- Gewerkschaften: Die Verlierer - Sascha, 17.12.2003, 20:49
- Re: Gewerkschaften: Die Verlierer - Dieter, 18.12.2003, 01:20
Gewerkschaften: Die Verlierer
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<font size=5>Die Verlierer</font>
Deutschlands Gewerkschaften erlebten 2003 eine Niederlage nach der anderen. Ihre Chefs wollen die Trendwende - aber wie?
Von Christian Tenbrock
<font color="#FF0000">Ein Jahr „herber Rückschläge“ sei 2003 gewesen, sagt DGB-Chef Michael Sommer, ein Jahr, in dem „einiges zerbrochen ist“</font>. Deutschlands oberster Gewerkschafter klingt müde, als er das sagt, und <font color="#FF0000">nicht sehr hoffnungsvoll</font>.
Ein Jahr „wachsender Enttäuschungen“ habe er erlebt, meint Frank Bsirske, mit „Mobilisierungsschwächen“ und „schlechteren Beziehungen zur Politik“. Der ver.di-Vorsitzende sagt das sehr nüchtern, aber auch ein bisschen resigniert.
2003, „<font color="#FF0000">das war ein Jahr schmerzhafter Erkenntnisse</font>“, findet Klaus Wiesehügel, der erste Mann der Baugewerkschaft; „ein Jahr, in dem wir unserem Gegner in die Hände spielten“, sagt IG-Metall-Vize Berthold Huber. „Ein Jahr der Zäsur“, nennt es Hubertus Schmoldt, der Chef der IG Bergbau, Chemie, Energie.
Viel Freude haben die Spitzenfunktionäre der deutschen Gewerkschaften nicht, wenn sie auf das Jahr 2003 zurückschauen. <font color="#FF0000">Es waren zwölf Monate voll bitterer Niederlagen</font>. Im Osten Deutschlands ging ein <font color="#FF0000">richtungsweisender Streik verloren</font>, <font color="#FF0000">in Berlin der Kampf um die Reform des Sozialstaats</font>. Überall büßte man an Rückhalt ein, in der Bevölkerung und sogar bei der eigenen Basis. Von einer Gestaltungsmacht der Gewerkschaften war nichts zu spüren. Nicht einmal ihre Vetos wirkten. Die Tarifautonomie konnten sie im Vermittlungsausschuss am Wochenende gerade noch verteidigen - aber sonst kaum etwas von dem, was ihnen lieb und teuer ist.
Und nun?
Niederlagen gab es schon öfter. Ein schlechtes Image hatten die Funktionäre bereits vor diesem Jahr. In der Defensive sind sie seit langem. Aber vielleicht noch nie in der Geschichte der Republik hatten Deutschlands Arbeitnehmer-Vertreter politisch weniger zu sagen. <font color="#FF0000">Der Dialog mit der Politik, meint Michael Sommer, sei „deutlich schwieriger geworden“</font>. Als Partner, sagt Hubertus Schmoldt, werde man „sehr viel weniger anerkannt“. Das ist ein Schock.
Die Funktionäre verkannten die Stimmung völlig
Und eine Zäsur. Sie begann mit Gerhard Schröders Agenda-Rede am 14. März im Bundestag. Nicht nur, was der Kanzler sagte, wirkte wie ein Donnerhall - mehr noch, dass es ausgerechnet ein Sozialdemokrat war, der den Bruch mit sozialstaatlicher Tradition befahl. Bitter war auch die Erfahrung, dass man die eigene Basis gegen Schröder kaum mobilisieren konnte. Mindestens zweimal erkannten die Spitzen der Gewerkschaften die Stimmung nicht - oder wollten sie nicht erkennen. <font color="#FF0000">Hunderttausende sollten im Mai auf die Straße gehen, es wurden 90000. Der ausbleibende Protest, meint einer der Chefs, „machte die Niederlage perfekt“</font>.
Sie wurde im Juni noch schlimmer. Dieses Mal war es zwar nur die Führung der IG Metall, <font color="#FF0000">die sich in eine Auseinandersetzung verbiss, die sie nicht gewinnen konnte, weil große Teile der eigenen Mitgliedschaft sie nicht führen wollte</font>. Dass die Metaller im Kampf um die 35-Stunden-Woche im Osten Deutschlands unterlagen, war freilich auch eine Niederlage für alle deutschen Gewerkschaften. Hier hatte eine Organisation verloren, die als durchsetzungsfähigste Arbeitnehmer-Vertretung Deutschlands galt. Das wirkte nach - in den Medien, in der Politik. Gewerkschaftsfunktionäre zu Blockierern ohne ökonomischen Sachverstand zu stempeln wurde noch einfacher, auch für Gerhard Schröder.
Dass der Kanzler Gewerkschaftsvertreter „als Prellbock“ nutzte, denkt nicht nur Norbert Hansen, der Chef der Eisenbahnergewerkschaft Transnet. Schröder habe es verstanden, „die Gewerkschaften exemplarisch als rückschrittlich darzustellen, um damit seiner Politik Profil zu geben“, sagt auch ein anderer Spitzenfunktionär. Da ist es kein Wunder, dass nicht nur der politische Dissens einen tiefen Graben zwischen den Kanzler und die Gewerkschaften gerissen hat. Persönliche Verletzungen kommen hinzu. „Wie ein Kind“ habe er sich über die Wahlsiege von Rot-Grün gefreut, drückt es Klaus Wiesehügel stellvertretend für andere aus. „Und dann kommt diese grausame, brutale Politik.“
Aber was kann man dagegensetzen?
<font color="#FF0000">Zu lange schon hätten die Gewerkschaften „die veränderten Realitäten in dieser Gesellschaft nicht zur Kenntnis genommen</font>“, sagt Franz-Josef Möllenberg, der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung - Genuss - Gaststätten. Wie alle anderen Spitzenfunktionäre findet Möllenberg - auf diese Feststellung legt er Wert - die rot-grünen Sozialstaatsreformen in ihrem Kern ungerecht, auch er denkt, dass die Reichen zu wenige, die mittleren Schichten und die Armen zu viele Lasten tragen müssten. Aber der NGG-Chef sagt auch, <font color="#FF0000">dass sich die Gewerkschaften in einem halben Jahrhundert Bundesrepublik zu sehr daran gewöhnt hätten, „in einer Zugewinngemeinschaft zu leben“. Diese Zugewinne werden nun geringer - wenn es sie überhaupt noch gibt</font>.
<font color="#FF0000">Man müsse akzeptieren, dass „in den nächsten Jahren nicht mehr viel zu verteilen ist</font>“, pflichtet ein anderer Vorsitzender bei, der mit dieser Aussage namentlich nicht genannt werden will. Der Abschied von der Tradition fällt schwer. Vor allem ist er nicht unumstritten. Starke Minderheiten in den Gewerkschaften, gerade bei den mächtigen Riesen ver.di und IG Metall, wollen einen deutlichen Ruck nach links. Gewerkschaften, so ihre Ansicht, müssten - vielleicht im Verbund mit Kirchen und außerparlamentarischen Gruppen - eine klare Oppositionsrolle übernehmen. Nur: Wie kann man ein Gegner rot-grüner Politik sein, ohne sich vollends aus der politischen Praxis zu verabschieden? Und vor allem: Wie kann man gegen den Kanzler kämpfen, ohne damit einer noch schlimmeren Alternative den Weg zu bereiten? Einer „XXL-Version der Agenda 2010“, wie es Klaus Wiesehügel nennt?
Das strategische Problem der Gewerkschaften zur Jahreswende 2003/04 ist auch, dass ihnen nicht nur der politische Partner abhanden gekommen ist, sondern auch der politische Gegner. Das stiftet Verwirrung. Die SPD, darüber ist man sich unter den Vorsitzenden mehr oder minder einig, habe sich aus ihrer traditionellen Rolle als politischer Zweig der Arbeiterbewegung endgültig verabschiedet. Das begann lange vor Gerhard Schröder. Schon seit Jahren, beobachtet etwa Frank Bsirske, kämen die meisten Funktionäre der Partei und der Gewerkschaften aus unterschiedlichen sozialen Milieus. Die „soziale Fremdheit“ sei mithin gewachsen; dass viele Beamte und Angestellte, die als Ortsvereinsvorsitzende oder Abgeordnete der SPD fungierten, zugleich auch Gewerkschaftsmitglieder seien, spiele eine immer geringere Rolle. Das hat die Partei verändert - und ihre Agenda. „Für diese Politik 2006 Wahlkampf zu machen“, könne er sich nicht vorstellen, resümiert Bsirske. Das sagt auch DGB-Chef Michael Sommer.
Aber für eine durch Angela Merkel repräsentierte Union eben erst recht nicht. Die Konsequenz aus diesem Dilemma ist ein kräftiges Sowohl-als-auch. Einerseits, so Klaus Wiesehügel, müssten sich die Gewerkschaften künftig vor allem als „Lobby-Organisation der Arbeitnehmer“ verstehen; was sie „gesamtgesellschaftliche Verantwortung“ nannten, hätte damit wohl ein geringeres Gewicht. Auch könne man weiterhin, findet Frank Bsirke, nicht darauf verzichten, gegen eine falsche Politik zu mobilisieren - Demonstrationen und Proteste in den Betrieben soll es also auch in Zukunft geben.
Andererseits, so ebenfalls Bsirske, „müssen die Gewerkschaften ihre eigenen Konzepte besser rüberbringen, auch im Dialog mit der SPD“. Zu Recht verweist der ver.di-Vorsitzende darauf, dass sich in den Schubladen seiner Organisation schon jetzt zu praktisch allen Reformbereichen alternative Angebote finden lassen, zur Gesundheitspolitik ebenso wie zu den Themen Renten, Steuern oder Arbeitsmarkt. Bsirske möchte etwa die staatlichen Investitionen erhöhen und Kapitalgewinne und Unternehmen stärker belasten. Er redet einer aktiven Konjunkturpolitik das Wort, in der eine höhere Verschuldung in Kauf genommen wird. „So wie es die Amerikaner tun und die Briten getan haben“, sagt er - Länder also, die deutschen Gewerkschaftsfunktionären gemeinhin nicht als Vorbild dienen.
Im Konzert der Gewerkschaften spielt Bsirske mit solchen und anderen Forderungen derzeit ziemlich weit links. Das hat dem Chef der Dienstleister nicht nur die Feindschaft des Kanzlers eingebracht - „Der redet nicht mehr mit ihm“, berichtet ein Kollege -, sondern macht ihn unter den anderen Vorsitzenden auch umstritten. Einigkeit ist nicht eben eine gewerkschaftliche Tugend, nicht innerhalb der Organisationen und auch nicht zwischen den selbstbewussten Chefs. So kommt es, dass sich zwar alle Vorsitzenden darauf verständigen können, mit dem Thema Bildung und Qualifikation in die Offensive zu gehen. Auch das Verlangen nach Arbeitsplätzen, die eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf erlauben, nach mehr Kinderkrippen und Ganztagsschulen wird von allen unterschrieben. Nur: Wenn etwa der eher rechts spielende Hubertus Schmoldt erwägt, Weiterbildung (und Beschäftigungssicherung) gegen Lohnprozente einzutauschen, ist es mit der Einigkeit vorbei. Selbst der als Reformer geltende IG-Metall-Vize Berthold Huber hat damit Probleme (siehe Interview auf Seite 20).
„Mit Flächenlösungen gewinnen wir keinen Blumenpott mehr“
Überhaupt ist auch die Tarifpolitik - ihr Kerngeschäft - unter den Gewerkschaften umstritten. Schon die Forderung von Michael Sommer, „die sehr flexible tarifpolitische Realität viel offensiver zu vermitteln“, stößt mancherorts auf Unbehagen - nach dem Motto: Was man nur ungern tut, darüber redet man nicht. Dabei wissen alle Chefs, dass Flächentarife in Zukunft eine kleinere, betriebliche Regelungen dagegen eine größere Rolle spielen werden. Auch ist man sich weitgehend einig darüber, in Zeiten geringer Verteilungsspielräume künftig mehr Gewicht auf die „qualitative“ Tarifpolitik zu legen, also etwa die Bezahlung nach Leistung in den Mittelpunkt von Verhandlungen zu rücken. „Mit pauschalisierten Flächenlösungen wie der 35-Stunden-Woche gewinnt man heute keinen Blumenpott mehr“, sagt Transnet-Chef Norbert Hansen. „Wir brauchen auch Regeln für das Individuum.“
Aber wie sollen die aussehen? Im Ringen um die Tarifautonomie hat sich die IG Metall gerade dazu bereit erklärt, „betriebliche Spielräume“ auszuweiten. Aber wie viel Leine soll man den Betriebsräten geben - und vor allem: Wie schnell sollen Veränderungen zugelassen werden? Es gebe, kritisiert Hansen, „bisweilen keine gemeinsame Strategie, keine Abstimmung“, gerade auch in der Tarifpolitik. Die Folge ist Vielstimmigkeit, die oft genug als Kakofonie ankommt. Hansens Konsequenz: eine Stärkung des DGB, die Einrichtung richtungsweisender Denk- und Clearing-Stellen zur Tarif- und Sozialpolitik beim Dachverband - „und auch eine Aufwertung der Stellung des DGB-Chefs“.
Dazu aber wird es nicht kommen.
Das verhindern die Großen im Konzert der deutschen Gewerkschaften, das weiß auch Michael Sommer. „Einen ständigen Spagat“ müsse er leisten, quer über die unterschiedlichen Meinungen, sagt der Vorsitzende. Eigene Akzente zu setzen ist da nicht einfach. Aber es gelingt immer wieder. Keiner der Chefs fordert so deutlich wie Sommer, dass sich die Gewerkschaften in Zukunft mehr um jene kümmern müssten, „deren Hauptnahrungsmittel Nudeln sind“. <font color="#FF0000">Damit meint der DGB-Chef die deutschen Niedriglöhner, und wenn er das sagt, dann erkennt er auch an, dass es von diesen Billigarbeitern in Deutschland künftig mehr geben wird als heute schon</font>.
Keiner hat es bisher auch geschafft, für eine Republik im Umbruch eine umfassendere Neudefinition von Gerechtigkeit zu finden - und damit auch eine Vision für das große Ganze zu setzen. „Früher“, sagt Sommer, „prägten vor allem Verteilungsaspekte das Verständnis von Gerechtigkeit. Jetzt sind es auch Begriffe wie Teilhabe und Chancen, Zugang, Generation und Nachhaltigkeit oder Würde und Respekt.“
Und keiner hat auf die Frage, was denn für die Funktionäre 2004 wirklich wesentlich sei, eine eindringlichere Antwort. Die politische Legitimation der Gewerkschaften hänge von der Zahl ihrer Mitglieder ab, meint Sommer. <font color="#FF0000">Derzeit sind bei den acht Mitgliedsorganisationen des DGB noch rund 7,7 Millionen Menschen eingeschrieben, Tendenz stark fallend. Bei sieben Millionen, sagt Sommer, sei eine psychologisch wichtige Barriere erreicht</font>. „Also müssen wir eine Trendwende schaffen.“ <font color="#FF0000">Sonst wird es schlimm</font>.
(c) DIE ZEIT 17.12.2003 Nr.52
Quelle: http://www.zeit.de/2003/52/Gewerkschaften, Die Zeit Nr. 52, 17.12.2003

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