- Niquet: Ihm geht der Hut hoch - kizkalesi, 19.10.2003, 10:00
- Raus aus dem deutschen Gehorsams-Komplex - politico, 19.10.2003, 17:58
Niquet: Ihm geht der Hut hoch
--><font size="5">Wie realitäts-untauglich ist die"deutsche Seele"? </font>
Sonntagsbörse (Wams)
von Bernd Niquet
Es ist schon wirklich ein Kreuz mit manchen Dingen. Jetzt haben wir drei Jahre Aktienbaisse hinter uns und noch mindestens dreißig Jahre politische Baisse vor uns, doch wenn man das hier zu Lande beklagt und offen ausspricht, hört man immer wieder Kraftausdrücke wie"typisch deutsch", und dann wird von der Realitäts-Untauglichkeit der"deutschen Seele" geredet.
So habe ich beispielsweise auf der Frankfurter Buchmesse ein Buch des österreichischen Journalisten Ernst Hofbauer aufgetrieben mit dem schönen Titel"Die Deutsche Seele - eine Nation trägt Trauer". Zuerst habe ich gedacht: Immer diese Ã-sterreicher. Die können wohl nicht einmal allein trauern. Die wollen immer nur den Anschluss. Doch da die deutsche Seele sich schon weit schwierigeren Themen gestellt hat, warum nicht auch hier?
Ich erinnere mich noch gut, wie wir zum Ende meiner Uni-Zeit vor gut fünfzehn Jahren hart diskutiert haben, ob und wie es in einer Demokratie wohl funktionieren kann und wird, von den langjährig erworbenen Ansprüchen herunterzukommen und ein radikales öffentliches Sparprogramm durchzuboxen. Das Ergebnis ist bisher trostlos. Es gibt also jeglichen Grund, Trauer zu tragen. Oder wollen wir auch hier bald anfangen, wie Kinder auf Beerdigungen Freudentänze aufzuführen? Wäre das nicht viel eher unreif und wirklichkeitsverleugnend?
Gehen andere Länder mit der Wirtschaftskrise und der Krise der sozialen Systeme, die wir gegenwärtig erleben, tatsächlich anders um? In Großbritannien ist das, was bei uns jetzt erst langsam anfängt, schon lange im Gange. Denn dort wurde bereits in den achtziger Jahren unter Margaret Thatcher das Zurückschneiden des Sozialstaates eingeleitet, zu einer Zeit also, als man bei uns noch munter draufgesattelt hat. Einer der besten Pop-Literaten der Insel, Morrissey, reagierte darauf mit dem Lied"Margaret On the Guillotine", nachdem er bereits vorher für die Smiths sehr plakativ"The Queen Is Dead" getitelt hatte. Man mag sich gar nicht vorstellen, welches Gekreische über die"deutsche Seele" es gegeben hätte, wäre so etwas hier zu Lande passiert. Dann hätte Ernst Hofbauer sein Buch sicherlich zehn Jahre früher geschrieben, und wir wären heute vielleicht schon - im wahrsten Sinne des Wortes -"über den Berg".
Was hingegen ist bei uns heute? Eigentlich haben wir immer nur das Modell des braven Dieters zu bieten. Angefangen bei Dieter Bohlen, bei dem man ja nicht einmal in Ansätzen so etwas wie eine Seele vermutet, über die ganzen Dieters in der Politik (die freilich nach außen hin ganz andere Namen tragen) bis hin zum Dieter in uns selbst. Alles nur ein Zerrbild also?
Blicken wir doch einmal über den großen Teich: Es vergeht kein Tag, in dem ich nicht mindestens zwei Mails in meiner Mailbox habe, in der mir kommerzielle Absender aus den USA versprechen, dass ich hinsichtlich meiner Männlichkeit quantitativ noch deutlich zulegen kann."Don't Be Ashamed Of Your Manhood Ever Again" steht dann da, und ich wundere mich, warum die Amis anscheinend alle glauben, dass sie gerade auf diesem Gebiet nicht so recht mithalten können? Und auch hier überlege ich dann sofort, was man über die Deutschen wohl alles Hässliches sagen würde, wenn auch bei uns derartige, weit verbreitete Minderwertigkeitsgefühle existieren würden.
Völlig der Hut hoch geht mir allerdings erst dann, wenn ich miterleben muss, wer die vermeintliche deutsche Wehleidigkeit am meisten beklagt. Es sind zum Beispiel international agierende Beratungsunternehmen. Ich habe zwei Jahr bei der Treuhandanstalt gearbeitet und selbst miterlebt, auf welch schamlose Weise damals der deutsche Staat mit Beraterverträgen ausgeplündert wurde. Und seitdem weiß ich, dass es mit der"deutschen Seele" auch nicht anders ist als mit vielen anderen geschundenen Kreaturen. Interessierte Kreise brauchen sie, um auf sie einzuprügeln - und damit selbst ein schönes finanzielles Auskommen zu haben.
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