- Interview:"Die Arbeitszeit ist schon jetzt höher" + eine Prognose von mir - Sascha, 15.11.2003, 18:19
Interview:"Die Arbeitszeit ist schon jetzt höher" + eine Prognose von mir
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<font size=5>"Die Arbeitszeit ist schon jetzt höher"</font>
Mehrarbeit für alle bringt weder Wachstum noch zusätzliche Jobs. Notwendig sind flexible Modelle
Die Fragen stellte Christian Tenbrock
die zeit: Herr Bosch, müssen die Deutschen länger arbeiten?
Gerhard Bosch: Zum jetzigen Zeitpunkt auf gar keinen Fall. Wir haben doch ungenutzte Arbeitskraft und Arbeitszeit im Überfluss, das zeigt die hohe Arbeitslosenrate.
zeit: Damit sagen Sie das Gegenteil von vielen klugen Leuten. Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel, Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, viele Verbandschefs und Unternehmenslenker: alle wollen, dass länger gearbeitet wird.
Bosch: Politische Forderungen hängen nicht von der Intelligenz, sondern eher von der Interessenlage ab. Längere Arbeitszeiten bedeuten geringere Löhne. <font color="#FF0000">Stundenlöhne über Mehrarbeit zu kürzen ist ja recht geschickt</font>. Die Monatslöhne bleiben gleich, also merken viele Leute nicht so schnell, dass es weniger um die Arbeitszeit als um ihr Geld geht.
zeit: Aber spricht nicht die Statistik eine klare Sprache? Laut den Zahlen der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung (OECD) arbeiten nur Norweger und Niederländer weniger als die Deutschen.
Bosch: <font color="#FF0000">Richtig ist, dass wir im Vergleich zu sehr vielen Ländern in der Welt kürzer arbeiten. Aber die Frage ist, ob die Zahlen, die in der politischen Debatte verbreitet werden, der Realität entsprechen</font>. <font color="#FF0000">Erstens werden sehr oft nur die tariflichen Arbeitszeiten in der Industrie verglichen</font>[Eigener Kommentar: Korrekt!]. Da liegen wir in Deutschland wegen der 35-Stunden-Woche in der Metallindustrie ziemlich niedrig. <font color="#FF0000">Anders sieht die Sache aus, wenn man andere Branchen und die Angestellten einbezieht</font>. <font color="#FF0000">Die Angestellten etwa im Versicherungs- und Bankengewerbe, arbeiten länger als in den meisten anderen europäischen Ländern</font>[Eigener Kommentar: Ebenso korrekt!]. Zweitens steigen seit Mitte der neunziger Jahre die tatsächlichen Wochenarbeitszeiten wieder an. Das liegt unter anderem daran, dass immer mehr Unternehmen <font color="#FF0000">entweder gar nicht den Tarifverträgen unterliegen oder sich nicht an sie halten</font>. Für den Arbeitsmarkt hat diese Arbeitszeitverlängerung übrigens nichts gebracht.
zeit: Und was ist mit der These, dass mehr Arbeit auch mehr Wachstum bringt?
Bosch: Wenn es diesen einfachen Zusammenhang so gäbe, müsste die Wirtschaft in den Niederlanden und in Norwegen ja weniger wachsen als bei uns. Das ist nicht der Fall. Wir haben in Deutschland mehr als vier Millionen Arbeitslose. Arbeitszeit ist also nicht der Engpassfaktor. Unser größtes Problem ist derzeit, dass der Konsum schwach ist, dass zu wenig nachgefragt wird. Würde in einer solchen Situation die Arbeitszeit kollektiv erhöht, würden die Leute entweder untätig rumstehen, weil niemand noch mehr Waren braucht - oder sie würden entlassen.
zeit: Nach Ansicht vieler Wirtschaftsforscher steigt das Wachstum in Deutschland im kommenden Jahr allein deshalb um 0,6 Prozent, weil viele Feiertage auf einen Sonntag fallen und damit mehr gearbeitet wird. Wie passt das zu Ihrem Nachfrageargument?
Bosch: Mehr Arbeitstage allein bringen noch kein Wachstum. Nach dem Herbstgutachten der Forschungsinstitute kommen die Impulse vor allem vom Export und in geringerem Maße vom Anziehen der Binnennachfrage.
zeit: Ohne Lohnausgleich bringt Arbeitszeitverlängerung nichts? Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft sagt, eine Stunde Mehrarbeit pro Woche schaffe 60000 neue Arbeitsplätze.
Bosch: Das beruht auf viel zu simplen Annahmen. Da macht das Institut genau das, was den Gewerkschaften immer vorgeworfen wurde, wenn die eine Arbeitszeitverkürzung durchsetzen wollten. Man verspricht der Ã-ffentlichkeit, dass durch eine Arbeitszeitverlängerung die Lohnkosten sinken und dadurch - quasi automatisch und sofort - auch die Nachfrage nach neuen Arbeitskräften steigt. So einfach funktioniert die Wirtschaft aber nicht. Das klappt nur, wenn die Mehrproduktion durch mehr Arbeit auch abgesetzt werden kann. Und das ist angesichts der Konjunkturschwäche, die wir gegenwärtig ja nicht nur in Deutschland haben, eine mehr als zweifelhafte Annahme. Außerdem unterstellt diese Argumentation, dass wir in Deutschland ein Lohnkostenproblem haben.
zeit: Haben wir das etwa nicht? Die Arbeitskosten in der Industrie sind bei uns so hoch wie nirgendwo auf der Welt.
Bosch: Wieder gilt, dass sich jeder die Statistik herausgreift, die ihm passt. <font color="#FF0000">Die Facharbeiter werden bei uns sehr gut bezahlt, das ist richtig. Aber bei den Angestellten sind die Lohnkosten zum Beispiel in den USA höher als bei uns</font>[Eigener Kommentar: Womit er Recht hat! Facharbeiter haben tatsächlich in Deutschland teils exorbitante Löhne. In Deutschland liegt das Problem v.a. im Lohngefüge. Die Löhne passen in ihren Relationen nicht]. Außerdem sind die Löhne in Deutschland seit Mitte der Neunziger weniger gestiegen als bei unseren wichtigsten Konkurrenten, bei zugleich guter Produktivitätsentwicklung. Daraus folgt, dass wir bei den Lohnstückkosten sehr wettbewerbsfähig sind. Diese Lohnstückkosten haben in der Euro-Zone zwischen 1996 und 2000 um 3,2 Prozent zugenommen, in Amerika um 2,1 Prozent und bei uns nur um 0,2 Prozent. Gleichzeitig bauen unsere Beschäftigten nach wie vor sehr gute Produkte zusammen. Schauen Sie doch mal auf die Exportstatistik. Trotz hoher Löhne haben wir da einen Spitzenplatz.
zeit: Zusammengefasst heißt das alles: Mehrarbeit bringt’s nicht?
Bosch: Kollekive Mehrarbeit erhöht jetzt nur die Arbeitslosigkeit. Das ist schematisches Umverteilungsdenken. Es nützt nichts.
zeit: Nicht einmal in einer wachsenden Wirtschaft?
Bosch: Wenn ein Unternehmen volle Auftragsbücher hat und die Nachfrage nicht erfüllen kann, kann man natürlich vorübergehend die Arbeitszeit erhöhen. Oder ein Unternehmen ist bei guter Nachfrage in der Kostenkrise, auch da hilft eine vorübergehende Arbeitszeitverlängerung, hier eventuell ohne Lohnausgleich. Continental macht das derzeit, mit Zustimmung von Gewerkschaft und Betriebsrat. Aber grundsätzlich ist es natürlich besser, in einer wachsenden Wirtschaft entweder zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen oder Überstunden zu machen, die dann in der nächsten Krise wieder abgefeiert werden können.
zeit: Während Politiker und Manager Mehrarbeit fordern, arbeiten Opel und Telekom künftig kürzer, ohne Lohnausgleich. Ist das der Königsweg?
Bosch: Leider gibt es keine Königswege. Wir müssen unterscheiden zwischen mehreren Typen der Arbeitszeitverkürzung. Kurzfristig lässt sich die Arbeitszeit nur ohne Lohnausgleich stark verringern. Defensive Maßnahmen wie bei der Telekom oder bei Opel mit Arbeitszeitverkürzungen um zehn oder zwanzig Prozent sollen ein einzelnes Unternehmen kurzfristig entlasten und machen nur Sinn, wenn damit auch gleichzeitig die Lohnkosten sinken. Wird Arbeitszeitverkürzung langfristig tariflich vereinbart, kann ein Lohnausgleich aus dem Zuwachs an Produktivität finanziert werden. Hier gibt es einen Bedarf an Arbeitszeitverkürzungen für besonders belastete Arbeitskräfte, wie bei Schichtarbeitern. Wir müssen zudem mehr Chancen bieten, dass die Arbeitszeit individuell vereinbart werden kann, zum Beispiel für Männer oder Frauen, die sich gleichzeitig um ihre Kinder kümmern wollen. Warum denen nicht die Möglichkeit geben, nach freier Wahl etwa in einem Korridor zwischen 25 und 37 Stunden zu arbeiten - natürlich ohne Lohnausgleich?
zeit: Sie fordern also nicht kürzere oder längere, sondern vor allem flexiblere Arbeitszeiten.
Bosch: Ja. Schon jetzt arbeiten 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland mit Arbeitszeitkonten. Flexible Arbeitszeiten ermöglichen auch, die Maschinen länger zu nutzen. 1990 konnte Volkswagen in Wolfsburg die Bänder ungefähr 3000 Stunden im Jahr laufen lassen. Heute, bei insgesamt wesentlich kürzerer Arbeitszeit für die einzelnen Beschäftigten, laufen die Bänder jährlich bis zu 5000 Stunden. Das nützt VW und den Beschäftigten. Was für VW gilt, ist auch für andere richtig. Interessanterweise sind ja gerade jene Branchen beim Export ganz vorn, die in Deutschland mit die kürzesten Arbeitszeiten haben. Die haben vielfach auch die innovativsten Arbeitszeitmodelle. Und damit sind sie dann international sehr wettbewerbsfähig.
Die Fragen stellte Christian Tenbrock
(c) DIE ZEIT 06.11.2003 Nr.46
Eigener Kommentar: Im Prinzip hat der Mann ja Recht wenn er sagt, daß in Deutschland in der Realität schon wesentlich länger gearbeitet wird als auf dem Papier steht. Angestellte in vielen Branchen müssen tatsächlich häufig statt 40 Stunden eher 45 bis 50 arbeiten. Überstundenzuschläge gibt es fast nirgendwo mehr und man kann froh sein wenn Überstunden überhaupt mit dem gewöhnlichen Stundenlohn bezahlt werden. Wo er auch Recht hat ist die Sache mit den Facharbeitern. Ich bin kein Feind der Facharbeiter aber die Facharbeiterlöhne in Deutschland sind m.E. viel zu hoch. Das stimmt. Ich kenne da mehrere Beispiele wo ganz gewöhnliche Facharbeiter 2500 Euro brutto pro Monat für 37 Arbeitsstunden pro Woche kassierten. Das im ersten bis dritten Berufsjahr. Die meisten hatten relativ bescheidene Schulabschlußzeugnise und zugleich relativ bescheidene (um nicht zu schreiben: Zeugnisdurchschnitte: 3,3 - 3,7) Zeugnisse von der Berufsschule. Das Engagement war so, daß gemacht worden ist was man muß aber sonst auch nicht viel mehr. D.h. in der 38. Arbeitsstunde der jeweiligen Woche wurde der"Löffel geschmissen" und Wochenende gemacht. Muß ich eine Prognose abgegeben so sehe ich für die Facharbeiter sowohl kurzfristig aber auch zumindest mittelfristig schwarz. Deren Löhne werden sinken müssen oder deren Arbeitszeit (die tatsächlich im internationalen Vergleich sehr niedrig ausfällt) steigen müssen - ohne Lohnausgleich! Es ist derzeit in vielen Unternehmen mittlerweile so, daß Facharbeiter häufig höhere Stundenlöhne erzielen als Aprobierte, Promovierte oder sonstige höher qualifizieren Arbeitskräfte. M.E. passt hier das Lohngefüge nicht mehr ganz. Durch die EU-Ostererweiterung wird es m.E. zu einem Druck auf deren Löhne kommen. Vor allem die Entlohnung in Berufen die relativ einfach und/oder schnell zu erlernen sind da sie die"lediglich" eine Ausbildung von zwei bis drei Jahren voraussetzen wird sinken. Ich kann daher nur jedem anraten sich weiterzubilden solange er noch kann. Die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt wird größer werden. Man kann sich am besten dagegen schützen wenn man sich weiterbildet und damit vor der Konkurrenz gewissermaßen schützt weil man Dinge kann die andere nicht können. Drei Hauptfaktoren werden dazu führen, daß die Löhne der Facharbeiter sinken werden:
1. [b]Das Ausbildungsniveau unserer Facharbeiter wird schlechter. Viele schaffen heute nicht mehr die IHK-Prüfungen oder auch die Prüfungen der jeweiligen anderen Kammern. Viele läßt man"aus Gnade" gerade so mit 3,5 oder schlechter durch die Prüfung kommen. Prüfer sind ja schließlich auch nur Menschen. Durch PISA und auch andere Tests wird das sinkende Ausbildugnsniveau immer sichtbarer.
2. EU-Osterweiterung: Durch die Erweiterung der EU und die offenen Grenzen wird es Druck auf die Löhne der Facharbeiter geben. Die Zahl der Arbeitnehmer die diese Jobs machen können wird steigen. Die Arbeigeber haben eine noch größere Auswahl. Die Gewerkschaften verlieren an Macht.
3. Die Ausdünnung des sozialen Netzes: Unser Staat ist pleite. Daraus leite ich ab, daß in den nächsten Jahren mehr und mehr der Sozialstaat beschnitten wird. Hartz war m.E. erst der Anfang. Vermutlich werden die Zumutbarkeitskriterien weiter verschärft, verstärkt Druck auf Arbeitslose ausgeübt und auch der Druck auf Sozialhilfeemfpänger verstärkt. Der Druck muß nicht so groß werden wie in Amerika. Aber je stärker er wird desto mehr Menschen müssen zwangsläufig um überleben zu können eine Arbeit annehmen. Und da die Arbeitslosigkeit mit sinkendem Bildungsgrad stetig zunimmt wird daraus resultieren, daß nach Bildungsgrad gestaffelt auch von dieser Seite aus Druck auf Löhne und Gehälter entstehen wird. Je höher der Bildungsgrad desto weniger werden Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt auftreten. Gerade aber bei Facharbeiter wo die Arbeitslosigkeit realtiv hoch ist wird der Effekt eine Verringerung der Löhne sein.
Das Resultat wird sein, daß sich das Lohngefüge in Deutschland auf insgesamt niedrigerem Niveau wieder stabilisieren wird.
Viele Grüße,
Sascha[/b]

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