- Wahlfreiheit/Kreativität/Optimismus- Interview mit Prof. Dürr (Kernphysiker) - Pega53, 07.11.2003, 13:16
Wahlfreiheit/Kreativität/Optimismus- Interview mit Prof. Dürr (Kernphysiker)
-->Interview mit Prof. Dr. Hans-Peter Dürr, Physiker
www.weltwoche.ch Ausgabe 45/03
David Signer und Mathias Plüss
Hans-Peter Dürr forschte beim Erfinder der Wasserstoffbombe und wurde zum Friedensaktivisten. Der Physiker über die Möglichkeit, den Menschen zu zivilisieren, die Unvernunft der Wirtschaft und den Segen des wissenschaftlichen Plapperns.
«Das Spiel, das die Natur spielt, ist ganz sicher nicht jenes des mörderischen Konkurrenzkampfes»: Hans-Peter Dürr.
Herr Dürr, Sie haben kürzlich an einem Seminar in der Schweiz mit hiesigen Führungskräften gesprochen. Was war Ihr Eindruck?
Es ist wie überall in der Welt: Die Wirtschaftsführer haben das Gefühl, es müsse anders werden. Doch es ist sehr schwierig, aus dem Teufelskreis des Konkurrenzkampfs auszubrechen. Wenn ich mit Industriellen spreche, mit dem Vorstand von VW etwa, dann bin ich immer entsetzt, wie fatalistisch diese Leute sind. Die sagen: «Wir können ja gar nichts machen, wir können nur auf der Strasse, auf der alle rennen, versuchen, die anderen zu überholen.» Und wir stellen uns immer vor, wenn wir so mächtig wären wie die, dann könnten wir etwas ändern. Also von denen ist gar nichts zu erwarten.
Aber der Konkurrenzkampf liegt doch in der Natur des Menschen. Wie wollen Sie uns den abtrainieren?
Ich habe ein ganz anderes Menschenbild. Nicht wahr, wenn man Robert Kagan liest oder Zbigniew Brzezinski, dann schildern die den Menschen so wie Thomas Hobbes: als aggressiv und egoistisch. Und sie sagen, es sei doch unmöglich, den Menschen zu zivilisieren, zu zähmen zu einem sozialen Wesen, das kooperativ ist.
Ein nicht ganz abwegiger Gedanke, wenn man die Geschichte der Menschheit betrachtet.
Ja, aber er ist falsch. Natürlich können Sie sagen, es sei gänzlich unwahrscheinlich, dass sich Individuen freiwillig zusammenschliessen. Aber das Gleiche könnte man von der ganzen Evolution sagen, wenn man sie rein wahrscheinlichkeitstheoretisch betrachtet. Von der Amöbe zum Menschen in dreieinhalb Milliarden Jahren, allein als Folge von zufälligen Mutationen, das ist ganz unmöglich.
Wie stellen denn Sie sich die Evolution vor?
Als einen Differenzierungsprozess. Wie eine befruchtete Eizelle, die sich teilt und teilt, bis man einen Zellhaufen hat. Es wird nicht gewürfelt - Mutation hier, Mutation da -, sondern das Ganze verändert sich, hoch korreliert, jeder Teil weiss vom andern. Und deshalb sind die Teile auch imstande, sich auf einer höheren Ebene wieder zusammenzuschliessen. Durch diesen Prozess des dauernden Differenzierens und Zusammenschliessens kommen wir ziemlich schnell zu einem Lebewesen wie dem Menschen. Es ist wie beim Schreiben eines Gedichts: Ich erfinde nicht fortwährend neue Buchstaben, sondern die Differenzierung entsteht durch das Zusammenfassen von Buchstaben zu Worten und Sätzen.
Und die Kooperation zwischen Menschen, der Friedensprozess, der Ihnen ein grosses Anliegen ist, wäre demnach auch so ein Zusammenschluss - auf der nächsthöheren Ebene über uns?
Genau. Kagan und Konsorten halten den Frieden für unmöglich, weil sie die unbelebte Natur vor Augen haben, der die Tendenz zu immer grösserer Unordnung eingeprägt ist. Aber wir gehören zur belebten Natur, und die geht genau in die umgekehrte Richtung, von den einfachsten Verbindungen bis zum hochkomplexen Menschen - das Unwahrscheinlichste, was man sich vorstellen kann. Beim Lebendigen ist gewissermassen das Unwahrscheinliche wahrscheinlich. Darum ist der Friedensprozess möglich. Er folgt dem Trend des Lebendigen zu höherer Ordnung.
Aber leben bedeutet doch auch kämpfen. Ihr Traum vom Frieden in Ehren, aber ist das nicht wider die Natur?
Nein. Man kann das Ganze ja auch spieltheoretisch betrachten. Das Spiel, das die Natur spielt, ist ganz sicher nicht jenes des mörderischen Konkurrenzkampfes. Wenn dem so wäre, hätten wir vielleicht noch 15 Arten auf der Welt, aber in Wirklichkeit haben wir Milliarden. Warum? Weil die Zukunft offen ist. Es gibt kein fixes Ziel, auf das man sich fokussieren könnte, das Ziel ändert sich ständig. Wenn das Ziel immer gleich bliebe, dann wäre der totale Konkurrenzkampf die beste Strategie.
Und wie optimiert man sich am besten auf ein verwackeltes Ziel?
Spieltheoretisch ist die Antwort ganz einfach: indem man die Zahl der Optionen maximiert. Indem man nicht alles auf eine Karte setzt, sondern in die Vielfalt investiert. Das ist genau das, was in der Evolution passiert. Die Natur geht in die Differenzierung, aber hinterher braucht sie die Kooperation. Sie folgt dem Prinzip: Mein Vorteil muss auch der Vorteil des andern sein. Das hat nichts mit Altruismus zu tun, sondern es ist spieltheoretisch gesehen die vernünftigste Strategie. Übrigens wäre das auch die vernünftigste Strategie in der Wirtschaft.
Und Sie empfehlen den Wirtschaftsführern die Strategie der Natur - nach dem Motto: «Mein Vorteil muss auch der Vorteil des andern sein»?
Natürlich sagen mir die Leute, das sei unmöglich, man könne doch die anderen nicht auch noch mit aufpäppeln. Aber in der Wirtschaft ist es wie in der Natur, das Ziel ist verwackelt. Die optimieren dauernd, investieren für ein bestimmtes Ziel, und kaum ist es in Produktion, ist das Ziel auf einmal ein anderes, und sie verlieren einen Haufen Geld. Darum muss die Devise auch in der Wirtschaft heissen: Differenzierung und Kooperation.
Und bei Konflikten?
Meine Idee ist, junge Leute in gewaltarmem Konfliktmanagement auszubilden. Das ist eine Kunst, die aber gar nicht so schwierig zu erlernen ist. Man muss nur rechtzeitig feststellen, wo es knistert. Die Uno ist kürzlich mit einer Idee an mich herangetreten: eine Versicherung gegen den Krieg. Staaten aus Krisenregionen könnten mit der Uno eine Versicherung abschliessen, und wenn es zum Krieg kommt, muss die Uno zahlen. Das klingt verrückt. Aber der Gedanke dahinter ist, dass die Uno dann viel Geld sparen kann, wenn sie den Krieg verhindert. Dafür braucht es Krisenmanagement.
Ausbildung ist eines Ihrer grossen Themen. Wie sähe das Bildungswesen aus, wenn Sie es nach Ihrem Gusto gestalten könnten?
Ich würde viel mehr Gewicht darauf legen, dass die jungen Leute ihre Fantasie entwickeln. Dass sie das Orientierungs-Schauen lernen, wo nicht Präzision das Entscheidende ist. Was wir heute brauchen, ist Mut zur Unschärfe. Das mag negativ klingen. Aber die Gesamtschau braucht die Unschärfe. Wenn ich nämlich fokussiere, dann sehe ich zwar die Details, aber ich sehe keine Landschaft, ich sehe keine Beziehungsstruktur.
Unsere Schulen sind stark auf Detailwissen ausgerichtet. Heisst das jetzt, Sie würden die Stofffülle radikal...
...radikal reduzieren. Selbstverständlich weiss ich auch, dass alles wichtig ist. Aber ich sehe in der Natur, dass nicht jene Lebewesen erfolgreich sind, die alles registrieren, sondern die, die am effizientesten das Irrelevante unterdrücken.
Können Sie das konkreter formulieren?
Man kann es mit der Ausbildung eines Bergsteigers vergleichen: Es macht wenig Sinn, die Leute auf jeden Gipfel zu jagen. Besser ist es, sich einige Berge vorzunehmen, wo alle Schwierigkeitsgrade vorhanden sind, und diese dann von allen Seiten zu jeder Tageszeit, Jahreszeit und Witterung zu besteigen. So lerne ich, wie ich meinen Weg optimiere, dass nicht die Direttissima das Wichtige ist, sondern dass ich weit nach vorne schauen muss, um meinen jetzigen Schritt optimal zu machen. Einen so ausgebildeten Menschen kann ich in den Himalaja schicken, und er findet sich zurecht, auch wenn er diese Gipfel nie zuvor gesehen hat.
War das auch Ihr eigener Fall? Sie haben Elementarteilchenphysik studiert, und das hat Sie sensibilisiert für andere Fragen?
Nein. Meine eigentliche Ausbildung waren Not und Elend. Ich bin ein Kriegskind. Zuerst habe ich nur Zerstörung erlebt, dann kamen ganz praktische Dinge hinzu: Wie komme ich zu etwas Nahrung, wie befreie ich jemanden aus einem brennenden Haus? Es ging am Schluss ums pure Überleben.
Stimmt es, dass Sie 1945, als 15-jähriger Knabe, zum Kriegsdienst eingezogen wurden?
Ja. Wir bekamen Panzerfaust und Pistole und sollten die Alpenfestung verteidigen. Es hiess, ihr seid noch so klein, ihr könnt euch bis zwanzig Meter an die Tanks ranrobben und dann die Panzerfaust auslösen. Es sind fast alle dabei überrollt worden. Ich selber bin nur dank eines glücklichen Umstands davongekommen. Ein Physiker aus Heidelberg intervenierte bei der Reichsjugendführung. Er brauche diese jungen Leute, sagte er, weil die für Hitler die Atombombe entwickeln müssten. Das war absurd, aber er hat dafür tatsächlich eine Genehmigung bekommen. Alle, die gut in Physik und Mathematik waren, kamen in Sonderlager und wurden so von der Front abgehalten.
Sind Sie deswegen Physiker geworden?
Nein. Ich war am Ende des Krieges vollkommen demoralisiert, ich glaubte überhaupt niemandem mehr, so oft hatte man mich getäuscht, so korrupt schien mir die Welt. Ich wollte nur noch den eigenen Erfahrungen vertrauen, und deswegen habe ich die Wissenschaft gewählt. Um fern der Politik, abseits des Machtgerangels, unabhängig von Autoritäten zu sein.
Und auf der Flucht vor der Politik stiessen Sie ausgerechnet auf Edward Teller, den kürzlich verstorbenen Vater der Wasserstoffbombe, den kältesten aller Kalten Krieger?!
Es war ziemlich paradox, das stimmt. Ich war in den fünfziger Jahren dank eines Stipendiums in Kalifornien und hatte das grosse Glück, dass mich Edward Teller als Doktoranden nahm. Doch anstatt, wie es mir vorschwebte, ganz abseits vom grossen Machtgerangel mich einer philosophisch motivierten Forschung zu widmen, war ich genau dort angekommen, wo sich damals Naturwissenschaft und Machtpolitik am engsten berührten: bei der Kernphysik, bei Physikern und Technikern, welche insgeheim die Wasserstoffbombe entwickelten, das Massenvernichtungsmittel par excellence. Doch diese Ambivalenz war in der konkreten Forschungsarbeit nicht so offensichtlich, dass sie mich irritierte. Es war auch nicht ganz leicht zu erfahren, was Teller genau trieb. Ich wusste nur, dass er an einer interessanten Weiterentwicklung der Atombombe arbeitete.
Hatten Sie denn keine Gespräche über Politik?
Doch, wir haben vom ersten Tag an auch politische Diskussionen geführt, und das auf Deutsch. Ich habe es Teller hoch angerechnet, dass er mich als Deutschen ohne Vorbehalte angenommen hat, im Gegensatz zu manchen anderen Manhattan-Physikern wie etwa Robert Oppenheimer, die mir zunächst mit Unbehagen oder sogar offener Abneigung gegenübertraten. Doch was die Aufrüstung betrifft, prallten unsere Meinungen aufeinander. Denn für mich war jegliche grosse Machtzusammenballung schlecht, da ich nicht glauben konnte, dass machtgierige Menschen von diesen Overkill-Potenzialen fern gehalten werden könnten. Für Teller hingegen war die Vereinigung der grössten und jeweils modernsten Machtmittel in der Hand der «Guten» die einzige Gewähr für langfristigen Frieden, weil dann die «Bösen» keine Chance mehr hätten.
Nachher wurden Sie Assistent von Werner Heisenberg, dem Entdecker der berühmten Unschärferelation, bei dem Teller 1930 promoviert hatte.
Ja. Viele amerikanische Physiker nahmen es Heisenberg übel, dass er während des Krieges in Deutschland geblieben war. In ihren Köpfen war er einfach der deutsche Physiker, der für Hitler die Atombombe bauen wollte. Teller hingegen hielt grosse Stücke auf Heisenberg und legte mir die Zusammenarbeit nahe. Beide waren sie Künstler-Wissenschaftler, die in grossen Zügen und mit eingängigen Bildern eine grossartige Struktur vor Augen zaubern konnten.
Sie haben einmal geschrieben, Ihr erstes Zusammentreffen mit Heisenberg habe einen ununterbrochenen, 18 Jahre währenden wissenschaftlichen Dialog in Gang gesetzt. Wie muss man sich diesen Dialog vorstellen?
Es war ein ständiges Geben und Nehmen, ein gemeinsames Ringen nach Einsicht, Weitsicht und Klarheit. Heisenbergs Devise war: Wenn man etwas nicht versteht, dann muss man einfach drauflosreden, ins Blaue hinausplappern, am besten im Dialekt.
Warum im Dialekt?
«Sprechen Sie die Sprache, die Sie als Kind gesprochen haben, sonst ist alles schon so verbogen durch die Lehrer und so», pflegte er zu sagen. Für die ersten Tastversuche in einem neuen Gebiet sei die Sprache besser geeignet als das Präzisionswerkzeug der Mathematik. Heisenberg sprach langsam, häufig mit geschlossenen Augen, die Hände mit gespreizten Fingern aneinander gelegt. Doch wenn man sich einem entscheidenden Punkt näherte, brach er oft das Gespräch ab mit den Worten: «Wir sollten diesen Aspekt jetzt ruhen lassen, bis wir sein Umfeld besser verstanden haben, sonst laufen wir Gefahr, dass wir in unsere gewohnten Gedanken zurückfallen.» Neue Gedanken waren für ihn wie junge Pflanzen, die man wachsen lassen musste, bevor man mit harter Kritik ans Jäten ging. Auf diese Weise hielt er offene Fragen oft tagelang in der Schwebe und wartete, bis sie sich, gleichsam durch die in beiden Köpfen sich fortspinnenden Gedanken und Assoziationen, von alleine und bei beiden meist auf ähnliche Weise aufklärten.
Interessant, dass der Entdecker der physikalischen Unschärfe auch in der wissenschaftlichen Arbeit eine Methode der Unschärfe pflegte.
Heisenberg sagte: Die moderne Physik, das ist endlich die Physik, die mit dem übereinstimmt, was ich lebe. Dass nicht alles Geschehen einfach abläuft wie eine mechanische Uhr, war für ihn eine Riesenbefreiung.
Sie selber, Herr Dürr, haben eine Art «Theorie des Lebendigen» entwickelt, die auf dieser modernen Physik beruht. Können Sie uns sagen, worum es hierbei geht?
Die moderne Physik, die Quantenphysik, beschreibt die Regeln der Mikrowelt, der Welt der Atome. Es ist eine offene Welt, wo die Zukunft nicht festgelegt ist, sondern nur mit Wahrscheinlichkeiten beschrieben werden kann. Nun existiert aber eine Verbindung dieser Mikrowelt zu unserer Makrowelt, und die Auswirkungen des Mikroskopischen im Makroskopischen nennen wir das Lebendige. Ein Organismus ist ein Verstärker, der Quanteneffekte in die Makrowelt hochhebt.
Mit dieser Interpretation dürften Sie in der Fachwelt ziemlich anecken. Gemäss der gängigen Ansicht spielen die Phänomene der Quantenphysik im Alltag keine Rolle - hier gelten die gewohnten Regeln der klassischen Mechanik, weil sich die Quanteneffekte gemäss dem Gesetz der grossen Zahl ausmitteln.
Ja, als Mittelwert stimmt das. Voraussetzungen dafür sind aber die grosse Zahl und die gute Durchmischung. Ein Beispiel: Wenn der Oberbügermeister am Städtetag zu den Münchnern spricht und dabei Mittelwerte angibt - Fleischverbrauch als Funktion des Preises und so fort -, so stellen sich da fantastisch gute Werte raus. Aber wenn man jemanden auf der Strasse fragt, stimmt das überhaupt nicht. Nun gut, ein Oberbürgermeister braucht das vielleicht nicht zu wissen. Aber in dem Moment, wo die Münchner sich organisieren in Form von Parteien, kommt ihre Unterschiedlichkeit im Rathaus zum Ausdruck. Das heisst, je mehr das System nicht einfach durchgerührt ist, sondern sich organisiert, desto eher verschwinden die Mittelwerte.
Ist es falsch, von Mittelwerten auszugehen?
Nein. Aber die Mittelung ist viel zu grob. Nehmen Sie zum Beispiel ein Handy, das ans elektromagnetische Feld ankoppelt. Wir sehen einen, der hält sich ein Handy ans Ohr und beginnt zu weinen. Seltsam, sagen wir, die elektromagnetischen Wellen haben ihm doch gar nichts angetan. Aber er hat eben gehört, dass sein Sohn einen Autounfall hatte. Wir haben einen Code, damit wir nicht den Mittelwert sehen, sondern nur eine bestimmte Form. Lebendigsein bedeutet nichts anderes, als über verschiedene Codes zu verfügen, um aus dem Mittelwert bestimmte Aspekte herauszufiltern. Wenn jemand ganz ausgemittelt ist, nennen wir das Tod.
Was hat das mit der Quantenphysik zu tun?
Ich erläutere das immer am Beispiel des Pendels. (Dürr führt uns sein Pendel vor - eine Art Uhrenpendel, das aber in der Vertikalen rundherum schwingen kann.) Wenn ich dieses Pendel anwerfe, verhält es sich nach den Gesetzen der klassischen Mechanik. Aber es gibt einen Punkt, wo ich keine Prognose machen kann: wenn das Pendel ganz oben steht. Dann weiss ich nicht, ob es rechts oder links herunterfällt.
Wenn man seine Position nur präzis genug messen würde, wüsste man es schon.
Nein, das ist der springende Punkt. Je mehr sich das Pendel der Mitte nähert, desto genauer muss man hinschauen. Man braucht ein Mikroskop, aber irgendwann genügt auch das nicht mehr, weil das Pendel darauf reagiert, ob ich links oder rechts stehe, denn ich ziehe es ja auch an mit meiner Schwerkraft. Das heisst: Der instabile Punkt ganz oben ist ein Hochsensibilitätspunkt. Hier reagiert das Pendel unheimlich sensibel auf jede Einwirkung von aussen. Und das ist genau der Punkt, wo das System offen ist für die Quantenphysik. Wenn sich die makroskopischen Kräfte alle aufheben, spielen plötzlich die mikroskopischen Kräfte aus der Quantenwelt eine entscheidende Rolle. Und hier ergibt sich nun ein Bezug zum Lebendigen: Auch wir haben makroskopische Instabilitäten. Lebendigsein bedeutet, solche Hochsensibilitätspunkte zu haben, wo sich eine Türe zur Mikrowelt öffnet.
Wie läuft das beim Menschen konkret ab?
Nehmen Sie zum Beispiel die Frage, woher die Ideen kommen. Wir pflegen zu sagen: Plötzlich kam mir eine Idee. Nun kann man sagen, das komme aus dem Unterbewusstsein, und die Physiologen können sogar Ströme im Hirn messen. Aber der Empfang, der Anstoss für die Ideen, das ist nicht einfach nur ein Strom oder die Intensität einer elektromagnetischen Welle oder so etwas, sondern das kommt aus dem Untergrund.
Aus der Mikrowelt.
Genau. Das Fantastische ist, dass dieser Untergrund echt offen ist, prinzipiell nicht prognostizierbar. Diese Nicht-Vorhersagbarkeit hat nichts mit einem Mangel an Wissen zu tun, sondern damit, dass die Welt eine ganz andere Struktur hat, als uns scheinen will. Wir können die Unsicherheiten also nicht mit immer mehr Wissen beseitigen. Anderseits können wir nun wirklich sagen: Es gibt das echt Kreative, es kann etwas aus nichts entstehen oder sich in nichts auflösen. In diesem Gebubbel, in diesem Gebabbel bilden sich dann Schlacken, die den Gesetzen der klassischen Physik folgen, und daran können wir vieles ablesen, aber genau nicht, wie sie entstanden sind.
Moment mal, die Freiheit des kreativen Menschen ist doch etwas ganz anderes als die Freiheit eines Quantensystems. Gehen Sie jetzt nicht etwas gar locker mit den Begriffen um?
Sie haben insofern Recht, als in der Quantentheorie die Willensfreiheit des Menschen nicht drinsteckt. Aber diese Theorie gilt nur für die unbelebte Materie exakt, bei Lebewesen kommt eben der freie Wille noch hinzu. Wir können unser bisschen Lebendigkeit genau dazu verwenden, dem Pendel am Instabilitätspunkt einen Stoss zu geben in die Richtung, in die wir fallen wollen. Die Handlung selber läuft dann wieder nach den Gesetzen der Physik ab, aber Auslöser für die Kettenreaktion, an deren Ende zum Beispiel eine bestimmte Handbewegung steht, ist der freie Wille. Die Offenheit der Quantenwelt wird im Lebendigen benützt, um das eine oder das andere zu bevorzugen, und das eröffnet uns die Möglichkeit, gestalterisch zu wirken. Das kommt uns als schöpferischen Wesen enorm entgegen. Es ist nicht so, dass ich mir das ganze Leben lang den Kopf zerbreche, und hinterher bin ich doch nur ein kleines Rädchen, das genau das macht, von dem ich glaube, es sei besonders originell. Das zu erfahren, ist ein sehr befreiendes Gefühl.
Wenn man Sie so reden hört, versprühen Sie etwas sehr Optimistisches. Gleichzeitig sind Sie über die ökologischen und politischen Entwicklungen sehr besorgt. Wie geht das zusammen?
Intellektuell bin ich ein extremer Pessimist. Aber emotional mag ich diesen Zustand nicht. Ich brauche sehr lange, bis ich eine Sache für hoffnungslos erkläre. Einmal war ich mit Gorbatschow und Sacharow in einer Sitzung im Kreml. Sacharow beschwerte sich, es gehe zu langsam mit Glasnost und Perestroika, und Gorbatschow antwortete ihm: «Andrej Dimitrijewitsch, ich stimme mit dir mehr überein, als du denkst. Aber was du nicht siehst: Wenn ich zu schnell vorwärts mache, schaffe ich es nicht. Dann bin ich einfach wieder der Diktator, der alles bestimmt.» Wir haben Gorbatschow dann gefragt, ob er denke, dass er das alles schafft mit den Reformen, und er sagte nach einiger Pause: «Wenn ich morgens aufstehe, denke ich nie daran, ob mir die Zeit dazu reicht. Ich frage mich einzig, ob ich genügend Zeit habe, den Point of no Return zu erreichen.» So denke ich auch. Das Optimum, was ich mir vorstellen kann, ist eine Dynamik, die nicht mehr umkehrbar ist. Also das ist vielleicht mein Optimismus.

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