- Arnulf Baring:"Meine Prognose für das Jahr 2004 ist noch düsterer..." - Cichetteria, 28.12.2003, 20:16
Arnulf Baring:"Meine Prognose für das Jahr 2004 ist noch düsterer..."
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Hier ein Interview mit dem Berliner Historiker Arnulf Baring.
Er ruft erneut die Bürger auf, sich endlich in die Politik einzumischen.
Nur so könne der lähmende Stillstand überwunden werden.
gruß
Cichette
"Die energische Bürgerbewegung muss kommen"
WELT am SONNTAG: Herr Professor Baring, welches Resümee ziehen Sie am Ende dieses politisch brisanten Jahres?
Arnulf Baring: Das Resultat war kümmerlich, bedenkt man, dass wir seit dem 14. März eine pausenlose Reformdebatte hatten, bei der alle den Mund sehr voll genommen haben. Außerdem habe ich das Gefühl, dass wir schon am Ende dessen angelangt sind, was mit der SPD zu machen ist. Deshalb fällt meine Prognose für das nächste Jahr eher düster aus: Es geht weiter bergab, denn das politische Personal bleibt ja dasselbe. Die Folgen sind besonders für die jüngere Generation fatal. Wir konsumieren im Augenblick, was unsere Kinder und Enkel erst erwirtschaften müssen. Wir leben von der Substanz.
WamS: Hätte die Union dieselben Probleme wie die jetzige Bundesregierung, wenn sie an der Macht wäre?
Baring: Ich bin davon überzeugt, dass die Union und die FDP viel größere Probleme hätten, weil die gesammelte Linke ihnen mit großer Entschlossenheit in den Arm fallen würde. Ich bin froh, dass es eine SPD-geführte Regierung ist, die das Ganze in Gang bringt. Aber ich bin doch erstaunt, wie mühsam das ist. Schon Roman Herzog hat gesagt, wir hätten kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Wir haben beides.
WamS:</b Wie in einem System kommunizierender Röhren fällt derzeit die Bundesregierung in der Gunst der Wähler und steigt die Opposition gleichzeitig auf ungeahnte Höhen - obwohl doch beide großen Volksparteien für die Misere dieses Landes mitverantwortlich sind. Eine dritte Alternative, also eine neue Partei, erhält keine Chance. Warum ist der deutsche Wähler so konservativ, so leidensfähig, so fantasielos?
[b]Baring: Weil er es einfach so gewohnt ist. Denken Sie nur an den Euro - wurde der Bürger denn gefragt, ob er die D-Mark aufgeben möchte? Oder die ständig wachsenden Schulden - es gibt einfach keine Adressaten, wenn der Bürger etwas nicht will. Die Liberalen wären als Sprecher staatlicher Sparsamkeit noch am ehesten dazu in der Lage, sind aber derzeit völlig aus dem Spiel. Ich glaube jedoch, dass die fortschreitende Krise eine energische Bürgerbewegung erzwingen wird. Irgendwann wird den Leuten der Geduldsfaden reißen.
WamS: Ihrem viel beachteten Aufruf"Bürger auf die Barrikaden" sind die Menschen nicht gefolgt. Statt Steuern zu verweigern, geben sie sich nun damit zufrieden, etwas weniger bezahlen zu müssen. Statt mit umfassenden Strukturreformen klingt das Jahr 2003 also mit einem bescheidenen Reform-Kompromiss aus, von dem voraussichtlich kein Impuls ausgehen wird. Was macht die Deutschen so lethargisch?
Baring: Die meisten Bürger können die Steuern gar nicht verweigern, weil sie abhängig beschäftigt sind. Im Übrigen hatte ich das mehr symbolisch gemeint: Ohne eine große Aufwallung, die den Bürger zum aktiven Handeln bringt, wird sich nichts in diesem Land verändern.
WamS: Müssen die bürgerlichen Kräfte die Aggressivität und Radikalität der Linken, ihren politischen Einfallsreichtum und ihre wirkungsvolle Semantik übernehmen, um, ähnlich wie einst die 68er, die Verkrustungen der Gesellschaft aufzubrechen? Frei nach dem Motto der Band"Ton Steine Scherben":"Macht kaputt, was euch kaputt macht!"
Baring: Für eine Rebellion des Bürgertums sehe ich wenig Chancen. Das Bürgertum hatte in Deutschland immer eine schwache Position, neigte nie zur Revolution. Dennoch könnte etwas Neues, Überraschendes von Bürgerbewegungen wie dem Liberalen Netzwerk, der"Neuen Sozialen Marktwirtschaft", dem Bürgerkonvent oder dem Konvent für Deutschland ausgehen. Diese Bewegungen sind möglicherweise künftig in der Lage, viele Menschen zu erreichen, ein kritischeres Bewusstsein für unsere Lage zu schaffen und energisches Handeln in die Wege zu leiten. Bisher wirken sie zahnlos.
WamS: Muss die Bürgerbewegung nicht endlich aus ihren Konventen heraus auf die Straße, um bei der Politik Eindruck zu machen?
Baring: Es reicht schon, wenn eine dieser Bewegungen zu einer großen Briefaktion aufrufen würde, vergleichbar mit der Paketaktion"Das letzte Hemd" im vergangenen Frühjahr. Natürlich sollten sich dann viele Menschen an solchen Aktionen beteiligen, eine halbe Million, eine Million, zwei Millionen, um bei dieser schwerhörigen Regierung Reaktionen auszulösen. Was könnte der Inhalt sein? Beispielsweise ein Verbot weiterer Schuldenaufnahme bei einer in die Billionen gehenden Staatsverschuldung. Oder dass Sozialleistungen des Staates von Gegenleistungen der Empfänger, also öffentlichen Arbeiten, abhängig gemacht werden, soweit es sich nicht um Alte, Kranke und Mütter kleiner Kinder handelt. Es wird aber erst dann etwas geschehen, wenn die Lage noch viel schlimmer ist.
WamS: Ist das Warten auf den Zusammenbruch genug? Oder gibt es Chancen des individuellen Engagements, um die gesellschaftliche Dynamik zu beschleunigen?
Baring: Berlin ist ein denkbar schlechter Ort, um diese Möglichkeiten zu beurteilen, weil die Berliner Bevölkerung zu wenig repräsentativ für Deutschland ist: zu wenig Reiche, zu wenig Selbstständige, zu wenig Wirtschaft, zu viele Arme. Wenn Sie mich direkt fragen: Ich selbst bin kein Organisator, ich habe weder ein großes Büro noch das notwendige Geld. Nur wer über dergleichen verfügt und auch einen Sinn für radikale Fragestellungen hat, wird etwas auf die Beine stellen.
WamS: Verdienen wir keine klugen und mutigen Politiker - weil wir selbst nicht klug und mutig sind?
Baring: Die Spitzengruppe im Bundestag sieht natürlich anders aus als der große Tross, der dort sitzt. Es gibt tatsächlich viel Mittelmäßigkeit in der deutschen Politik, was ja auch damit zusammenhängt, dass wir 16 Landesparlamente zu füllen haben. Wie die Erneuerung Deutschlands wird auch die Erneuerung der Parteien nur unter großen Schockeinwirkungen erfolgen. Nur wenn die Parteien sehen, dass bekannte Persönlichkeiten aus den Bürgerbewegungen zu kandidieren anfangen, werden sie aufwachen. Irgendwann muss eine Bürgerbewegung auch die Machtfrage stellen.
WamS: Woran krankt das politische System unseres Landes vor allem?
Baring: Ich glaube, dass in erster Linie das Parteiensystem, aber auch die Verfassung dringend reformbedürftig ist. Das Parteiensystem ist wie eine Kaste abgeschottet. Es ist das Problem aller Parteien, dass sie sich nie mit der Frage beschäftigt haben: Wie bekomme ich eine fähige, mutige, menschlich überzeugende politische Führung, wie bilden wir Leute heran, die unsere Ideen kreativ vertreten, mit Urteilsfähigkeit, Risikobereitschaft und Verantwortungsgefühl? Wir haben seit Jahrzehnten die Zustimmung der Demokratie durch Sozialleistungen erkauft, die längst nicht mehr finanzierbar sind. Deshalb auch die larmoyante Passivität im Land.
WamS: Was sollte am Grundgesetz geändert werden? Und was erwarten Sie dabei von der Bund-Länder-Kommission, die die Verfassung reformieren soll?
Baring: Nicht viel, denn die Zusammensetzung schließt substanzielle Ergebnisse von vornherein aus. Die Ideologie der Konsensgesellschaft, dass alle gemeinsam zusammenwirken müssen und letztlich keiner verantwortlich ist, macht es natürlich verlockend, weiter zu verfahren wie bisher. Aber nur mit klarer Verantwortung und mit der Bereitschaft, für Risiken einzustehen und ihnen möglicherweise sogar zum Opfer zu fallen, werden wir erfolgreich die Erstarrungen in Deutschland aufbrechen. Entweder wird man darauf hinwirken, dass wir einen wirklichen Föderalismus bekommen, mit eigenen Verantwortlichkeiten und eigenen Finanzquellen, oder man muss ihn abschaffen. Wir haben längst keinen Wettbewerbsföderalismus mehr, sondern einen fatalen Zwang zur Schaffung gleichartiger Lebensverhältnisse auf Kosten der Stärkeren und Tüchtigeren. So großartig die Schaffung der alten Bundesrepublik zu ihrer Zeit auch war, heute bedarf das gesamte Verfassungssystem einer grundlegenden Revision.
WamS: Was geschieht, wenn der Aufschwung tatsächlich 2004 kommt?
Baring: Wenn die ersten Konjunkturdaten nach oben zeigen und vielleicht auch einmal wieder eine Landtagswahl für die SPD gewonnen ist, wird sich die Regierung wieder in den Sessel zurücklehnen und - angesichts des mächtigen Widerstands in den Gewerkschaften - den Reformen endgültig Adieu sagen.
WamS: Die Wahl des Bundespräsidenten ist immer auch ein Indikator für die Machtverhältnisse im Land. Wer wird es Ihrer Meinung nach im Frühjahr 2004 werden?
<bBaring:[/b] Es müsste jemand sein, der Optimismus ausstrahlt, zugleich schonungslos Klartext redet und durch beides der Regierung den Boden bereitet, die das eigentliche Reformwerk zu Ende bringen muss. Ich könnte mir einen Mann wie Hans-Olaf Henkel sehr gut in diesem Amt vorstellen, gebildet, rednerisch begabt, mit überraschenden Ideen und selbstbewusstem Auftreten.
Das Gespräch führten Ulf Poschardt und Heimo Schwilk
<ul> ~ die Quelle</ul>

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