- Die Erde ist flach - Nachruf auf die Wahrheit / Gedanken zur US-Präsidentenwahl - JoBar, 05.11.2004, 07:29
- und das Gebet dazu aus dem Weis(s)en Haus am Tage darnach: - Emerald, 05.11.2004, 07:58
- Re: Schade, daß es so glaubhaft ist:( - JoBar, 05.11.2004, 08:15
- Warum nur, suchen die USA immer nach MVW, wo sie doch selbst genug davon haben? (o.Text) - prinz_eisenherz, 05.11.2004, 08:49
- Re: Schade, daß es so glaubhaft ist:( - JoBar, 05.11.2004, 08:15
- und das Gebet dazu aus dem Weis(s)en Haus am Tage darnach: - Emerald, 05.11.2004, 07:58
Die Erde ist flach - Nachruf auf die Wahrheit / Gedanken zur US-Präsidentenwahl
-->05.11.2004 04:52
Die Erde ist flach
Ein Nachruf auf die Wahrheit / Gedanken zur US-Präsidentschaftswahl
von Christoph Keller
George W. Bush hat die Wahrheit gespalten wie ein Atom, und leider war das Experiment erfolgreich. Spaltet man die Wahrheit, so kommen dabei nicht kleinere Wahrheiten heraus, sondern Halbwahrheiten, Wahrheitsvarianten oder, schlichter, Lügen in sämtlichen wünschbaren Abstufungen. Diese werden - in der Regel angesichts einer unangenehmen Wahrheit wie etwa jener, dass es für den Irakkreuzzug keine Rechtfertigung gab - über die mehrheitlich unkritischen, wenn nicht schlicht hörigen Medien solange verbreitet, bis alle restlos verwirrt sind und sich nach einem sehnen, der, nun, die Wahrheit gepachtet hat. Dass diese"Wahrheit" nicht wahr sein muss, zeigt, was Bush unermüdlich zu seinen Kriegen verkündet: Alles bestens.
Bushs weltweites Experiment mit der Wahrheit taucht uns alle in einen dichten Nebel, aus dem fast nicht mehr herauszufinden ist. Das ist die Idee. Larry Beinhart hat in diesem Zusammenhang in seinem Thriller"The Librarian", der rechtzeitig auf die Wahlen hin erschienen ist, den Begriff Fog Facts geprägt. Ein"Nebelfaktum" ist eine Tatsache, die eigentlich für alle sichtbar und doch nicht wirklich zu erkennen ist.
Etwa: Die Ã-lindustrie steuert das Weiße Haus. Eine solche Information ist dazu verurteilt, in unserem multimedialen Dschungel unterzugehen, weil sich dieser obsessiv mit einer Klatschgeschichte wie O.J. Simpson, Monica Lewinsky oder, wie in diesem Sommer, mit dem Scott-Petersen-Mordfall beschäftigt."Cambride siegte gegen Oxford mit zweieinhalb Längen, - / das genügt, das Gehirn zu beschäftigen," wie es Günter Eich formuliert hat.
Versionen der Wahrheit
Sollte Bush im Taumel seiner zweiten Amtszeit zum Beispiel auf die Idee kommen, unsere Erde zur Scheibe zu erklären, so würde er sich seiner allmächtigen Propagandamaschine bedienen, um erst einmal verbeiten zu lassen, die Welt sei nicht wirklich rund. Was ist mit den vielen Bergzügen und Canyons, die unsere Welt als alles andere als eine geometrisch runde Kugel aussehen lassen? Die spin doctors, die in Amerika dafür verantwortlich sind, an Versionen der"Wahrheit" herumzudoktern, nehmen dieses"alles andere" auf, um die möglichen Formen der Erde zu diskutieren: Oval wie ein Football? Eine Pyramide mit Amerika an der Spitze? Untertassenförmig wie ein Ufo? Am Ende doch eine Kugel? Schon ist das Publikum involviert und meldet sich in den vielen call-in shows zu Wort. Darauf führen die pollster zahllose Umfragen durch, im Internet beraten sich die blogger, an den watercooler die Angestellten - Zeit für ein klärendes Wort dessen, der gern betont, dass Gott direkt zu ihm spricht. Und wenn es um etwas wirklich Entscheidendes geht, wird Gott von der anderen"Einheit" flankiert, der zu widersprechen Blasphemie ist: Patriotismus. Wie etwa bei der - falschen - Behauptung, Saddam Hussein stecke hinter dem Angriff des 11. September.
Die Bush-Regierung aber begnügt sich nicht damit, uns die Welt so aufzutischen, wie sie nicht ist. Ron Suskind zitiert im New York Times Magazine vom 17. Oktober - in einem der wichtigsten Essays, die in jüngster Zeit zur Wahl erschienen sind -, einen Berater Bushs. Dieser teilt ihm mit, er, der Journalist, gehöre zu jenen, die er the reality-based community nenne. Leute also, die sich für ihre Entscheidungen auf das sorgfältige Studium der Realität verließen. Amerika aber sei mittlerweile ein Imperium, das sich seine Realitäten selber schaffe. Diese wiederum könnten von der"Realitätsgemeinde" studiert werden, während sie - die Bush-Regierung, die Akteure der Geschichte - neue Realitäten schaffen würde, die die anderen - wir alle - dann wieder studieren könnten, u.s.w..
Die jüngste Realität, die Bush geschaffen hat - eine"Wahrheit", die er nach oben beschriebenen Prozedere schließlich selber verkündet -, ist: I am the winner. Auch das wird letztlich einfach zur Glaubensfrage (jene, die ihren Glauben über die Fakten stellen, bilden nach Suskind die faith-based community.) Was während der Wahlen ans Tageslicht kam, ist bereits unter den Tisch gekehrt worden: Dass die Mängel des Wahldebakels 2000 nur unvollständig behoben wurden; dass Afroamerikaner mit Einschüchterungen am Stimmen gehindert wurden; dass systematisch Stimmen vernichtet wurden; dass der Chef der Firma, die das papierlose (also quittungslose) elektronische Wahlsystem installiert hat, Bush versprach, er werde dafür sorgen, dass er die Wiederwahl gewinne, u.v.m. Manchmal ist es nicht der Glaube allein, der Berge versetzt.
Will man hingegen davon ausgehen, dass Bush rechtmäßig gewonnen hat, so ist man gezwungen, etwas zu glauben, das - weiß Gott! (hoffentlich!) - schwer fällt. Die Checkliste der Punkte dessen, was die (knappe) Mehrheit des wählenden Amerikas mit einem Yes! angekreuzt hat, enthält in diesem Fall neben vielen anderen Punkte wie Folter, illegale Kriege, Rekordstaatsdefizit, Rekordjobverlust, Angstmacherei, Diffamierungs- und Einschüchterungskampagnen, Regierung qua Großkonzerne sowie stufenweise Eliminierung der Bürgerrechte.
Der Glaube entscheidet
Vielleicht ist es ja in dem Land, in dem mehr Menschen an die unbefleckte Empfängnis als an die Evolutionstheorie glauben, wahr, dass der Glaube entscheidender als alles andere ist. In diesem Fall wünschte ich mir, voll des Respekts für gläubige Menschen, dass diese ihren Glauben einer strengen Prüfung unterziehen und sich die Frage stellen, was die Auswirkungen ihres Glaubens in den Leben zahlloser anderer anrichtet. Es ist dies die Realität in der die überwältigende Mehrheit der Menschheit lebt, egal, was sie glaubt oder was sie für real hält.
Die USA, die wir so lange für ihre (recht) intakte Demokratie bewundert haben, ist dabei, sich in einen Gottesstaat zu verwandeln, in der die Ideologie über allem steht."Amerikaner wundern sich, dass der Rest der Welt", schreibt der Geschichtsprofessor Garry Wills am 4. November in der New York Times,"uns für so gefährlich, so stur, so unempfänglich für internationale Anliegen halten. Sie fürchten den Jihad, egal, wessen (religiöser) Eifer darin zum Ausdruck kommt." Das christliche Wort für Jihad ist Kreuzzug. So hat Bush seinen (ewigen)"Krieg gegen den Terrorismus" gleich nach dem 11. September genannt.
Die Wahrheit ist in Bushs schöner neuer Orwellwelt eines der größten Opfer: Nichts ist mehr wirklich zu glauben. Alles ist anzuzweifeln. Vielleicht ist die Erde ja eine Scheibe.
Nach der Konzessionsrede von John Kerry am 3. November 2004 gingen wir spazieren. Ein schöner, milder Tag, ungewöhnlich für die Jahreszeit. Wie der 11. September 2001. Es fühlte sich an, als seien wir erneut von den Terroristen besiegt worden.
Der Autor Christoph Keller ist Schriftsteller, er lebt in St. Gallen und New
http://www.suedkurier.de/lokales/konstanz/kultur/art2962,1268934.html
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