- Psychologische Opferbetreuung, 60 Jahre danach - XERXES, 20.02.2004, 08:41
Psychologische Opferbetreuung, 60 Jahre danach
-->Wo keiner viel erklären muß
Frankfurt am Main: Das „Treffpunkt“-Café für Überlebende des Holocaust
bietet psychologische Betreuung, Hilfe, Informationen und geselliges Beisammensein
Es ist Mittwochnachmittag, draußen in Frankfurts Straßen ist es ungemütlich, naß und kalt. Ein eisiger Wind weht um die Ecken der Gründerzeitvillen im noblen Westend. Wärme und Behaglichkeit hingegen herrscht im „Treffpunkt“-Café. Der Geruch von frisch gebrühtem Kaffee zieht durch die große Altbauetage, Absätze klackern über’s honigbraune Parkett. Der Saal füllt sich mit ausnahmslos älteren Menschen, das Gros Frauen.
„Treffpunkt“-Mitarbeiterinnen richten in der Küche Tabletts mit Kuchenstücken her, füllen Thermoskannen mit magenschonendem Kaffee. Auf den Tischen im Saal liegen feine Damasttischdecken. „Treffpunkt“-Leiterin Noemi Staszewski begrüßt die Neuankömmlinge, begrüßt auch jenen Herrn, der später, nach der Kaffeestunde über das Thema Erbschaft sprechen wird.
Man kennt sich, „die meisten sind Stammgäste, kommen immer wieder“. Das gilt auch für jene Dame, die ihr Stück Sahnetorte genießt und einer Bekannten ein fröhliches „Hallo“ zuruft. Ihren Namen möchte sie nicht genannt wissen. Sie steht mit ihrer Vorsicht nicht alleine da, ein alter jüdischer „Treffpunkt“-Besucher, der mit seiner nichtjüdischen Frau gekommen ist, wagt zwar den Nachnamen preiszugeben, den Vornamen aber will er lieber für sich behalten. Die Scheu ist groß. Und verständlich. Kaum einer von jenen Menschen, die es allwöchentlich zum „Treffpunkt“-Café zieht, hat nicht Familienange- hörige zu betrauern, die unter dem nationalsozialistischen Terrorregime in Konzen- trationslagern umgebracht worden sind.
In seinem Fall, im Fall des Herrn, in dessen Personalausweis unter Nachname „Alexander“ eingetragen ist, waren es die Onkel und Tanten, auch drei Cousinen und zwei Cousins wurden ermordet. Er selbst emigrierte 1934 mit seinen Eltern und seiner Schwester nach Italien, die Familie betrieb in Mailand eine Färberei. „Wir wurden bis ‘39 in Ruhe gelassen“, sagt er. Dann brachte man seinen Vater in ein italienisches KZ. Zweieinhalb Jahre blieb er eingesperrt, dann mußte er nach Treviso, auch die Mutter, sie durften den Ort nicht verlassen. Die Familie überlebte schließlich versteckt auf einem Dachboden. 1945 kam sie zurück nach Deutschland, die Eltern machten 1956 in Frankfurt am Main eine Pelzreinigung auf, „die erste in der Stadt“. In Italien lernte Herr Alexander seine italienische Frau Luiga kennen. Zweiundfünfzig Jahre sind beide miteinander verheiratet.
Auch Alpar Djordje ist im „Treffpunkt“-Café meist in Begleitung seiner Frau. Er selbst hat sich als Partisan einst geschworen, „alles zu versuchen, um nicht in deutsche Hände zu geraten“. Es ist ihm gelungen. Seine Großmutter aber wurde in Auschwitz ermordet, seine Frau mußte den Verlust von Eltern und Großeltern verkraften. Auf die Frage, was das regelmäßige Treffen, den Menschen bedeute, lautet Djordjes Antwort: „Wir sind eine Leidensgemeinschaft und wir sind die Auserwählten, die geblieben sind.“
Um das ganz persönliche Trauma aber geht es häufig gerade nicht in den Gesprächen bei Kaffee und Kuchen. Djordjes Erklärung: „Menschen, die sehr gelitten haben, wollen nicht darüber sprechen.“ Das Café ist, so scheint es, dafür nicht der richtige Ort. Aber „es aktiviert uns“, erklärt Julije Kemény, ein zweiundsiebzigjähriger Jude, der als einziger von drei Juden in Belgrad überlebt hat.
Der Rahmen, um über all das erlittene Leid zu sprechen, ist ein anderer, gesteckt wird er ebenfalls von Noemi Staszewski. Im finanziell vor allem von der Stiftung Erinnerung, Verantwortung, Zukunft getragenen „Treffpunkt“ - Zentrum für Schoa-Überlebende und deren Angehörige, dessen Träger die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ist, bietet die Diplompädagogin und Psychotherapeutin, unterstützt von einer Sozialarbeiterin und drei Psychotherapeuten regelmäßig Sprechstunden an. Den Anstoß zum Projekt, das im September 2003 nach einjähriger Vorlaufphase startete, gaben Sozialarbeiter, Ärzte und Therapeuten aus dem Bereich Altenpflege. „Sie haben herausgefunden, daß sie immer nur ausschnitthaft helfen können, das Problem der Überlebenden aber ein viel komplexeres ist“, sagt „Treffpunkt“-Leiterin Staszewski. Maßgeblicher Initiator war Karl Brozik, Direktor der Claims Conference, die auch die Anschubfinanzierung ermöglichte.
Auch wenn sich die Männer vielleicht eher zu Worte melden, sind es vor allem Frauen, die das Angebot wahrnehmen. „Lange kamen nur ein bis zwei Männer zu uns“, sagt Noemi Staszewski „mittlerweile liegt der Männeranteil immerhin bei zehnbis fünfzehn Prozent“. Über den „Treffpunkt“ habe so mancher Besucher, der zuvor völlig allein lebte, wieder Kontakt zu anderen aufbauen können.
Das Angebot sei vor allem deshalb von so großer Bedeutung, weil herkömmliche Betreuungsangebote an den Bedürfnissen derer, die zum „Treffpunkt“ kommen, vorbeigingen. „Die soziale und medizinische Versorgung hier in Deutschland ist relativ gut“, sagt Noemi Staszewski. Allerdings paßten, so ihre Erfahrung, viele ältere Juden nicht hinein in das Bild der Gebrechlichen oder sozial Schwachen. Trotzdem seien sie teils „extrem gefährdet“, litten unter posttraumatischen Syndromen.
Sie leben unter uns, gleich ob in Frankfurt, Hamburg oder Berlin, und eines wird ihnen immer wieder schmerzhaft bewußt: Die Schoa, sie hat kein Ende. Nicht für sie. Da ist zum Beispiel Lea R.. Betritt die alte Dame den Aufzug ihres Wohnhauses und die schwere Metalltür schlägt hinter ihr zu, gerät sie in Panik. Dann sind sie wieder da, die Bilder im Kopf, die Erinnerung an das Eingesperrtsein im KZ. Wird Rebecca S. von ihrer nichtsahnenden jungen Krankenpflegerin mit dem Rollstuhl unter die Dusche geschoben, tritt Rebecca S. um sich, schreit „Schlampe“ und „Nazihure“. Alles ist wieder da, die Erinnerung an die Schreie aus der Gaskammer, die Duschköpfe, aus denen das tödliche Zyklon B strömte. Ihr Gegenüber ist angesichts der plötzlichen Attacke entsetzt und hilflos zugleich.
„Unser Ansatz ist, diese Menschen zu erreichen, bevor sie psychisch hochgradig erkranken!“, faßt die „Treffpunkt“-Leiterin den Anspruch der Einrichtung zusammen.
Wer mag, kann bei Kaffee und Kuchen über erfahrenen Verlust reden, wer nicht, kann es einfach bleiben lassen, und statt dessen mit dem Nachbarn unverfänglich plaudern und im Anschluß, wie üblich, den informativen Ausführungen ganz unterschiedlicher Gast-Experten zuhören. So waren bereits Ärzte zu Besuch und informierten über medizinische Fragen. „Jüdische Malerei im zwanzigsten Jahrhundert“ war genauso ein Thema, wie Vorsichtsmaßnahmen, die man im Alter ergreifen sollte, um nicht Opfer von Trickdieben zu werden.
Das „Treffpunkt“-Mitarbeiterteam bietet über Café und Sprechstunde hinaus aber auch weitere Hilfe an. Es stellt Kontakt zu sozialen Einrichtungen her und zu Ämtern. Gerade Letzteres sei für viele alte Juden von großer Bedeutung. „Die Abscheu vor Behördenkontakten ist weit verbreitet“, sagt Noemi Staszewski. „Sie wollen nicht mehr registriert werden, nach allem, was sie erlebt haben.“ Die Angst, sie sitze so tief, daß sich einige Stammbesucher des „Treffpunkts“ namentlich nicht einmal in Akten des Büros haben wiederfinden wollen. Bis heute nicht.
Auf etwa eintausendzweihundert Menschen schätzt Noemi Staszewski die Zahl der noch lebenden Schoaüberlebenden im Rhein-Main-Gebiet. Nur jeder sechste habe bisher zum „Treffpunkt“ Kontakt aufgenommen. Doch müsse man auch berücksichtigen, daß zu Chanukka erstmals in der Frankfurter Gemeindezeitung für das Projekt geworben worden sei.
Der Frankfurter „Treffpunkt“ ist als Pilotprojekt angelegt und soll sich möglichst auch in anderen Städten etablieren. Zu erreichen ist er unter der Rufnummer 069/70 768 740 oder treffpunkt-ffm@t-online.de.

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