- Mein Berufswunsch: Journalist. Muss man ihn begraben, wenn man gehörlos ist? - Prosciutto, 25.07.2005, 13:07
- Nachtrag: Eingescannter Leserbrief - Prosciutto, 25.07.2005, 13:20
- Re: Nachtrag: Eingescannter Leserbrief - Plutarch, 25.07.2005, 13:42
- Re: Computer und Menschen - Holmes, 25.07.2005, 14:28
- Versuch es halt mal damit - Toby0909, 25.07.2005, 14:36
- Re: Nachtrag: Eingescannter Leserbrief - kenne sehr nette Informatiker - BillyGoatGruff, 25.07.2005, 14:52
- Re: Mein Berufswunsch: Journalist. Muss man ihn begraben, wenn man gehörlos ist? - NaturalBornKieler, 25.07.2005, 14:29
- Re: Nein - dottore, 25.07.2005, 15:05
- Dottore, ich antworte mal an seiner Stelle - Gundel, 30.07.2005, 06:39
- Re: Berufswunsch: Journalist. Wunsch und Wirklichkeit - Christian, 25.07.2005, 15:13
- Nachtrag: Eingescannter Leserbrief - Prosciutto, 25.07.2005, 13:20
Re: Berufswunsch: Journalist. Wunsch und Wirklichkeit
-->Die Gehörlosigkeit ist ein Teil des LEOPARD-Syndroms (d = deafness). Ohne Hörgeräte höre ich zwar nichts, aber dank meinen Hörgeräten ist eine direkte Kommunikation mit mir schon ziemlich gut möglich.
Fein, das ist doch schon mal gut für die Welt der Hörenden. Was sprichst du sonst noch? DGS?
Ich glaube, dass es nicht meine Berufung ist, als Informatiker zu arbeiten. Es war eher der Vorschlag meiner Eltern. Nun, meine Ausbildung/Lehre habe ich trotzdem letztes Jahr erfolgreich beendet (eidg. Informatiker Richtung Systemtechnik). Seither bin ich auf der Stellensuche. Vielleicht haben mir die zahlreichen Absagen das Gefühl gegeben, ich sei nicht geeignet für diesen Job.
Bei uns im Haus wohnt auch jemand, der im vergangenen Jahr seine Informatiker-Ausbildung abgeschlossen hat. Der hat nun ein Informatik-Studium drangehängt. Bei ihm war es wohl ähnlich - stupider Job, wenig Aussichten auf Wechsel oder Aufstieg. Eine vielleicht unangemessene Frage in so einem Gesprächskreis wie diesem Forum: Bekommst du langsam aber sicher Minderwertigkeitskomplexe, weil dich keiner einstellt? Ich habe so etwas selbst erlebt, als ich vor 13 Jahren mit einem abgelaufenen Redakteurs-Zeitvertrag in die Freiheit entlassen wurde. Ich war einer von insgesamt sechs Jungredakteuren, denen man mit warmem Händedruck und allem Zipp und Zapp versichert hatte, dass es Festanstellungen gäbe. Nicht einer wurde weiter beschäftigt - der Verlag musste (oder wollte) den Gürtel enger schnallen. Damals brach für mich eine Welt zusammen: Selbstzweifel, Minderwertigkeitsgefühle, Ungeliebtsein - die ganze Palette, unter den eine große Anzahl Arbeitsloser leidet. Nach einigen Monaten hatte ich endlich geschnallt, dass es nichts Persönliches war.
Aber definitiv ein grosser Berufswunsch von mir ist Journalist. Ich habe schon immer gerne gelesen (Zeitungen, Zeitschriften, Fachbücher und sonstige Schnipsel, die mir zwischen die Finger kamen) und geschrieben. Während meiner Ausbildung haben mir mehrere Leute unabhängig voneinander mitgeteilt, dass ich das Zeug zum Schriftsteller hätte - und ich lebe beileibe nicht in einem Umfeld, in dem viel gelobt wird.
Deinen Wunsch kann ich gut verstehen, war bei mir vor 17 Jahren auch so. Dass du immer gerne gelesen hast - welche Publikationen auch immer - zeugt davon, dass du an allerlei Dingen interessiert bist. Sicherlich ein großes Plus im Alltag und im Berufsalltag. Dass du gerne schreibst, ist sicherlich auch eine gute Voraussetzung, um in den Journalismus einzusteigen. ABER: Journalismus und Schriftstellerei sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Journalismus ist in erster Linie Handwerk. Lyrische oder epische Adern musst du auch als Journalist in deiner Freizeit ausleben. Nicht ohne Grund gibt es sehr viele Journalisten, die sich als (meist ziemlich mittelmäßige) Romanautoren versuchen. Redaktionsalltag hingegen bedeutet oft Routine - die im übrigen auch ganz schön ätzend sein kann - aber nicht sein muss.
Um Journalist zu werden, muss man ein Studium in Sachen Journalistik und Medienwissenschaften machen. Dazu gehört auch, sich mit verschiedenen Medien (u.a. mit dem Radio und dem Fernsehen) auseinanderzusetzen und sie zu analysieren. Da ich aber meistens das Gesicht der Person, die mit mir spricht, sehen muss, ich nur mit grosser Mühe telefonieren kann (gut, inzwischen bin ich ausschliesslich schriftlich erreichbar) und keine Stimmen aus dem Radio oder Fernsehen verstehe (bin auf Untertitel angewiesen bei TV-Sendungen), kann ich mich wohl während einem Studium nicht mit den Medien Radio und Fernsehen auseinandersetzen. Und Personen zu interviewen dürfte wohl auch noch ein Problem darstellen (z.B. weil ich die Antworten nicht immer verstehe).
Nun mal immer schön der Reihe nach. Du musst weder Journalistik noch Medienwissenschaften studieren, um Journalist zu sein. Du schreibst gerne und findest jemanden, der deine Geschichten veröffentlichst? Schön, dann nenn dich Journalist. So einfach ist das, und deshalb hat es diese Berufsgruppe auch nicht immer besonders einfach (übrigens aus verständlichen Gründen). Anders ist es bei der Berufsbezeichnung Redakteur (bzw. Redaktor, wie man in der Schweiz sagt). Um dich Redakteur nennen zu dürfen, musst die ein Volontariat bei einer Tageszeitung, Zeitschrift oder sonst einem Medium absolviert haben, welches auf Papier oder auch über Funk publiziert. Mittlerweile gibt es auch Volontariate bei Online-Medien. Also: Journalist ist jeder, der es sein möchte (ob gut oder schlecht, das ist pupsegal). Redakteur darf sich jemand nennen, der ein Volontariat gamcht hat. Soviel zu diesem kleinen Unterschied.
Zu deiner Gehörlosigkeit, die dich im Journalismus sicherlich hemmen dürfte: Ich erinnere mich an eine einmonatige Schulung während meiner Volontärszeit. An einem Tag war auch ein Journalist zu Gast, der uns über seine Tätigkeit informiert hat. Seine Spazialität: Reportagen über Randgruppen. Der Mann war ein körperlich extrem Fehlgebildeter Mensch, was gängige Maßstäbe angeht: Buckel, sehr kleiner Körperwuchs - nicht gerade geeignet, um in Badehose Werbung für H&M zu machen. Aber gerade das war seine Stärke. Durch seine eigene Erscheinung bekam er viel schneller und besser Zugang zu denjenigen, die am Rand der Gesellschaft leben.
Warum ich diese Episode erwähne? Ganz einfach: Suche ruhig die vermeintlichen Schwächen in dir - und nutze sie dann zu deinem Vorteil. Als gehörloser Journalist hättest du beispielsweise mit Sicherheit viel besseren Zugang zu anderen Gehörlosen. Weil sie dich ernst nehmen, weil du mit ihnen auf Augenhöhe kommunizierst und weil du selbst Gehörlosenkultur lebst. Hast du dich mal in dem Bereich schlau gemacht? Ich könnte wetten, dass es da interessante Möglichkeiten bzw. Medien gibt.
Aber es wäre schon grossartig, bei einer grösseren Tageszeitung tätig zu sein und sich mit diversen Themen auseinanderzusetzen, Skandale aufzudecken, über verschiedene politische Angelegenheiten zu schreiben, über Ereignisse berichten, Hintergrundinfos zum aktuellen Weltgeschehen liefern, Recherche betreiben, am Puls der Zeit zu leben und blitzschnell zu erfahren, wo was läuft und darüber zu berichten.
Ha! Den Zahn würde ich dir gerne ganz schnell ziehen. Skandale aufedecken, ja? Auf welchem Stern lebst du? Skandale werden zu 95 Prozent aufgedeckt, weil irgend jemand irgendeinen anderen bei den üblichen verdächtigen Medien anschwärzt! Was glaubst du, warum die schönsten Skandale in Wahlkampfzeiten auftauchen?
Wenn du bei einer Tageszeitung arbeitest, dann wirst du deinen Lesern sicherlich viel Hintergrundinfos liefern können (je nach Blatt mal mehr oder weniger). Aber in den seltensten Fällen wirst du sie auch selbst verfassen. Geliefert wird eigentlich alles von den Agenturen, welche das Blatt abonniert hat: dpa, ddp, reuters, KNA, epd, AFP und so weiter und so fort. Als Redakteur in einer Nachrichtenredaktion bist du fast immer ein Nachrichtenverwalter. Als redakteur in einer Lokalredaktion bist du hingegen fast täglich damit beschäftigt, eigene Geschichten zu schreiben. Über das neue Programmheft des Kneipp-Vereins um die Ecke, über stundenlange Stadtratsitzungen, über verdammt miese Kirchenchorkonzerte, über den Verkehrsunfall mit 350 Euro Sachschaden (der wird allerdings in Rohfassung von der Polizeipressestelle gemailt). Ich denke nicht, dass das jemanden mit schriftstellerischen Ambitionen vom Hocker reißt, oder?
Mein Interessengebiet ist so gross: Weltgeschehen, Politik, Wirtschaft, Technik & Computer, Kultur, Literatur, Unterhaltung, Sport und teilweise auch Geschichte. Dies und mein Hobby (und zugleich auch Fähigkeit), gut schreiben zu können möchte ich miteinander verknüpfen. Ich glaube, dass Journalistik meine Berufung ist - und nicht die Informatik!
Gut, dann tu es! Aber hoffe nicht darauf, dass man dich mit offenen Armen empfängt. Du scheinst ein Generalist zu sein, der sich in vielen Bereichen wohl fühlt und gut auskennt. Mach deinen Bauchladen nicht zu voll, denn man kann nicht von allem richtig Ahnung haben. Übrigens: Wenn du schreiben möchtest, dann interessiert dich der Journalismus, nicht di Journalistik. Diese ist nämlich die Forschung in Sachen Journalistik. Was im übrigen zeigt, dass die Absolventen eines Journalistik-Studiums nicht auch unbedingt gute Journalisten sind. Sie wissen nur gut über die Mechanismen des Journalismus bescheid.
Ich glaube einfach, dass ich psychisch leide, wenn ich noch weiter in diesem Berich tätig bin. Informatiker zu sein ist ein einsamer Job. Viele Infomatiker sind nicht gesellschaftsfähig, haben wenige soziale Kontakte und kein wirkliches Leben. Durchgeknallt wäre evtl. auch noch eine Bezeichnung.
Sei nicht zu überrschaft, wenn du es im Journalismus mit sehr vielen durchgeknallten Menschen zu tun bekommst. Und vor allem mit sehr vielen Menschen, die unglaublich eitel sind - und die ihrer Meinung nach garantiert besser texten als alle anderen, vor allem besser als du.
Ich möchte auf jeden Fall einen Beruf, in dem ich mehr Kontakt zu Menschen als zu Maschinen haben.
Da gibt es aber mehr als nur den Journalismus. Warum nicht Dozent fürs Gebärden? (Ohne dich da in eine bestimmte Ecke drängen zu wollen.)
...es tut mir schon sehr gut, eine angesehene Person zu sein in meinem Umfeld und das Gefühl zu haben, dass ich gebraucht werde.
Ja, das tut jedem gut. Und damit hätte sich schon fast wieder der Kreis meiner Antwort geschlossen: Arbeitslosigkeit bringt meist das Gefühl, nicht gebraucht zu werden.
Vor allem die Ergebnisse der Arbeit eines Informatikers ist unbefriedigend - man sieht häufig die Arbeit dahinter nicht. Besonders krass ist es bei Software. Da kann man jahrelang einen Code entwickeln. Das Ergebnis ist nur ein Programm.
Da muss ich noch mal einhaken: Glaubst du allen Ernstes, die Leser hängen sich deine Artikel an die Wand? Nein, sie landen im Altpapier. Noch schlimmer ist es aus meiner Erfahrung mit Radiobeiträgen: Du arbeitest eine ganze Woche an 17 Minuten. Sie werden einmal gesendet - und weg sind sie. Glaub mir, das kann sehr frustrierend sein - besonders dann, wenn einem diese 17 Minuten sehr wichtig waren.
Es tut mir gut, den Frust von der Seele zu schreiben. Allmählich sehe ich klarer. Aber die Suizidgedanken werden trotzdem nicht verdrängt.
Frust von der Seele schreiben ist gut, manchmal hilft es aber auch, sich mit jemandem zu unterhalten, der sich damit auskennt. Ob wir deinen Zustand nun emotionale Sackgasse, Depression oder Ausweglosigkeit nennen wollen: Ich glaube, es täte dir gut, mal mit einem Therapeuten darüber zu sprechen. Nicht weil du bekloppt bist, aber weil du förmlich nach Hilfe schreist. Das tust du sehr professionell, und deshalb solltest du dir auch professionelle Hilfe gönnen.
PS: Ich hoffe natürlich schwer, dass PCM/dottore meinen Beitrag liest und mir auch antwortet. Allerdings erwarte ich eher eine ernüchternde Antwort...
Ernüchternd ist, was man selbst dafür hält. Traumschlösser helfen aber auch nicht weiter. Mach Pläne und versuche sie umzusetzen. Wenn es schief geht, mach neue Pläne. Das ist zwar mühsam, aber es sorgt dafür, dass sich das Rad weiter dreht.
Wenn du dich entschieden hast, ob und bei welchem Medium du es versuchen möchtest, können wir und gerne darüber austauschen. Vorausgesetzt du möchtest das. Wenn du dir bei deinen ersten Texten nicht sicher sein solltest, ob sie so funktionieren, dann redigiere ich sie gerne. Vorausgesetzt du möchtest auch das.
Gruß, Christian

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