- Wer war Helmut Kohl? - Ein Nachruf? - rocca, 04.01.2004, 20:17
- Re: Wer war Helmut Kohl? - Eine Anklage - Baldur der Ketzer, 05.01.2004, 01:13
- Re: Eine ehemalige Kulturnation im geistigen Sturzflug - Tempranillo, 05.01.2004, 02:35
- Re: Volkes Stimme auf dem Nachtkastl - Tassie Devil, 05.01.2004, 09:26
- Re: Henry Kissinger über Dr. Helmut Kohl - Tempranillo, 05.01.2004, 14:28
- Re: Hennoch - Tassie Devil, 06.01.2004, 06:10
- Re: Henry Kissinger über Dr. Helmut Kohl - Tempranillo, 05.01.2004, 14:28
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- Re: Wer war Helmut Kohl? - Eine Anklage - Baldur der Ketzer, 05.01.2004, 01:13
Wer war Helmut Kohl? - Ein Nachruf?
-->04. Januar 2004 Oggersheim, der Bungalow. Der dunkle Briefkasten mit dem schlichten Namensschild. Eine dunkle, spannungsverheißende Streichermusik erklingt, wie wir sie aus den Dieter-Wedel-Mehrteilern kennen. Der massive graue Bau schimmert unheilvoll, jedes Detail des einst als banal verachteten Einfamilienhauses wirkt plötzlich bedeutend, wie ein Indiz."In der Politik ist es wie im privaten Leben", hat Kohl uns oft genug erklärt, es ist sein politisches Leitmotiv. Kann man also im privaten Umfeld des Alt-Bundeskanzlers etwas entdecken, wenn man die Kamera nur lange genug kreisen läßt und ganz genau hinsieht?
Das Kohl-Porträt von Stephan Lamby und Michael Rutz, das die ARD am 5. und am 12. Januar zeigt, weiht den Zuschauer gleich ein in seine Erkenntnisinteressen und deren Bedingungen: Es wird der Aufbau der Filmausrüstung im Kohlschen Wohnzimmer gezeigt und auch, wie die Filmemacher mit Kohl am Eßtisch sitzen: dicke Stücke Fleischwurst glänzen in einer Schale. Im Kommentar werden Cliffhanger gesprochen, wie am Schluß einer Krimifolge:"Helmut Kohl hatte zugesagt, über alle Fragen zu reden. Wird er auch über die Spendenaffäre Neues zu sagen haben?" Der Zuschauer wird zum Zeugen in einem Ermittlungsverfahren, und Kohl bleibt seiner neuen Rolle, der des großen Schweigers, des Weisen und vor allem - in allem Assoziationsreichtum des Begriffs - des Ehrenmannes treu.
Mehr als Bismarck bewirkt
Ihn bewegt ein ganz anderes Thema: menschliche Beziehungen und die abgründigste unter ihnen, der Verrat. Kohl ist verraten worden, von denen, denen er geholfen hat, die ihm alles verdanken, in der CDU, aber, so will man in Gedanken ergänzen, auch von uns Deutschen. Alles hat er uns gegeben -"Mehr als Bismarck" habe Kohl für Deutschland bewirkt, sagt Theo Waigel im Film, und nicht einmal ein Museum wurde ihm gewidmet, wie es in Texas selbst George Bush senior spendiert wurde - für gerade mal vier Jahre Amtszeit.
Über den Verrat will Kohl also reden, und darum kann man diesen Zweiteiler auch nicht mehr verlassen, nachdem sich die Tür in Oggersheim erst einmal geöffnet hat. Das ist doch seltsam, nach sechzehn Jahren täglich Kohl all diese offenen Fragen, dieses Interesse an ihm. Und noch seltsamer: Kohls Interesse, an einem solchen Porträt mitzuwirken.
Rollentausch
Die Kamera fährt langsam um ihn herum, sein Kopf allein füllt das Bild. Obwohl jeder erwachsene Deutsche Kohl nie wieder zu sehen brauchte, um sein Bild vor Augen zu haben, schaut man wie gebannt hin. Seit der Spendenaffäre, dem Ende der Kirch-Firma und dem Selbstmord seiner Frau hat Helmut Kohl abermals das Rollenfach gewechselt, und es steht zu vermuten, daß dies keineswegs seine letzte Rolle ist. In den Fernseharchiven gibt es Kohl in allen möglichen Rollen: In den Sechzigern sah er aus wie ein Intellektueller, mit schwarzem Rollkragenpullover und Pfeife rauchend, gab Gert von Paczensky und Günter Gaus blitzschnell kluge und witzige Repliken. Aber wer sich wie Kohl so perfekt mit den Stimmungen der Deutschen auskannte, daß er über Jahre hinweg die Ergebnisse der Allensbach-Umfragen perfekt zu erraten verstand, wußte, daß man so höchstens Björn Engholm wird. Es folgten die Jahre in den blauen Anzügen, seine klassische, aggressive Phase."Ich habe auch Angst vor ihm gekannt", sagt Rita Süssmuth zu Beginn des ersten Teils, und man denkt an diese Bilder, wo sein Lächeln etwas leicht Überhebliches hat. Dann kommt die Phase des Kohls ohne Brille, wie in dem berühmten Konrad-R.-Müller-Foto, Vorlage für das CDU-Plakat"Politik ohne Bart", das damals gegen Scharping ging. Es folgt die späte lustige Phase, der Strickjacken-Kanzler, der sogar zu Biolek geht. Doch die Fröhlichkeit, die buddhistische Abgeklärtheit jener Jahre ist einer neuen Tragik gewichen, die einhergeht mit einem anhaltenden Staunen des Publikums über Kohls Fall und den Fall Kohl.
"Wie ein monströses Gespenst oder auch ein gleichsam erleuchteter Oggersheimer Zeppelin schwebt der pfälzische Riese immer noch am deutschen Albtraumhorizont", beschrieb der Regisseur Dominik Graf zu Beginn des vergangenen Jahres das seltsame Verhältnis der Deutschen zu Helmut Kohl.
Verknotete Syntax
Jetzt sitzt Kohl im Wohnzimmer seines Bungalows und redet. Es gibt denkwürdige Momente:"Ich war der langjährige Bundeskanzler Helmut Kohl", regt er sich an einer Stelle auf."Meinen Rat haben viele in der Welt gesucht." Die beiden respektvollen, professionellen Autoren haben Kohl gerade nach seinem Beratervertrag bei Leo Kirch gefragt. Wenn Kohl wütend wird, entgleitet ihm der Satzbau, immer noch, was heute sympathisch wirkt, seit man das gleichgültige Schmunzeln George Bushs in ähnlichen Situationen kennengelernt hat.
Seine verknotete Syntax, die immer ein wenig seltsam klingt, auch wenn sie völlig korrekt ist, ist unsere Madeleine im Lindenblütentee und führt zurück in die Nachrichtensendungen des vorigen Jahrhunderts, in die Zeit der drei Wenden, der der FDP zur CDU, der angekündigten und unendlich verspotteten geistig-moralischen und schließlich zur Zeitenwende der Wiedervereinigung. Bei so vielen Wenden war Kohl der Mann der Stunde, trotzdem würde ihn jeder eher als Beharrer sehen, als Aussitzer. Auffallend ist, wie wenig dieses große, außergewöhnliche Leben, das in der Ã-ffentlichkeit immer den Eindruck erwecken wollte, klein und normal zu sein, bislang Autoren zu inspirieren vermochte. Während Clinton schon mit seinem ersten Wahlkampf Stoff für einen Bestseller ("Primary Colors") lieferte, Blair noch im Amt kritische, vieldiskutierte BBC-Produktionen ("The Project") inspirierte und sogar in Dänemark dogmaartige Dokus über die EU-Ratspräsidentschaft bestellt werden, harren die sechzehn Jahre Kohl noch immer einer angemessenen filmischen oder literarischen Verarbeitung. Auch das ein Symptom des Verrats, schlimmer noch, der Gleichgültigkeit?
Innerparteilicher Verrat
Immerhin nähert sich dieser Zweiteiler einer solchen Verarbeitung an, er präsentiert gleichsam das Material zu einem angekündigten Thriller, in dessen Zentrum der Verrat steht. Einmal der Verrat derer, die sich ihr Engagement für die Friedensbewegung der frühen 1980er Jahre durch die Stasi finanzieren ließen, an die Kohl voller Zorn erinnert, wenn er von den Massendemonstrationen jener Jahre spricht, vor allem aber, und viel virulenter, der innerparteiliche Verrat durch die, deren Aufstieg er doch seit Mainzer Zeiten gefördert hat, Heiner Geißler, Norbert Blüm, Rita Süssmuth und Richard von Weizsäcker. Bis auf Geißler, der zu dem Thema nichts mehr sagen wollte, kommen hier alle wieder zu Wort, aber der Graben könnte tiefer nicht sein.
Zwischen den historischen Aufnahmen und den Interviewpassagen ist immer wieder eine im Entstehen begriffene Kohl-Büste zu sehen, ein Werk des Mainzer Künstlers Karl Heinz Oswald. Sie ist ganz uneben, wie aufgewühlt und zerfurcht. Je mehr man sich in den Fall Kohl hineinwagt mit der Absicht, eine Klärung zu finden desto unruhiger wird es. Manche Statements ehemaliger Weggefährten konnte Kohl während der Interviews am Monitor ansehen, darauf reagieren, auf Richard von Weizsäcker zum Beispiel. Der erklärt, Parteien hätten Interessen, die sie mit der Entsendung bestimmter Personen in hohe Staatsämter wahrnehmen, Dankbarkeit sei da ganz fehl am Platze. Kohl reagiert verständnislos: Warum soll man nicht Freundschaft, Dankbarkeit"erweisen", einem, der es möglich gemacht hat, daß man Bundespräsident wurde. Das sei eben der Unterschied zwischen ihm und Weizsäcker, sagt Kohl, und daß er darauf auch großen Wert lege.
Wolfgang Schäuble immerhin sendet im Film ein beschwichtigendes Signal. Nicht ohne Kalkül: Er will Bundespräsident werden und weiß, daß der Alte von Oggersheim noch viel telefoniert. Schäuble weiß: Wir sind nicht fertig mit Kohl, er ist nicht fertig mit uns.
Helmut Kohl. Ein deutscher Kanzler. ARD, 5. und 12. Januar, jeweils um 21.45 Uhr
Text: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 04.01.2004, Nr. 1 / Seite 21
Bildmaterial: Wolfgang Haut

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