- Der Durchschnittsmensch als Symptom von Krisen - Stephan, 03.10.2003, 21:57
- Re: Der Durchschnittsmensch als Symptom von Krisen - als Ursache? - Bob, 03.10.2003, 22:31
- Re: Der Durchschnittsmensch / sehr interessant........ - -- Elli --, 03.10.2003, 22:39
- Re: dringende Empfehlung an alle: lesen! - Bob, 03.10.2003, 22:52
- Sehr interessant. Danke. (owT) - Galiani, 03.10.2003, 22:52
- Ursache? - Stephan, 03.10.2003, 23:16
- Re: Der Durchschnittsmensch / sehr interessant........ - -- Elli --, 03.10.2003, 22:39
- Re: Der Durchschnittsmensch als Symptom von Krisen - als Ursache? - Bob, 03.10.2003, 22:31
Re: Der Durchschnittsmensch als Symptom von Krisen - als Ursache?
-->Hallo,
Der Durchschnittsmensch ist soweit sichtbar von Quetelet endeckt worden, siehe dazu folgenden Infotext:
http://alp.dillingen.de/ref/mph/determinismus/quetelet.htm
Adolphe Quetelet (1796-1874)
Bereits Laplace hatte auf eine merkwürdige Tatsache aufmerksam gemacht, die im 19. Jahrhundert viel zitiert wurde: Über Jahre hinweg blieb die Anzahl unzustellbarer Briefe im Pariser Postdienst konstant (Gigerenzer et. al., 1999, S.62). In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts begann man in großem Umfang Daten zu sammeln und Statistiken aufzustellen. Hacking (1990, S.2) spricht vom Beginn einer großen „Zahlenlawine“, wobei man mit diesen Zahlen noch nicht all zuviel anzufangen wusste. Doch die Veröffentlichung der Pariser Justizstatistik 1827 zeigte ein weiteres verwunderndes Ergebnis: Der prozentuale Anteil von Selbstmorden und Verbrechen war für eine gegebene Gesellschaft konstant (Gigerenzer et. al., 1999, S.62). Mathematisch gesehen sind dies Ergebnisse des Gesetzes der großen Zahlen, das schon von Bernoulli aufgestellt worden war, später erneut in einer erweiterten Fassung von Siméon Denis Poisson (1781 - 1840) bewiesen wurde.
Damals freilich erregte die Konstanz dieser Werte großes Erstaunen. Eine Gesellschaft besteht aus einzelnen Individuen, die aus unüberschaubar vielen Motiven heraus handeln. Wie ist da etwa die Konstanz der Selbstmordraten erklärbar? Könnte es also sein, dass die Gesellschaft auch von rigiden Gesetzen beherrscht wird, ähnlich wie die Newtonschen Gesetze die Mechanik beherrschen? Hat auch der Zufall Gesetze, ist auch die Gesellschaft - im wahrsten Sinne des Wortes - berechenbar? Gibt es auch für die Gesellschaft so etwas wie Naturgesetze? Zudem waren diese Mittelwerte für verschiedene Gesellschaften unterschiedlich (in Paris etwa gab es mehr Selbstmorde als in London). Konnten diese Raten also auch verwendet werden, die entsprechenden Gesellschaften zu charakterisieren?
Der Ausgangspunkt von Quetelet zur Erklärung dieser stabilen Werte ist ein sehr merkwürdiger: Er stellte fest, dass der Brustumfang von 5738 schottischen Soldaten normalverteilt war (zur Normalverteilung siehe Punkt 4). Bald war dies auch für verschiedene andere biologische Quantitäten festgestellt. Er wandte diese Kurve aber auch auf soziale Phänomene an. Gauß hatte diese Kurve als Fehlerkurve einführt: Zur Ermittlung einer physikalischen Konstanten erstellt man viele Meßwerte, die nur selten exakt übereinstimmen. Unter bestimmten Annahmen ergeben diese Meßwerte genau die Gaußsche Glockenkurve, der gesuchte Wert ist dann der Mittelwert. Bei Quetelet erfuhr diese Kurve nun folgende Interpretation: Offensichtlich versucht die Natur einen „Normalmenschen“ („homme moyen“) zu erzeugen, dabei kommt es aber immer zu kleinen Abweichungen bzw. Fehlern. Deswegen kann man selbst den Brustumfang der schottischen Soldaten nach der Gaußschen Fehlerkurve beschreiben (Elsner 1974, S.147). Umgekehrt erklärt dies aber auch die verwundert festgestellte Stabilität der angesprochenen Mittelwerte.
Der einzelne Mensch ist schwierig zu studieren - zu vielfältig sind die Faktoren, die ihn determinieren. Hier bräuchte man fast den allwissenden Dämon von Laplace um weiter zu kommen. Im Durchschnitt aber gleichen sich die Besonderheiten aus, der Durchschnittsmensch ist vergleichsweise leicht zu verstehen. „Wenn man versucht, sozusagen die Grundlage einer Sozialphysik zu schaffen, muß man ihn [den homme moyen] betrachten, ohne sich bei den Einzelfällen oder den Anomalien aufzuhalten, und ohne zu untersuchen, ob dieses oder jenes Individuum einer mehr oder weniger starken Entwicklung einer seiner Anlagen fähig ist“ (Quetelet zit. nach Gigerenzer et. al. 1999, S.63).
1831 kündigte Quetelet eine neue Wissenschaft an: Die Sozialphysik (Gigerenzer et. al. 1999, S.63). 1835 veröffentlichte er sein Treatise of Man (Hacking 1990, S.107). 1844 verwandelte er die Theorie der Messung unbekannter physikalischer Größen in die Theorie ideale und abstrakte Eigenschaften der Bevölkerung zu messen (Hacking 1990, S.108). „Er setzte keine Kenntnis tatsächlicher Ursachen voraus, sondern identifizierte nur Regelmäßigkeiten und nach Möglichkeit ihre Vorbedingungen... In der Tat war die Statistik sogar dem Begründer des Positivismus, Auguste Comte, zu positivistisch, weil sie von jedem Wissen um Ursachen allzusehr losgelöst war“ (Gigerenzer et. al. 1999, S.64).
Die Statistik lieferte Quetelet also das Handwerkszeug, um Gesetze im Bereich der Gesellschaft zu entdecken, die denen der Himmelsmechanik analog waren. Den Widerspruch zwischen statistischen Regelmäßigkeiten und dem Ideal der Himmelsmechanik überbrückte er mit dem Hinweis auf seinen homme moyen: Der änderte sich im Laufe der Zeit sicher nur langsam. Aufgabe der Sozialphysiker war es mithin, die Bewegungskurve dieses Menschen in der Zeit zu ermitteln, ähnlich wie die Astronomen die Bewegungskurven für die Planeten beschrieben. Im Bereich des Einzelmenschen bemühte sich Quetelet einen Bereich für die Willensfreiheit offen zu lassen, aber der Einfluss auf die Gesellschaft konnte dabei nur infinitesimal klein sein (Gigerenzer et. al. 1999, S.61-64).
Aufbauend auf Quetelet entwickelte Henry Thomas Buckle (1821 - 1862) eine völlig deterministische Sicht in seiner History of Civilization von 1857. Das Werk trug viel zur Popularisierung der Ideen Quetelets bei, entgegen Quetelets eigenen Ansichten wurde hier aber eine Willensfreiheit völlig negiert (Gigerenzer et. al. 1999, S.66).
Die Sozialphysik von Quetelet wurde Vorbild für die Begründer der statistischen Physik Maxwell und Boltzmann: „Maxwell und Boltzmann (...) beriefen sich zur Rechtfertigung ihrer statistischen Interpretation der Gasgesetze unabhängig voneinander auf die wohlbekannten Regelmäßigkeiten, die Buckle und Quetelet aufgewiesen hatten. Sowohl Galton als auch die Gasphysiker leiteten auch ihren Gebrauch des astronomischen Fehlergesetzes, oder der Normalverteilungskurve, indirekt von Quetelet ab. Man hat hier ein schlagendes Beispiel der Bedeutung der Sozialwissenschaften für die Naturwissenschaften“ (Gigerenzer et. al. 1999, S.67).
Auch vor Maxwell gab es schon atomistische Deutungen der Gastheorie, also der Auffassung, dass ein Gas aus kleinsten Teilen, den Atomen besteht, die kreuz und quer durcheinanderfliegen. Aber erst Maxwell führte die Annahme ein, dass die Atome nicht alle mit gleicher Geschwindigkeit fliegen. Aus bestimmten Voraussetzungen leitete er eine Geschwindigkeitsverteilung für die Gasmoleküle ab, eine Verteilung die formell mit der Gaußschen Fehlerkurve identisch ist und heute den Namen Maxwell-Boltzmann-Verteilung trägt. Boltzmann baute die Ansätze von Maxwell später aus. Mit Maxwells Kurve beginnt die statistische Physik.

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