- ZEIT: Banken und Software-Firmen verlagern hoch qualifzierte Arbeit nach Indien - rodex, 23.10.2003, 12:40
ZEIT: Banken und Software-Firmen verlagern hoch qualifzierte Arbeit nach Indien
-->indien: „Wir sind die Gewinner“
Die zweite Globalisierungswelle rollt. Banken und Software-Firmen verlagern jetzt auch immer mehr hoch qualifzierte Arbeitsplätze nach Indien
Von Christine Möllhoff
Manchmal tun ihr die Deutschen leid. „Es ist traurig, dass sie ihren Job verlieren“, sagt Kiran. „Aber es ist gut für uns, dass die Jobs herkommen.“
Die Frau mit den ernsten Augen ist 25 Jahre alt und hat drei Jahre lang am Goethe-Institut Deutsch gelernt. Jetzt arbeitet sie für eine europäische Investmentbank in Neu-Delhi. Bis vergangenen März hat den Job noch irgendjemand in Frankfurt erledigt - bis der Bank die Mitarbeiter dort zu teuer wurden.
Nun verwalten Kiran und 50 andere Inder die Fondskonten deutscher Anleger - rund 6100 Kilometer entfernt in Gurgaon, einem staubigen Vorort der indischen Hauptstadt Neu-Delhi. „Ich glaube nicht, dass die Kunden das wissen“, sagt Kiran, die ihren richtigen Namen daher lieber nicht genannt sehen will. Ihr Arbeitstag beginnt, wenn in Deutschland die Banken öffnen. In Indien ist dann schon früher Nachmittag.
Sie selbst spricht nicht mit den Kunden. Die Aufträge kommen online. 12 000 Rupien verdient sie im Monat, das sind etwa 240 Euro. In Deutschland wäre das ein Hungerlohn, für eine 25-Jährige in Indien ist es fast schon ein Spitzengehalt.
Wenn Konzerne im großen Stil Arbeitsplätze in die Dritte Welt verlegen, merken das die Kunden oft gar nicht. Längst gehe es dabei nicht nur um simple Handlangerdienste wie das Eintippen von Daten, prophezeihen Unternehmensberater, jetzt müssten auch die einstigen Lieblinge der High-Tech-Gesellschaft wie Softwarentwickler oder Analysten um ihre Jobs bangen. Die Marktforscher von Forrester Research etwa sagen voraus, dass amerikanische Arbeitgeber bis 2015 rund 3,3 Millionen Angestelltenjobs, darunter mehr als 450000 bei IT-Firmen, verlegen werden. Ähnliches erwarten die Unternehmensberater von A. T. Kearney für Europa. Allein die Finanzinstitute in Deutschland, Ã-sterreich und der Schweiz würden bis 2008 rund 100000 Stellen in billigere Regionen verschieben.
Großer Gewinner der neuen Runde im globalen Job-Monopoly dürfte Indien sein. Nachdem China zur Werkhalle der Welt avanciert ist, schickt sich Indien mit rund einer Milliarde Einwohner an, das globale Service- und Rechenzentrum zu werden.
Seit Anfang der neunziger Jahre ist dort eine Industrie aus dem Boden geschossen, die West-Firmen fast alles abnimmt, was sich dank Telefon, Internet und Computer auch aus der Ferne regeln lässt.
Die Kunden wissen meist nicht, dass sie mit Indern sprechen
In der einstigen britischen Kolonie ist Englisch neben Hindi die am weitesten verbreitete (Zweit-)Sprache. Inder nehmen Anfragen, Beschwerden und Bestellungen von Käufern aus den USA, Kanada und Großbritannien entgegen. Sie verkaufen Toaster, Puppen und Versicherungen auf der anderen Seite der Welt. Sie mahnen säumige Zahler, genehmigen Kredite, führen für Großkonzerne die Lohnabrechnungen, wickeln Kontobuchungen ab, eröffnen Aktiendepots. Ja, sie erstellen selbst Marktanalysen für westliche Unternehmen. Oder sichten für Pharmakonzerne wissenschaftliche Studien. IT enabled Services und Business Process Outsourcing - kurz ITeS und BPO - nennt die Branche das. Andere sprechen schlicht von Call-Centern und Backoffice.
„Indien ist ein schlafender Löwe“, sagt Raman Roy. Der 45-Jährige mit dem jungenhaften Charme ist gewissermaßen der Guru der indischen ITeS-Szene. Vor drei Jahren hat er Spectramind gegründet - mit 30 Beschäftigten und ohne einen einzigen Auftrag in der Tasche. Heute beschäftigt der ITeS-Anbieter an sechs Standorten 6500 Mitarbeiter, betreut 20 Firmen aus den USA, Großbritannien sowie Australien und setzt 38,5 Millionen Euro um. Und Spectramind steht nicht allein. Viele indische Unternehmer haben hier ihre Chance erkannt. Marktführer bei den IT-Dienstleistern ist die zur größten indischen Unternehmensgruppe Tata gehörende Tata Consultancy Services (TCS), die es auf 24 000 Beschäftigte bringt und mehr als 100 Büros in 32 Ländern unterhält.
In den Glaspalästen und Betonburgen der Callcenter und Backoffices, die am Rande der Metropolen hochschießen, herrscht Goldgräberstimmung. Um fast 60 Prozent auf 2,2 Milliarden Euro schnellte der Umsatz im vergangenen Jahr hoch, die Zahl der Beschäftigten hat sich seit 2000 auf fast 170 000 weit mehr als verdoppelt.
Und der eigentliche ITeS-Boom steht erst noch bevor, glaubt Roy. Das Potenzial der ITeS-Industrie sei 20- bis 30-mal größer als das der IT-Industrie im engeren Sinne. Hinter vorgehaltener Hand rechnen Manager vor, dass man zum Preis eines Deutschen zwei bis vier Inder einstellen kann - trotz Mehrkosten für Reisen, Telefon oder Stromversorgung. In den USA verdiene ein IT-Experte umgerechnet gut 65000 Euro, in Deutschland 40000 Euro im Jahr. In Indien seien es dagegen 8000 Euro.
Nicht nur fast alle großen Computerunternehmen wollen deshalb Stellen in ihrer Heimat ab- und in Billiglohnländern, allen voran Indien, ausbauen. Große Konzerne quer durch die Branchen lagern in großem Stil ganze Abteilungen wie Buchhaltung, Personal, Finanzen oder sogar Forschung und Entwicklung aus - entweder mit eigenen Dependancen oder über Drittfirmen wie Raman Roys Spectramind.
„Das Bildungsniveau ist oft höher als in Deutschland“
Wenn Amerika ins Büro geht, beginnt im Sandsteingebäude von Spectramind in Delhi das Hauptgeschäft. Und dann ist es in Indien später Abend. Hunderte junger Menschen, viele lässig-westlich in Jeans und T-Shirt, strömen aus der schwülen Hitze in die gekühlten Großraumbüros, starten ihre Computer und setzen sich ihre Headsets auf. Alarmrote Plakate mahnen alle paar Schritte: „Wir glauben an Qualität“ - Roys Mantra.
Dann verwandelt sich Nidhi, die Inderin mit dem schelmischen Gesicht, in Nancy, die Amerikanerin. Dann rollt sie das R, sagt yes statt yah und wünscht einen schönen Tag, obwohl es in Indien schon Nacht ist. Sie hat das in Trainingskursen eingeübt. Die 21-Jährige sitzt für einen US-Internet-Anbieter an der Kundenhotline. Geduldig lotst sie PC-Nutzer auf der anderen Seite der Welt aus virtuellen Sackgassen. Nur die wenigsten merkten, dass sie mit Indien telefonierten, sagt Nidhi.
Nicht nur bei Spectramind gibt man sich zugeknöpft, wenn es um die Namen der Auftragsfirmen aus dem Westen geht. Manche Call-Center drohen ihren Mitarbeitern sogar mit Rauswurf, wenn sie öffentlich über ihre Arbeit sprechen. Viele Auftraggeber verbergen lieber, dass am Ende der eigenen Hotline nicht Amerika abhebt, sondern ein Land, das immer noch zur Dritten Welt gezählt wird. Vor allem wenn es ums Geld geht, verlangen West-Firmen Diskretion.
Viele Leute dächten bei Indien immer noch an Schlangenbeschwörer und das Grabmal Tadsch Mahal, sagt Roy. Vor ziemlich genau zehn Jahren erschienen in Deutschland die ersten Berichte über die geschickten Softwareentwickler aus Indien, Unternehmen wie Siemens gründeten eigene Software-Töchter, andere wie die Deutsche Bank oder Lufthansa lassen seitdem EDV-Arbeiten in Delhi, Bangalore oder Pune ausführen. Obwohl seither immer mehr Aufträge nach Indien gingen, wurde erst mit der Green-Card-Debatte vor drei Jahren wieder deutlich, dass das Land der Maharadschas, Tempel und heiligen Kühe auch IT-Experten bietet - und zwar reichlich.
Zwar können 30 bis 40 Prozent des Milliardenvolkes nicht lesen und schreiben, weil viele arme Familien ihre Kinder lieber zur Arbeit oder zum Betteln als zur Schule schicken, aber die zweitgrößte Nation der Welt kann auch mit hervorragenden Universitäten und einem Heer an gut ausgebildeten, jungen Menschen wuchern, die in der Regel exzellent Englisch sprechen.
„Das Bildungsniveau ist in vielen Bereichen definitiv höher als in Deutschland“, meint Clas Neumann, der seit drei Jahren SAP Lab im indischen IT-Mekka Bangalore leitet.
Auch die Politik, die noch bis Anfang der neunziger Jahre Indien wirtschaftlich abschottete, umgarnt die begehrte IT-Branche mit mehrjährigen „Steuerferien“ und VIP-Behandlung. Der Bau des neuen, 400 Quadratmeter großen SAP-Gebäudes in Bangalore hat gerade ein Jahr gedauert - vom Antrag bis zum Einzug. „Das wäre in Deutschland auch nicht schneller gegangen“, sagt Neumann. Zugleich sind die Telefongebühren in den vergangenen Jahren stark gesunken.
Vor allem britische und amerikanische Unternehmen zieht es nach Indien. Nicht nur die traditionsreiche Nachrichtenagentur Reuters, auch fast alle großen angloamerikanischen Finanzinstitute wollen Arbeitsfelder dorthin verlagern. American Express, Citibank, British Airways und Dell Computer sind schon da. GE Capital, das Rechen- und Servicecenter des US-Riesen General Electric, stellt fast jeden Monat 700 neue Leute ein.
Und auch deutsche Firmen setzen auf Indien, wenn auch nicht in diesen Massen. Der größte deutsche Computerkonzern SAP will seine Belegschaft in Indien fast verdreifachen - von nun 700 bis Ende 2005 auf 2000. Andere kommen über Umwege. Die Deutsche Bank und der Technologiekonzern ABB gliedern Arbeitsfelder an IBM oder die US-Firma Accenture aus, die wiederum in Indien neu investieren.
In den indischen Callcentern und Backoffices ist Stellenabbau dagegen kein Thema. Die ITeS-Firmen plagt nicht die Sorge, wie sie ihre Leute loswerden, sondern wie sie sie halten. Vor allem die Callcenter locken zusehends mit Extras und Sozialstandards, von denen die meisten Inder bisher nur träumen. Während normalerweise die Sechstagewoche gilt und acht Tage Urlaub schon viel sind, genießen die IT-Beschäftigten schon 21 bis 25 Tage bezahlten Urlaub, Fünftagewoche und Krankenschutz. Firmeneigene Minibusse bringen sie zum Büro und zurück.
Die Unternehmen schmeißen Partys und Picknicks, spendieren Kuchen und Geschenke zum Geburtstag, bieten kostenlos Mahlzeiten, Fitness-Center und freien Eintritt zu Nobeldiscos, ja sogar mehrmonatige Bildungsaufenthalte im Ausland. „Wir schuften wie die Hunde und leben wie die Könige“, sagt Kiran.
Ein Auto, eine eigene Wohnung kann sie sich von ihren 12000 Rupien nicht leisten. Aber ein Handy, Parfum und Jeans, am liebsten amerikanische Marken wie Levi’s. Wäre Kiran in Deutschland geboren, wäre all das für sie selbstverständlich. In einem Land wie Indien, in dem jeder Dritte mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen muss, ist es Luxus. „Natürlich werden wir ausgebeutet“, sagt Kiran. „Aber ich denke schon, dass wir Gewinner der Globalisierung sind.“
(c) DIE ZEIT 23.10.2003 Nr.44

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