- Demographie und Demagogie (Wider heuchlerische Dummbeutel in Politik u. Medien!) - RK, 09.02.2004, 18:03
- Die wahren Dummbeutel sind wir... - bernor, 09.02.2004, 19:21
Demographie und Demagogie (Wider heuchlerische Dummbeutel in Politik u. Medien!)
-->http://www.jungewelt.de/2004/02-09/010.php
09.02.2004
Inland
Albrecht Kieser
Demographie und Demagogie
Über die »unumstößlichen« Grundlagen der Schröderschen »Agenda 2010«
Die Demographie ist durchaus eine umstrittene Wissenschaft. Am 6. Juni 2003 warf der Präsident des Statistischen Bundesamtes, Johann Hahlen, die demagogischen bzw. demographischen Fakten auf den Tisch und verkündete damit die beinharte Tatsachengrundlage der Agenda 2010: »Die Alterung wird also nicht erst in 50 Jahren zu Problemen führen, sondern bereits in den nächsten beiden Jahrzehnten eine große Herausforderung für Wirtschaft, Gesellschaft sowie vor allem für die sozialen Sicherungssysteme darstellen. Diese Entwicklung ist vorgegeben und unausweichlich.« 2050 müßten hundert Menschen zwischen 20 und 60 Jahren 78 Rentner durchfüttern, fast doppelt so viel wie heute. Das sei schlicht nicht möglich.
Mit dieser demographischen Prognose wird seitdem die Politik des forcierten Sozialabbaus begründet und als alternativlos hingestellt. Und vom Spiegel (Titelgeschichte 2/2004, »Der letzte Deutsche«) bis zum letzten Rundfunkmoderator wiedergekäut. Natürlich auch von der Politik: Gesundheitsministerin Ulla Schmidt: »Daß wir alle glücklicherweise immer älter werden und die Lebenserwartung steigt, auf der anderen Seite aber zu wenig Kinder geboren werden, ist die größte Herausforderung des 21. Jahrhunderts.« Gerhard Schröder: »Wir müssen anerkennen und aussprechen, daß die Altersentwicklung unserer Gesellschaft, wenn wir jetzt nichts ändern, schon zu unseren Lebzeiten dazu führen würde, daß unsere vorbildlichen Systeme der Gesundheitsversorgung und Alterssicherung nicht mehr bezahlbar wären.«
Aber die demographische Prognose von der unbezahlbaren Überalterung ist offensichtlich Humbug, wie jetzt ein Statistikprofessor aufgedeckt hat, der selbst jahrelang im Statistischen Bundesamt tätig gewesen ist. Gerd Bosbach lehrt heute an der Fachhochschule Koblenz Statistik, Mathematik und Empirik, und was er Hahlen vorhält, unterstreicht einmal mehr, daß sich das derzeitige Sozialabbauprogramm auf gewagte Kaffeesatzleserei und bewußte Halbwahrheiten stützt.
Drei Haupteinwände hält Gerd Bosbach den »vorgegebenen und unausweichlichen« Prognosen des dem Bundesinnenminister Otto Schily unterstellten Politbeamten Johann Hahlen entgegen: Erstens sei eine Bevölkerungsprognose bis zum Jahre 2050 als Grundlage politischer Entscheidungen heute schlicht untauglich. Hätte man z. B. 1953 eine Prognose für 2000 als zielsicher und handlungsleitend ausgegeben, hätte man millionenfach daneben gelegen: Wegen Anwerbeverträgen für »Gastarbeiter«, Pillenknick und 1989er Zusammenbrüchen, von mehreren Kriegen und entsprechenden Fluchtbewegungen ganz zu schweigen.
#Nicht von ungefähr betrug die »Gültigkeitsdauer« der letzten neun Bevölkerungsprognosen des Statistischen Bundesamtes im Schnitt vier Jahre. Einige Vorgängerprognosen mußten sogar gänzlich über den Haufen geworfen werden.
Die Prognose von Johann Hahlen unterschlägt - das ist das zweite Argument von Gerd Bosbach - wesentliche demographische und ökonomische Größen. So kommt bei Johann Hahlen nicht vor, daß auch unproduktive Kinder und Jugendliche ernährt werden müssen. Rechnet man aber diese Bevölkerungsgruppe in die Prognose ein, dann müssen heute hundert Menschen zwischen 20 und 60 Jahren 82 Junge und Alte ernähren. Im Jahre 2050 würden es 112 Junge und Alte sein. Nicht 80 Prozent mehr als heute sondern 40 Prozent mehr. Und nur zwölf Prozent mehr als 1970, als 100 Erwerbsfähige 100 Junge und Alte ernährten. Solche undramatischen Zahlen enthält auch die offizielle Bevölkerungsvorausberechnung. Aber der Präsident des Amtes, die hohe Politik und die Medien wollen sie offensichtlich nicht zur Kenntnis nehmen.
Eine andere Zahl wird von den Bundesdemographen allerdings komplett ausgeblendet: die absehbare, steigende Arbeitsproduktivität. Würde sie in die Bevölkerungsprognose einbezogen, kämen wir 2050 in völlig ruhiges Fahrwasser. Sowohl die Rürup- als auch die Herzogkommission z.B. gehen davon aus, daß die Arbeitsproduktivität bis 2050 zwischen 84 und 140 Prozent steigen wird. Würde eine Verdoppelung der Arbeitsproduktivität in die Bevölkerungsprognose einbezogen, dann könnten von der steigenden Wertschöpfung nicht nur mehr Alte und Junge finanziert werden; es bliebe für die produktiv Beschäftigten auch noch ein Plus übrig.

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