- Der größte Betrugsprozess der US-Geschichte - Karl, 23.02.2004, 10:05
Der größte Betrugsprozess der US-Geschichte
-->SPIEGEL ONLINE - 23. Februar 2004, 8:12
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Wall Street
Der größte Betrugsprozess der US-Geschichte
Von Marc Pitzke, New York
John Rigas, einstiger Chef des Kabelkonzerns Adelphia, muss sich ab heute vor Gericht verantworten, weil er seine Aktionäre um rund 60 Milliarden Dollar gebracht haben soll. Auf der Anklagebank fehlen allerdings die Banker und Bilanzprüfer, die munter mit abkassierten.
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Rigas bei seiner Festnahme:"Ein perfekter Familienunternehmer"
New York - Rigas war der gute Onkel von Coudersport. In dem kleinen Ort im Norden Pennsylvanias arbeitete er anfangs in einer Klitsche über dem Werkzeugladen. Trotz seines späteren Reichtums blieb er Stammgast in"Kaye's Hometown Restaurant" an der Main Street. Jedes Jahr zu Weihnachten beschenkte er über 1000 bedürftige Kinder. Wer Geld brauchte, fragte Rigas. Wer Rat suchte, fragte Rigas."John war unser Robin Hood", erinnert sich Alex Fish, der seit seiner Geburt in Coudersport lebt.
Ab heute aber steht Rigas, ein weißhaariger Greis von 79 Jahren, als Angeklagter vor einem New Yorker Bezirksgericht. Gemeinsam mit seinen Söhnen Michael, 50, und Tim, 47, soll er als Gründer und Chef des Kabelkonzerns Adelphia den bisher größten Betrug in der langen, illustren Skandalgeschichte der Wall Street inszeniert haben. Schaden für die Aktionäre: über 60 Milliarden Dollar. Schlimmer als Enron.
Marmornes Firmen-Mausoleum
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Steinway Musical Instruments (0,43)
Steven Madden (0,18)
Freitag:
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Die stillen Komplizen sitzen freilich nicht mit auf der Anklagebank - die Banker, Notare und Bilanzprüfer, die ein Auge zudrückten und selbst mit absahnten. Wie es dazu kommen konnte, ist nicht nur ein Wirtschaftskrimi. Sondern auch ein Lehrstück über die Kehrseiten der Wall Street, den Rausch des schnellen Geldes und die fatalen Verlockungen des Bullenmarkts für den kleinen Mann.
Als solch ein kleiner Mann kam John Rigas 1951 nach Coudersport, in jenen Zipfel der Appallachen, den sie"Land Gottes" nennen. Der Sohn griechischer Immigranten kaufte das einzige Kino im Ort, für 72.000 Dollar, die ihm Freunde geliehen hatten. Es war eine One-Man-Show: Der 26-Jährige saß am Schalter, er brutzelte Popcorn und bediente den Projektor selbst. Im Jahr darauf kaufte er sich - wieder auf Pump - die örtliche Kabellizenz. Der Preis: 300 Dollar. Das Kabelfernsehen steckte damals noch in den Kinderschuhen.
Rigas taufte seine Firma"Adelphia", griechisch für"Brüder". Er begann mit zwei Kanälen, verkabelte bald eigenhändig den ganzen Ort, dann den Nachbarort. Er heiratete, drei Söhne folgten. Das Kabel-Geschäft blühte. Rigas erwarb immer mehr Lizenzen, mit immer mehr geborgtem Geld. Er kaufte die High School, baute sie zu seinem Konzernsitz um. Gattin Doris, eine Dekorateurin, kleidete die Fassade in Marmor, und bis heute sprechen sie in Coudersport von Rigas'"Mausoleum".
Hinterwäldler mit 5,7 Millionen Kunden
Doch das Kabel-Business muss sich ständig erneuern, erfordert ständig neues Kapital."Für Kleinstädter ist das schwer verständlich", erklärte Charles Updegraff, der Präsident der Kommunalbank Citizens Trust und ein Freund Rigas', der"New York Times"."Normalerweise borgst du Geld und zahlst es zurück. Beim Kabel wachsen die Schulden einfach nur."
Immer neues Kapital also: Tim, Michael und der dritte Sohn James (der nicht angeklagt ist) waren nach der Uni in das Familiengeschäft eingestiegen und überredeten den Vater 1986 zum Börsengang. Doch die Grenze zwischen Privatem und Geschäft blieb für den Clan verschwommen. Kredite, Zahlungen, Immobilien, Personal wanderten von einer Seite zur anderen. Ungeprüft, ungehindert und unbeanstandet, denn das Board von Adelphia bestand zur Mehrheit aus Familienmitgliedern.
Adelphia wuchs und wuchs - alles auf Kredit. Kabel-TV, Internet und Telefon verschmolzen zu einer gigantischen Zukunftsvision; Ende der neunziger Jahre ließ der Tech-Boom an der Wall Street den Adelphia-Kurs explodieren. Drei Großakquisitionen katapultierten den Konzern 1999 auf Platz sechs im US-Kabelmarkt. John Rigas' einstige Klitsche bediente plötzlich 5,7 Millionen Kunden in 30 US-Bundesstaaten. Zugleich stieg die Verschuldung des Hauses rasant - von 3,7 auf 9,7 Milliarden Dollar.
Private Exzesse
Es sind diese Schulden, um die es jetzt geht in dem New Yorker Verfahren, das die Rigas' für den Rest ihres Lebens hinter Gittern bringen könnte. Mindestens 3,1 Milliarden Dollar dieser Kreditgelder, für die Adelphia bürgte, soll der Clan für eigene Privatzwecke verbraten haben. Ermöglicht wurde dies durch ein kompliziertes Netz aus Darlehen zwischen dem Unternehmen, der Familie und den Banken, mit dessen Entwirrung eine Hundertschaft von Finanzermittlern seit zwei Jahren kämpft. Die Rigas, so die Anklage,"haben Adelphia als persönliches Sparschwein missbraucht".
Die Zahlen sind unstrittig. 150 Millionen Adelphia-Dollar für den Kauf eines Hockey-Teams. 13 Millionen für einen Golfkurs. 3,7 Millionen für den Kostümfilm"Songcatcher" der Rigas-Tochter Ellen. Penthäuser in Colorado und Cancun. Ein"Gulfstream"-Firmenjet, mit dem Doris zum Shopping durchs Land flog. Nicht zu vergessen 1,3 Milliarden Dollar, die Adelphia illegal der Familie allein zu dem Zweck"lieh", um neue Adelphia-Aktien zu kaufen. Rigas, so Radiokommentator Warren Olney, sei ein"lebendes Symbol des Kapitalismus von seiner schlimmsten Seite".
Doch der Fall ist nicht ganz so schwarz-weiß gestrickt wie die anderen Milliardärs-Exzesse, die dieser Tage vor US-Gerichten ausgewalzt werden. Mit dem"Gulfstream" ließ Rigas zum Beispiel auch kranke Kinder umsonst in Spezialkliniken nach New York fliegen. Er half vielen armen Familien in Coudersport - jenem Ort, der, wie das Wirtschaftsmagazin"Forbes" feststellt, einst die Depression verpasste, weil er sowieso nie Wohlstand kannte. Er gewährte zahllose Privatdarlehen, ohne je Rückzahlung zu fordern. Er behielt die Firmenzentrale im Ort, damit Coudersport auch weiter fast die Hälfte seines städtischen Haushalts mit Adelphia-Steuern bestreiten konnte.
Eine Hand wäscht die andere
Hinter dieser spendablen Kulisse war Adelphia aber nach Darstellung der Staatsanwaltschaft ein Sumpf aus windigen Krediten, doppelter Buchführung und Bilanzfälschung. Fest steht, dass der Konzern allein von 1999 bis 2001 Bankdarlehen über 2,3 Milliarden Dollar in der Bilanz verschwieg, indem er sie auf private Familienkonten verschob. Da die Darlehen als Gemeinschaftskredite konstruiert waren, hatten die Rigas darauf persönlichen Zugriff, ohne dass die Aktionäre etwas mitbekamen.
Den Banken diesen Kuhhandel schmackhaft zu machen fiel den Rigas nicht schwer."Alle Kredithäuser", lockte Adelphia-Finanzchef James Brown die Banken Anfang 2000 in einem Memo,"werden Gelegenheit haben, bei Emissionen eine bedeutende Rolle zu spielen." Klartext: Eine Hand wäscht die andere.
Brav segneten die Banken die dubiosen Kredite ab, und Adelphia hielt Wort: Mit Dutzenden Emissionen bescherte es den Geldinstituten 233 Millionen Dollar an Gebühren. Davon profitierten unter anderem die Bank of America, die Bank of Montreal, Wachovia, Citigroup, J.P. Morgan und die Deutsche Bank.
Drei Milliarden Dollar Gläubiger-Ansprüche
Adelphias Bilanzprüfer, das renommierte Weltunternehmen Deloitte & Touche, erhob intern zwar Einwände gegen die Verschleierung der Kredite, gab sich am Ende aber mit einer Fußnote in der Jahresbilanz für 2001 zufrieden. Auch Buchanan Ingersoll, Adelphias Anwaltskanzlei, wusste Bescheid."Die Gatekeeper haben versagt", schreibt der Juraprofessor Steve Thel."Die Bilanzprüfer wollten ihren Kunden nicht verlieren, und die Banker machten große Geschäfte."
Nur ein einziger muckte auf: ein findiger Merrill-Lynch-Analyst namens Oren Cohen. Den machte besagte Fußnote stutzig, die lakonisch auf die 2,3 Milliarden Dollar hinwies, doch ohne weitere Erklärung."Das sind ja ganz schön hohe Schulden", sagte Cohen im März 2002 bei der Bilanz-Konferenzschaltung Adelphias mit Analysten."Was sichert diese Schulden ab?"
Damit war die Achillesferse getroffen. Noch am selben Tag stürzte der Adelphia-Kurs von 22 auf 16 Dollar ab. Die SEC begann zu ermitteln, dann das US-Justizministerium. Im April 2002 kamen die ersten Aktionärsklagen, im Mai legten John Rigas und seine Söhne alle Ämter nieder, im Juni meldete Adelphia Konkurs an. Inzwischen sind 17.000 Gläubiger-Ansprüche in Höhe von drei Milliarden Dollar anhängig. Im Juli 2002 wurde der alte Rigas in New York festgenommen und in Handschellen abgeführt.
"Ein perfekter Familienunternehmer"
Drei Monate soll der Prozess dauern, den Angeklagten droht Jahrzehnte lange Haft. Die Rigas streiten jede Schuld ab und sagen, sie seien einfach nur"schlecht beraten" worden.
Das glauben sie auch in Coudersport, wo das Kino weiter John Rigas gehört und die Eintrittskarte nur 3,50 Dollar kostet, ein Drittel des Üblichen."Jeder weiß, was Mr. Rigas für diese Stadt getan hat", sagt seine langjährige Nachbarin Dolores Gartside."Er ist ein perfekter Familienunternehmer."

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