- Perle redet Klartext... - Boyplunger, 16.11.2003, 11:25
- Von der Bedeutung der NATO.... - stocksorcerer, 16.11.2003, 12:54
Perle redet Klartext...
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und empfiehlt die europäische Geschichte der letzten Hundert Jahre noch einmal genauer zu lesen...
„Zu viele in Europa, zu viele Deutsche, zu viele Franzosen und andere glauben daran, daß die deutsch-französische Beziehung wesentlich sei für den Frieden. Und daß die Essenz dieser Beziehung letzten Endes in Regierungsabsprachen bestehe. Ich glaube, das ist eine Fehlinterpretation der Geschichte. Der Frieden auf diesem Kontinent wird nicht gesichert durch Gespräche zwischen Chirac und Schröder und auch nicht durch Vereinbarungen zwischen diesen."
Aus der Neuen Solidarität Nr. 47/2003
Das Projekt"deutsch-französische Union"
Transatlantische Spannungen. Der neokonservative Pentagon-Berater Richard Perle hat die deutsch-französische Zusammenarbeit wütend attackiert. Er tat dies nicht nur, weil sich Paris und Berlin gegen den Irakkrieg gestellt hatten und jetzt durch die Ereignisse im Irak ihre Bestätigung finden.
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Worum geht es wirklich?
Le Monde wird deutlich
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Am 3. und 4. November veranstaltete die Welt am Sonntag ihre alljährliche sicherheitspolitische Tagung in Berlin. Einer der Redner war Richard Perle vom Verteidigungspolitischen Beirat des Pentagons, einer der aggressivsten Vertreter der neokonservativen Imperialfraktion in Washington. Perle verteidigte zunächst in scharfen Tönen die amerikanische Präventivkriegsdoktrin, um dann zu einem Rundumschlag gegen die deutsch-französische Zusammenarbeit auszuholen.
Perle sagte:"Wir [die USA und Europa] haben doch gemeinsame Werte zu verteidigen, es gibt doch offensichtlich gemeinsame Interessen, und wir haben eine Allianz, die genutzt werden sollte für deren Schutz. Aber ein Konzept paßt da nicht hinein: nämlich der Gedanke eines Europas als Gegengewicht zu den USA. Und wir sollten uns nicht in die Tasche lügen: Es gibt Mitglieder in unserer Allianz, die tatsächlich glauben, Europa sollte als Gegengewicht zu den USA hingestellt werden. Chirac zum Beispiel, de Villepin zum Beispiel. Und auch andere in Europa denken so. Das muß innerhalb Europas mal abgeklärt werden. Europa muß sich entscheiden, ob es ein Gegengewicht werden oder ein Verbündeter bleiben will. Beides zusammen geht nicht. Der Begriff des Gegengewichts bedeutet Neutralisierung oder Ausbalancierung von Kräften, und nach amerikanischer Auffassung ist das weder im Interesse Europas noch der Amerikaner. Es ist sozusagen eine Utopie.
Wenn Deutschland das französische Konzept unterstützen sollte, ja, dann ist es mit der NATO zu Ende. Wenn Deutschland aber anerkennt, daß Europa kein Gegengewicht zu den USA sein sollte, daß die Interessen- und Wertegemeinschaft so wichtig ist, daß Europas Gegengewicht das Letzte wäre, was wir anstreben sollten, dann wäre das der Anfang einer neuen NATO... Zu viele in Europa, zu viele Deutsche, zu viele Franzosen und andere glauben daran, daß die deutsch-französische Beziehung wesentlich sei für den Frieden. Und daß die Essenz dieser Beziehung letzten Endes in Regierungsabsprachen bestehe. Ich glaube, das ist eine Fehlinterpretation der Geschichte. Der Frieden auf diesem Kontinent wird nicht gesichert durch Gespräche zwischen Chirac und Schröder und auch nicht durch Vereinbarungen zwischen diesen."
Der in Berlin anwesende ehemalige französische Generalstabschef Jacques Lanxade entgegnete auf Perles Tirade:"Ich bin ein Freund der USA, aber die Aggressivität, die Sie uns gegenüber gezeigt haben, hilft nicht weiter. Ich frage mich, ob ich meine Einstellung gegenüber den USA nicht ändern muß. Ich mag Ihr Land, aber irgendwie muß das anders laufen."
Worum geht es wirklich?
Ist Perle, einer der Hauptkriegstreiber gegen den Irak, einfach nur wütend darüber, daß die Lage im Irak das genaue Gegenteil dessen ist, was er noch im letzten Mai behauptete? Kann es Perle nicht verwinden, daß sich Chiracs und Schröders Warnungen bezüglich des Iraks voll bestätigt haben? Das mag so sein, aber Perle ist offensichtlich weniger über das erbost, was bereits geschehen ist, sondern darüber, was sich am politischen Horizont deutlich abzuzeichnen beginnt.
Wer sich in den vergangenen Monaten mit Sicherheitspolitikern in Europa unterhalten hat, wird festgestellt haben, daß sich unabhängig von der Parteizugehörigkeit oder Nationalität ein neuer Konsens herausbildet. Man könnte diesen Konsens als zweigleisig charakterisieren:
1. Man will definitiv keinen Bruch mit den Vereinigten Staaten und versucht, auf die Kräfte in den USA zu setzen, die Amerika zwar als globale Führungsmacht, aber nicht als unilaterale Imperialmacht mit selbsterteilten Präventivkriegsmandat betrachten.
2. Man ist entschlossen, das Zusammenwachsen in Europa vor allem qualitativ zu intensivieren, weil jeder einzelne europäische Staat für sich alleine einfach zu schwach ist. Dabei kommt der deutsch-französischen Zusammenarbeit die Schlüsselrolle zu. Entscheidend ist die"strukturierte Zusammenarbeit" in der Europäischen Union, die man auch als Zusammenarbeit"mit verschiedenen Geschwindigkeiten" bezeichnen kann, d.h. die Staaten, die eng zusammenarbeiten wollen, können dies tun, ohne von anderen Staaten, die das nicht wollen, daran gehindert zu werden.
In gewisser Weise bedeutet die Umsetzung dieses Ansatzes, daß die Europäische Union tatsächlich ein"Gegengewicht" zu den Vereinigten Staaten bildet, auch wenn die EU niemals ein europäischer"Superstaat" werden wird. Mit der"strukturierten Zusammenarbeit" in der EU wird die von amerikanischen Neokonservativen (aber nicht nur von ihnen) betriebene Politik der"dis-aggregation" der EU in ein"neues" und"altes" Europa entscheidend erschwert. Dies ist ein zentrales Thema beim gegenwärtigen"Verfassungs"-Konvent in Rom, wo verschiedene Staaten wie Spanien, Polen, Tschechien und andere ihre Rolle im europäischen"Teile und herrsche"-Spiel mit Eifer spielen.
Das alles weiß natürlich Perle, und er wußte wohl noch mehr, als er in Berlin mit seiner wilden Tirade gegen die deutsch-französische Zusammenarbeit loslegte. Er wußte, daß Frankreich und Deutschland ihre bilaterale Zusammenarbeit qualitativ intensivieren werden.
Le Monde wird deutlich
Am 12. November erschien in der halboffiziösen Pariser Tageszeitung Le Monde ein langer Artikel mit dem Titel:"Paris und Berlin ziehen 'Deutsch-Französische Union' in Betracht". Darin heißt es, daß die deutsch-französischen Beziehungen eine in der Geschichte beispiellose Intensität und Qualität erreicht haben. Angesichts der Weltlage und der Erweiterung der EU sei es aber dringend geboten,"noch entschieden weiter zu gehen", wie sich der französische Premier Raffarin jüngst ausdrückte. Le Monde zitiert auch Außenminister de Villepin in diesem Sinne. Es werde überlegt, von der deutsch-französischen"Entente" zu einer"Union" überzugehen. In der mehr rechtsstehenden Tageszeitung Le Parisien war am Tage zuvor ein ähnlicher Artikel erschienen.
Dieses Projekt einer"deutsch-französischen Union", über das erstmals anläßlich des 40. Jahrestages des Elysée-Vertrages gesprochen worden sei, habe einen taktischen und einen strategischen Aspekt. Taktisch wolle man Staaten wie Spanien, Polen, Tschechien und anderen unmißverständlich signalisieren, daß eine Obstruktions- und Verwässerungspolitik nur zur Bildung eines umso geschlosseneren Kerneuropas um eine"deutsch-französische Union" führen werde. Zugleich aber sei eine"deutsch-französische Union" die strategische Perspektive für Paris und Berlin. Das betrifft inbesondere Wirtschafts- und Finanzfragen sowie eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Man kann durchaus annehmen, daß dabei die Möglichkeit der Ausweitung des Abschreckungsschirms der französischen Nuklearstreitkräfte über Frankreich hinaus nicht ausgeschlossen wäre.
Richard Perle hatte in Berlin gesagt, statt von Chirac und de Villepin sähe er Frankreich lieber von einer sozialistischen Regierung geführt. Aber er sollte bedenken, daß das Konzept einer"deutsch-französischen Union" auch von Sozialisten, beispielsweise des ehemaligen Finanz- und Wirtschaftsministers Strauss-Kahn, unterstützt wird. Le Monde schrieb, daß Bundeskanzler Schröder dem Projekt einer"deutsch-französischen Union" positiv gegenüberstehe, während Außenminister Fischer zurückhaltender sei. Le Monde interviewte Karl Lamers, den ehemaligen außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der sich ebenfalls für eine qualitative Intensivierung der deutsch-französischen Beziehungen aussprach. Lamers sagte, es müsse und könne erreicht werden, daß die beiden Regierungen und die beiden Parlamente in allen strategischen Fragen mit einer Stimme sprechen.
Kenner der transatlantischen Beziehungen gehen davon aus, daß angesichts der sich abzeichnenden qualitativen Vertiefung der deutsch-französischen Zusammenarbeit mit massivem Störfeuer und Destabilisierungsversuchen seitens Washingtons zu rechnen sei. Die Inszenierung von Skandalen gegen führende Politiker und die Mobilisierung"nationaler" Kräfte von rechts und links ist zu erwarten. Tatsache bleibt aber, daß sowohl in der französischen wie in der deutschen Bevölkerung die Unterstützung für das deutsch-französische Bündnis und das Vertrauen in das Partnerland geradezu überwältigend ist. Diese Entwicklung muß jetzt durch eine gemeinsame wirtschaftspolitische Perspektive eines neuen Bretton-Woods-Systems und der Eurasischen Landbrücke untermauert werden.
Michael Liebig

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