- Nachtrag zu: Die Mär vom"freien Lohnarbeiter"... (Nr. 242258) - bernor, 20.12.2003, 23:43
- Re: Nachtrag zu: Die Mär vom"freien Lohnarbeiter"... (Nr. 242258) - dottore, 21.12.2003, 12:19
- Re: Nachtrag zu: Die Mär vom"freien Lohnarbeiter"... (Nr. 242258) - bernor, 21.12.2003, 15:47
- Re: Nachtrag zu: Die Mär vom"freien Lohnarbeiter"... (Nr. 242258) - dottore, 21.12.2003, 12:19
Nachtrag zu: Die Mär vom"freien Lohnarbeiter"... (Nr. 242258)
-->Hi,
zu den Antworten auf mein obengenanntes Posting folgendes:
Auswirkungen von Klimaveränderungen auf Bevölkerungsentwicklung:
Es stimmt, daß eine bereits durch Mangelernährung (infolge Mißernten wegen der Klimaverschlechterung ab ca. 1300) geschwächte Bevölkerung besonders anfällig für Seuchen ist.
Es ist allerdings nicht so, daß sich damals irgendwelche lokalen,"normalen" Pestfälle wegen der verschlechterten Lebensumstände zum"Schwarzen Tod" (Beulen-/Lungen-Pest)"akkumuliert" hätten - tatsächlich tauchte dieser zuerst auf der Krim bzw. im Orient auf und breitete sich von dort über das Mittelmeergebiet in Verlauf von drei Jahren auf den größten Teil Europas aus - und machte auch bei satten Leuten keine grundsätzliche Ausnahme: auch eine insgesamt"wohlgenährte" Bevölkerung wäre beim damaligen Stand der Hygiene (siehe auch Ratten) und der Medizin (keine Gegenmittel/Impfungen) hart getroffen worden.
Privilegien für Neusiedler:
Der im 18. Jahrh. gebräuchliche Ausdruck"Repöplierung" bezeichnete keine allgemeine"Bevölkerungsauffrischung", sondern die Wiederbesiedlung von bestimmten Gebieten, deren Einwohner durch Kriege und Seuchen dezimiert worden waren, siehe z. B.
<ul> ~ </li>Ostpreußen: Wiederansiedlungen unter Friedrich I. und F. II. in geschlossenen Gebieten (siehe mittel-/oberdeutschen Dialekt"Hochpreußisch" bis 1945); ebenso Neuansiedlungen im entwässerten Oder-, Warthe- und Netzebruch.
~ </li>südliches Ungarn nach den Türkenkriegen ("Donau-/ Banater Schwaben").
~ </li>Ansiedlung von Deutschen im ebenfalls von türkischer Herrschaft"befreitem" südlichen Teil Rußland ab 1764.</ul>
"Privilegien" waren kein reines Lockmittel. sondern hauptsächlich Ausgleich für Härten der Anfangsphase, in der Regel einmalig (Zuschüsse) oder temporär (Steuer-/Abgaben-Freiheit/-erleichterung): Die Siedler konnten sich schließlich nicht ins fertige Nest setzen, sondern mußten sich ihre Existenz erst aufbauen.
Ein (seltenes) dauerhaftes Privileg war die Befreiung von der Leibeigenschaft, siehe Süd-Ungarn: als Gegenleistung für den Militärdienst entlang der neuen Grenze zum Osmanischen Reich.
Interessant ist, daß die meisten Neusiedler aus dem Südwesten Deutschlands stammten, wo offensichtlich kein Bevölkerungsmangel herrschte (Pfälzer, Schwaben, Alemannen, Elsässer - siehe auch die Besiedlung Südost-Pennsylvaniens schon ab 1710, von ca. 1800 bis 1840 waren fast alle Gouverneure Pennsylvaniens gebürtige Deutsche).
Von einem allgemeinen Rückgang der europäischen Bevölkerung kann im 18. Jahrh. also keine Rede sein.
Bevölkerungszunahme vor/während Industrialisierung:
Hier muß die Entwickung in Großbritannien (GB) getrennt von der auf dem Kontinent gesehen werden, weil in GB
<ul> ~ </li>keine Leibeigenschaft mehr existierte
~ </li>sowohl die Zunahme der Bevölkerung (1750: 7,8 Mio, 1820: 14,3 Mio) als auch die Industrialisierung (mit Verfall der Landwirtschaft, dadurch zusätzlicher Antrieb, um mit Erlös Nahrungsmittel importieren zu können) früher einsetzte (ab ca. 1800).</ul>
Im übrigen Europa (Aufhebung der Leibeigenschaft ab 1789) nahm die Bevölkerung später ebenfalls (überall)zu, z. B.:
<ul> ~ </li>Frankreich, 1820: 27 Mio - 1840: 34 Mio
~ </li>Italien, 1820: 18 Mio - 1840: 22 Mio
~ </li>Ã-sterreich-Ungarn, 1820: 29 Mio - 1840: 38 Mio
~ </li>Preußen/Deutschland, 1820: 24 Mio - 1840: 31 Mio.</ul>
Die Industrialisierung setzte erst ab etwa 1840 ein, siehe z. B. die Kohle-Produktionszahlen (in Tonnen) für das Gebiet des Deutschen Bundes (ohne Ost-/Westpreußen und Posen, mit Ã-sterreich und Böhmen-Mähren):
<ul> ~ </li>1840:4 Mio
~ </li>1855:8 Mio
~ </li>1870: 33(!) Mio.</ul>
Daraus folgt, daß die große Masse der Arbeitskräfte, vor allem Zuwanderer aus dem preußisch-polnischen Osten, erst nach 1855 ins Ruhrgebiet gekommen ist.
Also kein Wunder, daß schon in der Zeit davor die Auswanderungen erheblich anstiegen waren (und danach bis in die 1870er Jahre hinein sanken:
<ul> ~ </li>1851-1860: 1,08 Mio
~ </li>1861-1870: 0,83 Mio
~ </li>1871-1880: 0,53 Mio.</ul>
Nur bedingt durch die Depression nach 1873 stiegen die Zahlen vorübergehend wieder an:
<ul> ~ </li>1881-1890: 1,34 Mio
~ </li>1891-1900: 0,53 Mio
~ </li>1901-1910: 0,28 Mio.</ul>
Fazit: Die bloße Industrialisierung infolge Aufhebung der Leibeigenschaft muß etwas ganz Seltenes (bisher Verborgenes?) gewesen sein - aus dem oben Dargelegten ist sie jedenfalls nicht zu ersehen...
Gruß!

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