- Psychologische Aspekte der Gesellschaft des Überflüsses (mkT) - Stephan, 15.07.2004, 23:51
Psychologische Aspekte der Gesellschaft des Überflüsses (mkT)
-->Hinweise zum Copyright:
Alle Texte aus frei downloadbaren PDF´s der Erich-Fromm-Gesellschaft
von Erich Fromm
Ich glaube, dass der Mensch, der die regressive Antwort gibt, dadurch Einheit
zu finden versucht, dass er sich von der unerträglichen Angst vor Einsamkeit
und Unsicherheit zu befreien versucht, indem er das, was ihn menschlich
macht und zum Problem wird, entstellt. Die regressive Orientierung entwickelt
sich in drei Erscheinungsweisen, die getrennt oder im Verbund auftreten: in der Nekrophilie, im Narzissmus und in der inzesthaften Symbiose.
Mit Nekrophilie meine ich die Liebe zu allem, was mit Gewaltanwendung und
Destruktivität zu tun hat; der Wunsch zu töten; die Bewunderung von Macht;
das Angezogensein von Totem, von Selbstmord, von Sadismus; der Wunsch,
Organisches mit Hilfe von „Ordnungschaffen“ in Anorganisches zu verwandeln.
Da dem Nekrophilen die erforderlichen Eigenschaften für Kreatives abgehen,
ist es ihm in seiner Unfähigkeit ein Leichtes, zu zerstören, denn für ihn
dreht sich alles nur um Gewalt.
Mit Narzissmus meine ich, dass der Mensch aufhört, ein lebendiges Interesse
an der Außenwelt zu zeigen und eine starke Bindung an sich selbst, an seine
eigene Gruppe, an den eigenen Klan, die eigene Religion, Nation, Rasse
usw. entwickelt. Dabei kommt es zu gravierenden Verzerrungen in seinem rationalen
Urteilsvermögen. Ganz allgemein entsteht das Bedürfnis nach narzisstischer
Befriedigung, wenn materielle und kulturelle Armut kompensiert
werden muss.
Mit inzesthafter Symbiose meine ich die Tendenz, an die Mutter und ihre Ersatzfiguren
- das Blut, die Familie, den Stamm - gebunden zu bleiben, der
unerträglichen Bürde der Verantwortung, der Freiheit und des Bewusstseins
zu entfliehen und in einem Hort von Sicherheit und Abhängigkeit Schutz und
Liebe zu bekommen. Dafür bezahlt der einzelne mit dem Ende seiner eigenen
menschlichen Entwicklung.
Hierzu ein Interview mit dem STERN:
<h3>„Wir sitzen alle in einem Irrenhaus“</h3>
Interview with Heinrich Jaenicke
Erstveröffentlichung in: Stern, Hamburg, Nr. 17 (19. 4. 1979), S. 82, 84 und
86. - Copyright © 1979 by Erich Fromm; Copyright © 2004 by The Literary
Estate of Erich Fromm, Ursrainer Ring 24, D-72076 Tuebingen, Germany,
STERN: Seit Freud ist die Kenntnis der menschlichen Psyche enorm gewachsen,
aber die Menschen sind weder glücklicher geworden, noch sind sie fähiger, ihre
Probleme zu meistern. Woran liegt das?
FROMM: Das ist anscheinend wirklich ein großer Widerspruch. Aber ich habe einige
Zweifel, ob die Kenntnis der menschlichen Psyche - man könnte auch einfach
sagen: des Menschen - tatsächlich so gewachsen ist. Die „Psyche“ ist ja bei
den entfremdeten Menschen, die wir sind, fast wie ein Apparat. Ein Apparat,
dessen Gesetze wir kennen, den wir beschreiben können, dem aber eigentlich -
die Seele fehlt. Die Kenntnis dieses Apparates ist gewachsen durch Freud, aber
nicht die Kenntnis des Menschen selbst. Und die Kenntnis des psychischen Apparates
wird ja nicht dazu verwendet, den Menschen glücklicher und freier zu
machen, sondern um ihn noch mehr anzupassen, um die Störungen in der Maschine
wegzuräumen, damit er besser funktioniert. Und diese Kenntnis macht natürlich
nicht glücklicher, sondern eher noch unglücklicher.
STERN: Ist das nicht auch die Schuld der Psychoanalyse?
FROMM: Ich glaube, es hat wenig oder gar nichts mit der Psychoanalyse zu tun.
Das sind Folgen der modernen Industriegesellschaft, in der der einzelne immer
weniger aktiv ist, in der die Zahl selbständiger Menschen, die nach ihren eigenen
Überzeugungen und Kenntnissen urteilen und Entschlüsse fassen, immer geringer
wird. Die zunehmende Zentralisierung, die wachsende Größe der Einheiten,
die modernen Produktionsmethoden führen zu einer immer größeren Passivität
des Menschen, Passivität im inneren Sinn, während er natürlich, was seine reinen
Energieprozesse anlangt, sehr aktiv sein kann. Aber das ist eine Maschine
auch. Menschlich bleibt er passiv. Er hat ja gar nichts mehr zu entscheiden.
STERN: Bei Freud spielte die sexuelle Verdrängung eine zentrale Rolle. Nun haben
wir heute eine Befreiung von sexuellen Tabus, die sich Freud nie hätte träu-men
lassen. Offensichtlich hat dies aber nicht zum Abbau seelischer Konflikte
geführt.
FROMM: Ich glaube, die Sexualität ist gar nicht befreit worden. Sie ist zum Konsumartikel
geworden. Das hat mit Befreiung nichts zu tun. Die Pornographie zum
Beispiel ist nur ein anderer Ausdruck der Selbstentfremdung. Die Sexualität wird
da zu einer vom Menschen abgetrennten Sache gemacht. Ahnlich wie bei der
Prostitution, nur noch radikaler.
STERN: Glauben Sie, wir wären heute bis zu diesem Grade „liberal“, wenn es
Freud nicht gegeben hätte?
FROMM: Ich glaube, Freud ist da persönlich unschuldig, denn er hat ja eine ganz
bürgerliche Moral gehabt und war selbst ein eher prüder Mensch und hat alle
diese Hemmungen in seinem Modell der menschlichen Natur schon eingebaut.•2
Was wir heute sehen, ist die Folge der Konsumgesellschaft. Wo alles auf Konsum
ankommt, ist eben die Sexualität der wichtigste Konsumartikel. Es ist genauso,
wenn die Menschen Automobil fahren - nicht, um die Schönheit der Landschaft
zu sehen, sondern um die Macht zu fühlen und vor sich selbst davonzulaufen.
Sie erleben die Schönheit der Landschaft gar nicht mehr.
STERN: Sie haben schon vor 25 Jahren vor der „Roboter-Gesellschaft“ gewarnt.
Seitdem hat sich die Tendenz zur Enthumanisierung und Mechanisierung des
Daseins verstärkt. Die Automatisierung hat beängstigende Ausmaße angenommen.
Bis zu welchem Grade kann der Mensch diese Entwicklung aushalten?
FROMM: Ich fürchte - oder ich könnte auch sagen, ich hoffe -, nur bis zu einem
bestimmten Grade. Dann wird er entweder rebellieren und sich menschenwürdige
Verhältnisse schaffen, oder er wird kaputtgehen. Er wird an seinem eigenen
Intellektualismus scheitern und irgendetwas Verrücktes machen, zum Beispiel
einen Atomkrieg, weil er mit den inneren Spannungen und dem inneren Unglück
nicht mehr fertig werden kann.
STERN: Wir haben solche Rebellionen in letzter Zeit gehabt, zum Beispiel in
Deutschland gegen die Atomenergie, und kürzlich in Frankreich die Rebellion der
lothringischen Stahlarbeiter. Aber diese Rebellionen sind bisher immer wieder
zusammengebrochen, teils durch Polizeigewalt, teils aus innerer Schwäche.
FROMM: Solange das Ganze noch einigermaßen funktioniert, haben Rebellionen
wenig Aussicht, weil jeder Mensch mehr Angst vor einem Chaos hat, vor Lösungen,
die er nicht voraussehen kann, als vor der bestehenden Misere. Aber es
könnte natürlich der Augenblick kommen, wo die Misere so groß wird, dass die
Menschen rebellieren, weil sie es nicht mehr ertragen.
STERN: Die Gewerkschaften fordern die 35-Stunden-Woche, um die Arbeitslosigkeit
zu senken. Führt mehr Freizeit auch zu mehr Selbstverwirklichung?
FROMM: Freizeit als solche bedeutet einen Dreck, wenn man nicht weiß, was
man mit ihr machen soll. Und da, scheint mir, liegt ein großes Versagen der Gewerkschaften
vor. Sie fordern einfach mehr Freizeit, ohne dem Menschen zu zeigen,
was sie mit ihrer Freizeit tun sollen. Das ist doch das Hauptproblem. Denn
heute erschrickt der Mensch ja eigentlich in seiner freien Zeit.
STERN: Was sollte er denn tun?
FROMM: Nun, da gibt es so ungeheuer viel Dinge zu sagen, und die sind so
kompliziert, dass es schwer ist, in Kürze etwas Wesentliches zu sagen. Zunächst
einmal - das klingt sehr geschwollen - Meditation. Das heißt, dass der Mensch
lernt, sich still hinzusetzen und einfach er selbst zu sein, nichts zu tun, an nichts
zu denken und in einem Zustand der Harmonie mit sich zu kommen. Vielleicht
am Morgen oder am Abend 10 Minuten, 20 Minuten still zu sein, an nichts zu
denken und die Maschine des Getriebenseins abzustellen.
STERN: Früher gingen die Leute in die Kirche, um diese 20 Minuten der Stille zu
haben.
FROMM: Genau.
STERN: Sehen Sie eine Rückkehr zur Religion?
FROMM: Man muss unterscheiden zwischen Religion und Religiosität. Religion
ist eine Institution, ein bestimmter Glaube, bestimmte Vorstellungen, die kulturell
und zeitlich bedingt sind. Religiosität dagegen ist eine Haltung, in der Werte wie
Liebe, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit das Leben des Menschen bestimmen.
Nun hat es Religionen gegeben, die in diesem Sinn gar nicht religiös sind, und es
hat Atheisten gegeben, z. B. Marx, die in diesem Sinn sehr religiös waren.
STERN: Sie haben geschrieben, die Menschen der Robotergesellschaft „werden
die Welt und sich selbst zerstören, weit sie nicht länger die Ã-de eines sinnlosen
Lebens ertragen können“. Wie weit sind wir noch von der Selbstzerstörung entfernt?
FROMM: Dazu muss man ja nur die Zeitungen lesen. Wir bauen immer perfektere
Maschinen, die in der Lage sind, die Welt zu zerstören. Wir wären imstande,
diese Welt zu verschönern, zu bereichern, dem Menschen ein besseres Leben
zu geben. Aber wir wenden unsere Energien zu einem großen Teil an die Frage,
wie wir die Menschheit auslöschen können. Von außen gesehen sind wir eine
Bande von Verrückten, die man möglichst isolieren müsste. Nur - wer isoliert
wen, wenn alle verrückt sind und sich deshalb jeder für normal hält?
STERN: Sehen Sie keine Anzeichen, dass das Bewusstsein für unser „Irresein“
in den letzten Jahren gestiegen ist?
FROMM: Ich wäre froh, wenn ich sagen könnte, ja. Ich kann nur sagen, ich glaube,
hoffe, dass die Entwicklung zu einem Punkt kommt, wo der Mensch zu diesem
Bewusstsein erwacht, auch wenn das sehr romantisch klingt. Ich glaube und
hoffe auch, dass es große, charismatisch begabte Menschen geben wird, die
heute vielleicht 14 Jahre alt sind, die - wie das in der Geschichte oft vorgekommen
ist - aufstehen werden und in einer so klaren und zwingenden Weise den
Menschen die Wahrheit sagen werden, dass sie einen Effekt hat, Die Wahrheit
hat ja auf den Menschen einen ganz merkwürdigen Effekt, wenn sie die ganze
Wahrheit ist. Weil dies nun zu anthropologischen, philosophischen Überlegungen
führen würde, will ich darauf nicht weiter eingehen. Ich möchte nur sagen, das
Überleben ist mit der Vernunft verknüpft: Je unvernünftiger, desto geringer die
Chancen für das Überleben. Das heißt, die Vernunft ist nicht nur eine intellektuelle,
sondern auch eine biologische Größe, die dem Überleben dient, und die
Wahrheit ist ein Ausdruck der Vernunft, so dass die Wahrheit selbst auch eine
biologische Funktion hat.
STERN: Ein großer Teil der Jugend nimmt heute eine Haltung radikaler Verweigerung
ein. Dieser Teil, besonders die Studentenschaft, integriert sich nicht
mehr, sondern sondert sich ab und steigt sozusagen aus der Gesellschaft aus in
einer Art passiver Rebellion...
FROMM: Ich kann nicht ganz sehen, dass das passiv ist. Häufig druckt sich eben
die höchste Aktivität in der Passivität aus, wie zum Beispiel in einem Streik. Ein
Streik ist eine ungeheuer starke Waffe, aber sie erfordert Weisheit, Mut, Ausdauer,
Planung. Einen erfolgreichen Streik organisieren - ich meine jetzt, über einen
reinen Industriestreik hinaus -, das können nur Menschen, die über außergewöhnliche
Qualitäten verfügen.
STERN: Also, den großen Generalstreik gegen das Irrenhaus sehen Sie noch
nicht?
FROMM: Nein, den sehe ich noch nicht, weil fast jeder im Irrenhaus ist. Aber ich
glaube, er wird kommen, bevor es zu spät ist.
Copyright © 1979 by Erich Fromm
Copyright © 2004 by The Literary Estate of Erich Fromm, Ursrainer Ring 24 D-72076 Tuebingen, Germany,
gruss
Stephan
<ul> ~ Credo eines Humanisten</ul>

gesamter Thread: