsentiert sich dem anderen über seine Träume und Ambitionen, alles unter dieser typischen Kennenlernfrage: »Und was machst du so?« Man versucht, durch gegenseitige Unterstützung durch das Nadelöhr zu gelangen. Allerdings sind Enttäuschungen und Stress vorprogrammiert.
Ist es auch denkbar, dass mehr Menschen wieder familienorientiert und ortsverbunden leben, weil sie sich davon mehr Sicherheit erhoffen?
Die Bindungssehnsucht wird stärker, kein Zweifel. Die Individualisierung der Zukunft zusammen mit dem <font color="#FF0000">Zwang zum Weniger </font>macht die dunklen Seiten der Freiheit bewusst. Es entstehen neue alte Abhängigkeiten: vom Erbe der Eltern, vom Verdienst des Partners, von der Hilfe der Nachbarn. Die Individualisierung beruhte ja darauf, dass der Einzelne durch die staatliche Absicherung frei wurde, sich aus den Gruppen seiner Herkunft zu lösen. <font color="#FF0000">Wenn jetzt die staatliche Absicherung zurückgedreht wird, kann es natürlich sein, dass Familien- und Schollenbindung wieder gesucht werden - doch dem widerspricht: Flexibilitätszwänge wachsen, und Kinder machen arm. Mit Kindern an der Hand ist es für den Einzelnen noch schwieriger, durchs Nadelöhr zu kommen</font>.
Also Kinderlosigkeit als Altersvorsorge?
Ja, vielleicht. Es gibt da aber auch einen Trend zum Nesthockertum. Junge Menschen bleiben mittlerweile lieber in Halle, als nach Hamburg zu gehen, lieber in Bielefeld, als nach Berlin zu ziehen. Sie lassen sich von Mutter Stullen schmieren, um billiger zu studieren. <font color="#FF0000">Sie wählen Daheimbleiben als Strategie, die Risiken zu minimieren</font>. <font color="#FF0000">Denn was, wenn sie in der Fremde keine Arbeit finden? Sie sagen sich: »Zuhause habe ich wenigstens mein Umfeld.« Nesthocker leben nach dem Motto: »Wenn es schon nichts gibt, dann will ich davon mehr haben.« Das sind erste Anzeichen, dass sich die Menschen wehren gegen die Gebote von Flexibilität und Mobilität</font>.[Eigener Kommentar: Sehe ich genauso!]
Schon das Kinderkriegen ist ja ein Widerstand gegen das Gebot der Flexibilität.
Ja, es ist zwar nach außen noch nicht sichtbar, aber schon jetzt ist für viele ein Kind ein Privatprotest gegen die Auflösung. Ein gewollter Zwang zur Verwurzelung. Wenn kein Kind, dann das Haustier oder die Blume. Es gibt einen Trend zur Blume.
Einen Trend zur Blume?
In meiner Umgebung greift eine ansteckende Blumenliebe um sich. Immer mehr Menschen pflanzen und gärtnern daheim. Wie Kinder oder Haustiere geben uns Pflanzen, und sei es nur auf dem Fensterbrett, ein Gefühl, Wurzeln geschlagen zu haben. Sie verlangen von uns, zu Hause zu bleiben. Meine Frau und ich sind beruflich viel unterwegs, gemäß den modernen Anforderungen, und wenn unklar ist, wer zu Hause die Blumen gießt, kommt es zu beziehungsgefährdenden Auseinandersetzungen. Plötzlich droht: Welke Blumen, welke Liebe. Ironisch gesagt: wieder so eine unentscheidbare Entscheidung! Beweglich sein oder Blumen gießen und Liebesleben. Flügel und Wurzeln haben - schließt sich das vielleicht doch aus?
Das Interview führten Sven Hillenkamp und Henning Sussebach
(c) DIE ZEIT 07.08.2003 Nr.33

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