- In Erwartung eines unwiderruflichen Unglücks: der Wiederwahl von George W. Bush - JoBar, 29.10.2004, 20:54
In Erwartung eines unwiderruflichen Unglücks: der Wiederwahl von George W. Bush
-->Samstag, 30. Oktober 2004
Die Demokratie und das Unwiderrufliche
Die US-Wahlen entscheiden sich an der Frage der Schuld - und können der Welt zum Verhängnis werden
/ Von Ivan Nagel
Wir leben in Erwartung eines unwiderruflichen Unglücks: der Wiederwahl von George W. Bush zum Präsidenten der USA. Das Ende der Demokratie in Amerika könnte damit beginnen.
Was wehrt sich in uns gegen diese zwei Sätze?
Zum ersten Satz: Wir, verwöhnte Bewohner nördlich-westlicher Demokratien, weigern uns, irgend etwas als irreparabel anzusehen. Korrupte Bürgermeister kommen vor Gericht, lästig gewordene Gesetze werden novelliert oder abgeschafft.
Zum zweiten Satz: Wir sind weder fähig noch willens zu denken, dass Demokratie je aufhören kann. Die Vernunft lobpreist sie, die Verfassung festigt sie als unsere letzte, endgültige Staats- und Lebensform.
Kurz: In der Demokratie gibt es nichts Unwiderrufliches - außer der Demokratie. Auf diesem Aberglauben fußt unser defizienter, minimalistischer Glaube an die bestmögliche aller politischen Welten.
1.
Der Schock ist immens, seit wir täglich erfahren: Zwei musterhaft gewesene Demokratien, die Vereinigten Staaten und Israel, haben sich der blinden Selbstsucht ergeben - dem Verhängnis statt der Vernunft. Sind die Rachgier und Panik, die der 11. September erregt, der Irak-Krieg weltweit verbreitet hat, noch rückgängig zu machen? Lässt der beiderseitige Terror im Gaza-Streifen noch eine Versöhnung zu? Kein untrüglicher Alarm schrillt, wenn die Grenze vom Reparablen zum Irreparablen überschritten wird. Ist der Schritt aber getan, fragt sich: Welche Belastung mit Schuld hält eine Demokratie aus, ohne erst abzubröckeln, dann einzustürzen?
Der Wahlkampf in Amerika wird sich, kommt kein neues Attentat dazwischen, am konträren Verhältnis beider Lager zur Schuld entscheiden. George W. Bushs"neokonservatives" Regime drängte mit wütender Hast in diesen Krieg: aus dem Bereich der Fehler in das Reich der Schuld. Ihre"liberalen" Gegner aber zeigten sich bis vor vier Wochen zu feig, ihrem Land öffentlich Schuld vorzuhalten. Erst aus Verzweiflung über schlechte Umfragezahlen kämpfte sich Kerry zur Formel durch:"the wrong war in the wrong place at the wrong time" - viel zu spät, um die prompte Anklage,"Verrat an unseren Soldaten und Verbündeten" zu üben, noch wirksam abzuwehren.
Das paradoxe Ergebnis lautet: Bushs Anhänger fühlen sich unschuldig, da sie nur die Bösen bombardieren, foltern, entrechten. An Kerrys Anhängern aber haftet die erst beschwiegene, dann gestandene Schuld; denn sie haben kein Wundermittel, um das Verhängnis, das sie nicht schufen, schnell und spurlos zu beseitigen. So verharrt der Wahlkampf im Schauduell zwischen Wut und Feigheit. Die Mehrheit der Wähler hält heute sowohl den Irak-Krieg als auch die Innenpolitik Bushs für falsch; und will ihn als den"stärkeren Führer" wiederwählen.
Bush weiß, dass seine Macht an der Kriegslust und Kriegsangst seiner Wählerschaft hängt. Er nennt sich"war president". Seine Kampagne tut, als hätten die Bürger den Oberbefehlshaber der US-Armee, nicht den Präsidenten der Republik zu wählen. Sie umwirbt die Psychopathologie des mittleren Amerika: seinen Hang zu Selbstgerechtigkeit und Gewalt, wie er sich in der Folklore der Western, im Kult der Schießwaffen, in zum Platzen überfüllten Gefängnissen spiegelt. Doch Bushs Propaganda für den"war on terror" hat es nicht bloß auf die Süd- und Midwest-Wähler abgesehen - sondern auf die amerikanische Verfassung. Sie beruht, wie keine andere der Welt, auf Teilung und Balance der drei Gewalten. Jeder Krieg stärkt die Exekutive gegen die Legislative und die Justiz. Nur: Bush weitet nicht die Präsidentenmacht aus, um einen begrenzten Staatenkrieg effizient zu führen. Er führt einen end- und grenzlosen"Krieg gegen den Terror", um seine Präsidenten- und Imperialmacht zu entfesseln. Die Machtgier der Exekutive nützt den Krieg als Notstand. Dauernder Notstand aber ist das sicherste Mittel, Republiken zu liquidieren.
Schon die römische Republik suchte dem vorzubeugen: Sie beschränkte die kommissarische Diktatur ihrer Befehlshaber auf sechs Monate, die Dauer eines Sommerfeldzugs. Erst für Caesar wurde die Diktatur für unbestimmte Zeit, dann auf Lebzeiten verlängert - und zugleich gegen jeden inneren Gegner gewendet. Notstand im Permanenz hat zum geheimen Vorbild den Bürgerkrieg, dem er zu wehren vorgibt. Zwei Jahrtausende später mündeten die langen Revolutionskriege in Napoleons Putsch: Man verhieß, wie Bush, die Welt zu befreien, und büßte die Freiheit im eigenen Land ein.
2.
Bush verriet einmal unvorsichtig, der Krieg gegen den Terror kenne kein Ende. Kommuniqués und Wahlreden, auch Gesetze, Verordnungen machen das Gemeinte klar. Diese Regierung erstrebt: nach außen eine Kette von Invasionen; nach innen das Angstkontinuum einer Belagerung. Würde die US-Armee nicht so ärgerlich im Irak aufgehalten, sie wäre längst dabei, Syrien oder Iran zu demokratisieren. An der Heimatfront würde mit täglichem Alarm und harten Dekreten für die Sicherheit jedes Amerikaners gesorgt. - Selbst Liberale hoffen trotz Bushs Wiederwahl: Amerika bleibt Amerika. Aber Bush will Amerika verändern.
Er wirbt für die Verlängerung des"Patriot Act", der Suspension von Bürgerrechten. Dessen extreme Erweiterung, der"Domestic Security Enhancement Act", liegt seit Januar 2003 in Justizminister Ashcrofts Schublade, bereit für Bushs nächste Amtszeit. Dass dieses Gesetz beschlossen wird, wäre bei heutigem Stand gesichert. Denn die USA leben in einem bisher seltenen Sonderstatus ihrer Geschichte: Präsident, Mehrheit in Senat und Repräsentantenhaus gehören sämtlich der gleichen Partei an. Die ins Immense gewachsenen Kosten auch jedes Kongress-Wahlkampfs machen die Abgeordneten, wie nie zuvor, von Präsident, Partei, Großgeldgebern abhängig. Vor ihrem Autonomie- und Charakterverlust warnt der dienstälteste Senator Robert C. Byrd in dem Buch, dessen Titel ein Aufschrei ist:"Losing America". Amerika geht sich verloren.
Bush begreift seine Wiederwahl als Auftrag, die Hürden für ein neokonservativ-gottesfrommes Präsidialregime, schrittweise oder forciert, wegzuräumen. Die Knappheit seines Sieges wird ihn, wie in seiner ersten Amtsperiode, nicht zu Vermittlungen, sondern zum Extremismus der Feindbekämpfung treiben. Die Zähmung der Dritten Gewalt, der Justiz, wäre dabei ein Leichtes: Für die kommenden Jahre stehen dem Obersten Gerichtshof Neuernennungen bevor - durch den Präsidenten mit Zustimmung des Senats. Danach könnte nicht wieder passieren, dass die höchste Instanz, wie jüngst, unbefristete Haft ohne Anklage und Rechtsbeistand als verfassungswidrig verbietet.
3.
... http://www.berlinonline.de/berliner-zeitung/feuilleton/390851.html
J

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