- Staatsverschuldung ist eine Nebelwand - Philipp Steinhauer, 13.12.2003, 13:55
- Wieder mal ein Glaubensbekenntnis? - Zardoz, 13.12.2003, 14:28
- so kompliziert ist es gar nicht - EM-financial, 14.12.2003, 12:38
- Wieder mal ein Glaubensbekenntnis? - Zardoz, 13.12.2003, 14:28
Staatsverschuldung ist eine Nebelwand
-->http://www.jungewelt.de/2003/12-13/028.php
Interview: Arnold Schölzel
»Staatsverschuldung ist eine Nebelwand«
Gespräch mit Siegfried Wenzel über öffentliche Armut und privaten Reichtum in der Bundesrepublik, Sparbeschlüsse, radikale Modelle und das Vorziehen der Steuerreform
* Siegfried Wenzel (geb. 1929) ist Wirtschaftswissenschaftler. Nach dem Studium in Leipzig arbeitete er im Zentralvorstand der Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe. Von 1955 bis 1989 war er Mitarbeiter, dann Stellvertreter des Vorsitzenden der Staatlichen Plankommission der DDR für Gesamtrechnung und Plankoordination. 1990 war er Mitglied der DDR-Regierungsdelegation für die Schaffung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion beider deutscher Staaten. Er lebt in Berlin. Vor kurzem erschien sein Buch: »Was kostet die Wiedervereinigung? Und wer muß sie bezahlen? Stand und Perspektiven« (Verlag Das Neue Berlin)
F: Wie hoch ist die Staatsverschuldung der Bundesrepublik, und was halten Sie von der These, daß diese Schuldenlast auf keinen Fall erhöht werden darf, auch nicht zur Ankurbelung der Konjunktur im Keynesschen Sinne?
Schulden sind deshalb eine unangenehme Angelegenheit, weil sie - auch wenn man sie abbaut - Zinsen verursachen, da der Kreditgeber eine mindestens durchschnittliche Kapitalrendite erzielen will. Deshalb muß man prinzipiell gegen das weitere Ausufern der Staatsverschuldung eintreten. Schulden und die regelmäßig darauf zu zahlenden Zinsen vermindern bei einem gegebenen Steueraufkommen die zur Verfügung stehenden Mittel und schränken so die Handlungsfähigkeit eines Staates ein. Aber: Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte der Bundesrepublik wurde im Monatsbericht der Bundesbank vom Mai 2003 mit rund 1,3 Billionen Euro für das Jahr 2002 ausgewiesen. Gleichzeitig wurde allein das reine, registrierte Geldvermögen der privaten Haushalt in der BRD (also ohne das im Ausland illegal geparkte Geld) für das Jahr 2001 mit 3,8 Billionen Euro angegeben. Das gesamte Geld und Sachvermögen der privaten Haushalte beträgt nach diesen offiziellen Angaben sogar 8,1 Billion Euro. Die Staatsverschuldung der Bundesrepublik beläuft sich also auf weniger als 30 Prozent des vorhandenen Geldvermögens. Bezieht man das vorhandene, hauptsächlich aus Immobilien bestehende Vermögen in die Betrachtung ein, sind das weniger als 16 Prozent.
Es ist offensichtlich, daß mit dem ständigen Geschrei über die hohe Staatsverschuldung und den damit verbundenen Horrorszenarien die mit der »Agenda 2010« geplanten Maßnahmen zur Beschneidung der Renten, zur Verlagerung von Gesundheits- und Pflegekosten auf die Arbeit»nehmer« und damit die Verstärkung der sozialen Schieflage gegenüber den Bürgern »begründet« werden soll. Die verwirrende Diskussion über eine zu hohe Staatsverschuldung ist eine Nebelwand, hinter der das Konzept einer neoliberalen Wirtschaftspolitik nach und nach verwirklicht und die Umverteilung von unten nach oben in Richtung des amerikanischen Weges nicht nur fortgesetzt, sondern verstärkt werden soll.
Die immer neuen Sparbeschlüsse stellen längst die Erfüllung der öffentlichen Aufgaben gemäß den zivilisatorischen und sozialen Standards eines modernen Staates immer mehr in Frage. Deshalb sollten Maßnahmen ergriffen werden, um die Besitzer des gewaltigen, angehäuften Vermögens gemäß ihres Anteils am Reichtum der gesamten Gesellschaft für die Lösung dieser Aufgaben heranzuziehen. Wie die volkswirtschaftlichen Grunddaten beweisen, wäre nur ein verhältnismäßig geringer Anteil von diesen Vermögen erforderlich, um das Problem der Staatsverschuldung zum Beispiel auf dem Wege der Erbschafts- oder/und einer ausgewogenen Vermögenssteuer mit einem Schlage zu lösen, was jedoch in dieser radikalen Form weder notwendig noch vernünftig wäre. Ein solcher Blick nicht nur auf die »Haben-« sondern auch auf die »Soll«seite der Bilanz des gesellschaftlichen Gemeinwesens Bundesrepublik Deutschland relativiert sofort das überzogene Geschrei über die Staatsverschuldung und legt die damit verbundenen neoliberalen Absichten bloß.
F: Bedeutet ein solcher Schritt nicht schlichtweg eine »kalte Enteignung«?
Vom neoliberalen Standpunkt aus ist jede Steuer ein Enteignungsakt, wie die Wortführer dieser Wirtschaftspolitik nicht müde werden zu behaupten. Es werden von bestimmten Kreisen - übrigens quer durch alle Parteien - die Steuerzahlungen der Bürger oftmals als etwas Schädliches verteufelt, das Wachstum und Senkung der Arbeitslosigkeit hindert. Aber kein Gemeinwesen, keine Volkswirtschaft kann sich ohne öffentliche Leistungen zur Sicherung zivilisatorischer und sozialer Standards, die von allen Bürgern über Steuern finanziert werden, entwickeln und kann ohne sie existieren. Kinderbetreuung, Bildung, Wissenschaft und Kultur, soziale Ausgeglichenheit, Infrastruktur wie Straßen, Autobahnen und Verkehrswege sind Voraussetzungen für eine gedeihliche Entwicklung des gesellschaftlichen Organismus. Nur durch das Funktionieren des Gemeinwesens als Ganzem war es möglich, einen solchen Reichtum anzuhäufen, wie ihn die Bilanz der Bundesrepublik ausweist. Die neoliberale, prinzipiell steuerfeindliche Ideologie wird auch durch das Beispiel solcher Länder wie Schweden, Norwegen, Dänemark ad absurdum geführt, die hinsichtlich Wachstum und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit weit vor der BRD liegen und gleichzeitig eine höhere Steuerlast aufweisen.
Das rührt allerdings an die prinzipielle Frage der Verteilungsgerechtigkeit. Aber die ist schon lange überfällig. Wieso kann sich allein das private Geldvermögen in zehn Jahren, nämlich von 1990 bis 2000, fast verdoppeln, während die öffentliche Hand - zumindest was Bildung, Wissenschaft und Soziales betrifft - im wahrsten Sinne des Wortes immer mehr verarmt und hinter den Stand anderer europäischer Länder immer mehr zurückfällt? Das ist der eigentliche Grund dafür, daß die Bundesrepublik das Schlußlicht der entwickelten Länder ist.
F: Wie steht es mit der Einhaltung der Maastrichter Kriterien, also z. B. mit der Begrenzung des Haushaltsdefizits auf drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts?
Das ist ein vielschichtiges Problem. Natürlich ist die Verwirklichung einer strikten Haushaltssparpolitik ein fundamentales Erfordernis für die Stabilität des Euro. Zugleich ist unter den gegebenen Bedingungen ein konjunktureller Aufschwung wünschenswert.
Die Einhaltung der Maastrichter Kriterien sollte nicht als starre, kurzfristige Zielstellung betrachtet werden. Eine zeitweilige und kontrollierte Abweichung von ihnen sollte unter definierten Bedingungen möglich sein. Sie müßte von der Brüsseler Kommission und der Ã-ffentlichkeit besonders aufmerksam verfolgt werden. Man sollte in der Diskussion darüber Dramatisierungen und Totschlagsargumente vermeiden.
F: Was halten Sie von der Behauptung, daß mit der gegenwärtigen Staatsverschuldung der Bundesrepublik und ihrer wahrscheinlichen weiteren Erhöhung die heutige Generation der Älteren auf Kosten der Zukunft und damit der heutigen Jungen bzw. künftiger Generationen lebt?
Man sollte sich auch bei diesem Klischee zunächst mit den volkswirtschaftlichen Grunddaten vertraut machen: Wenn es wahr ist, daß nach dem Ausweis der Deutschen Bundesbank das Geld- und Immobilienvermögen der privaten Haushalte der BRD gegenwärtig acht Billionen Euro beträgt, dann hinterläßt die jetzige Generation der 65- bis 80jährigen den nachfolgenden Generationen ein Vermögen, wie es noch keine Generation in Deutschland an ihre Kinder und Kindeskinder weitergegeben, vererbt hat. Das pubertäre Geschwätz von offensichtlich durch jeden Sachverstand unbelasteten Kurzdenkern - sogar von augenscheinlich völlig überforderten Bundestagsabgeordneten - ist entweder eine ungewollte Demonstration ihrer Dummheit oder nur ein besonderer Trick, um durch aufsehenerregende Ablenkungsmanöver die Umverteilung von unten nach oben weiter zu beschleunigen. Eine solche Idee und die damit verbundenen Überlegungen über die Einschränkung z. B. von Gesundheitsleistungen für alte Menschen ist besonders inhuman und verächtlich. Man bedenke, daß gerade viele aus der Generation der heutigen Alten nach dem Zweiten Weltkrieg im wahrsten Sinne des Wortes bei Null beginnen mußten. Es ist unverständlich, daß große Parteien die Wortführer solcher die Generationen spaltenden Diskussionen zwar öffentlich leise tadeln, aber mit kaum verhüllter Sympathie unter ihre Fittiche nehmen. Wäre nicht eher die Frage aufzuwerfen, ob es unmoralisch ist, von Vermögen und von Reichtum zu leben, die man nicht selbst erarbeitet hat?
F: Der Fraktionsvize der CDU im Bundestag, Friedrich Merz, hat ein Modell zur Durchführung einer radikalen Steuerreform vorgelegt. Eine noch weitergehende Vereinfachung des Steuerrechts hat der ehemalige Bundesverfassungsrichter Paul Kirchhof in die Diskussion gebracht. Was halten Sie von diesen Vorschlägen?
Im Grundsatz sind sie positiv. Ein solcher Befreiungsschlag aus dem bestehenden Steuerchaos muß kommen und ist schon lange überfällig. Reparaturen an dem monströsen gegenwärtigen Steuersystem und dem Steuerrecht mit seinen offenen und raffiniert versteckt angelegten Ausnahmen, mit seinen Sonderbestimmungen für eine bestimmte Klientel, würden den Steuerdschungel nur weiter verdichten. Den übersieht selbst der dafür speziell ausgebildete und geschaffene Berufsstand, die Steuerberater, laut eigener vielfältiger Bekundung nicht mehr.
Aber auch eine radikale Steuerreform kann die bestehende soziale Schieflage und die Umverteilung von unten nach oben nicht nur weiterführen, sondern sogar verstärken. Sie kann auf die Durchsetzung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik gerichtet sein. Welcher Weg in dieser Grundfrage eingeschlagen wird, ist nicht abhängig von der Form, sondern vom Inhalt eines solchen Konzeptes, wie der Höhe der Steuersätze, den Beitragsbemessungsgrenzen, von Maßnahmen zur Beseitigung von Nachteilen bei der Kindererziehung u. a. Dazu ist aber in bezug auf diese Vorschläge noch viel zu wenig bekannt.
Also, radikale Steuerreform unbedingt; entscheidend ist jedoch die Gestaltung der »Stellschrauben«. Gleichzeitig sollte man sich darüber im klaren sein, daß die Lösung einer solchen Aufgabe eine Herkulesarbeit ist. In seinen Grundzügen wurden das heutige Steuersystem und das geltende Steuerrecht mit der Schaffung der Weimarer Republik erarbeitet und seither immer unübersichtlicher gestaltet. Ein Umbau erfordert Sorgfalt und auch etwas Zeit, wenn es nicht wieder zu einer endlosen Kette von Korrekturen und Nachbesserungen kommen soll.
F: An diesem Wochenende wird wahrscheinlich darüber entschieden, ob es zum Vorziehen der Steuerreformstufe III vom Jahr 2005 auf das Jahr 2004 kommt. Was halten Sie vom Vorziehen?
Ich schließe mich der Auffassung der fünf »Weisen« in ihrem Gutachten für die Bundesregierung an. Auch ich war ursprünglich gegen ein solches Vorziehen, weil das in der bisherigen konkreten Ausgestaltung die Kapitalbesitzer, Unternehmer und Besserverdienenden bevorteilt und die Umverteilung von unten nach oben schamlos fortsetzt. Es geht nicht in erster Linie darum, wie die Sachverständigen erklärten, das Hin und Her in der Finanzpolitik und die Unsicherheit für die Wirtschaft zu beenden. Ausschlaggebend für mich ist: Mit Hartz III und IV, mit den Maßnahmen zur Beschneidung der Renten, mit den Maßnahmen, die der Stabilisierung der Gesundheitsversorgung dienen sollen, mit der Verlagerung der Pflegeversicherung gänzlich auf die Arbeit»nehmer« und auf die Rentner tritt eine massive Beeinträchtigung der Massenkaufkraft und damit der Konjunkturerholung ein. Das könnte durch ein Vorziehen der Steuerreformstufe etwas gemildert werden.
Wenn der neoliberale Trend der »Agenda 2010« vorerst nicht generell gestoppt werden kann, ist ein Vorziehen der Steuerreformstufe III mit bestimmten Erleichterungen für die Lohnabhängigen und für Rentner mit einer Stärkung der Massenkaufkraft verbunden, also offensichtlich die zweitschlechteste Lösung.

gesamter Thread: