- Pragmatische Staatskunst im vorchristlichen Indien: Kautilyas Arthashastra - Popeye, 03.10.2005, 12:35
- Re: Pragmatische Staatskunst im vorchristlichen Indien: Kautilyas Arthashastra - Popeye, 03.10.2005, 12:56
- Re: Pragmatische Staatskunst / im Orig. korrigiert, kommt i.s. Sammlung (o.Text) - Elli (Boardmaster)--, 03.10.2005, 13:11
- Re: Versuch einer Ehrenrettung für West-of-India-Gebiete - dottore, 05.10.2005, 18:05
- Re: Versuch einer Ehrenrettung für West-of-India-Gebiete - Popeye, 05.10.2005, 18:36
- Re: Pragmatische Staatskunst im vorchristlichen Indien: Kautilyas Arthashastra - Popeye, 03.10.2005, 12:56
Re: Versuch einer Ehrenrettung für West-of-India-Gebiete
-->Hi @Popeye,
ein vorzüglicher Hinweis in einem hochinformativen Posting. Dafür großen Dank vorweg.
Es handelt sich bei dem Inder, was im weiter westlichen Kulturkreis sub rubrum „Fürstenspiegel“ (auch Regentenspiegel) tradiert wird, also die Lehre für das optimale „Regieren“. Diese sind ab dem 15./16. Jh., zunächst unter Rückgriff auf antike Vorbilder in großer Zahl erschienen (viele anonym), wobei die Grenzen zur klassischen „Kameralwissenschaft“ (camera = Fürstliche Schatzkammer, die auch beim Inder eine zentrale Rolle spielt) fließend sind. Nur als ein Beispiel (weil der Titel so schön sprechend ist):
Ch. F. Kottenkamp, Kurtzer Abriß und wahres Ebenbild eines großen Fürsten und erhabenen Geistes, worinnen die Grundlehren der gesunden Staatskunst... abgehandelt 1747. Kottenkamp wendet sich auch gegen Machiavell wie kurz zuvor (1740) schon Friedrich der Große in seinem „Anti-Machiavell“ (anonym und auf Vorbilder wie Barlaeus [„Adversus Machiavelli“ 1633] basierend). Allerdings hatte Friedrich kaum Zugang zum Phänomen der Staatsfinanzen (Steuer- und Münzverpachtung) und steht dem Inder in diesem Punkt bei weitem nach.
Aber sind die Potentaten des Nahen Ostens und des Abendlands tatsächlich so gänzlich ohne „Staats“- und/oder „Regierungstheorie“ geblieben und haben also mehr oder minder in den blauen Tag hinein geherrscht?
Vielleicht darf ich als Versuch der Ehrenrettung entsprechende Ausführungen zum Thema aus „früherer“ Zeit nachtragen, die außer den Aristoteles, außer Plato und Cicero zu nennen wären und auch außer dem, was unter „mosaischen Gesetzen“ zu verstehen wäre (Chronologien, so möglich, die Titel nach späteren Druckausgaben):
David (biblisch): Psalm 101 mit dem (freilich sehr kurzen) „Regentenspiegel“:
„Von Gnade und Recht will ich singen und dir, HERR, Lob sagen. Ich handle umsichtig und redlich, daß du mögest zu mir kommen; ich wandle mit redlichem Herzen in meinem Hause. Ich nehme mir keine böse Sache vor; ich hasse den Übertreter und lasse ihn nicht bei mir bleiben. Ein falsches Herz muß von mir weichen.
Den Bösen kann ich nicht leiden. Wer seinen Nächsten heimlich verleumdet, den bring ich zum Schweigen. Ich mag den nicht, der stolze Gebärde und hoffärtige Art hat. Meine Augen sehen nach den Treuen im Lande, daß sie bei mir wohnen; ich habe gerne fromme Diener. Falsche Leute dürfen in meinem Hause nicht bleiben, die Lügner gedeihen nicht bei mir.
Jeden Morgen bring ich zum Schweigen alle Gottlosen im Lande, dass ich alle Übeltäter ausrotte aus der Stadt des HERRN.“
Immerhin lässt sich aus Samuel 1 und 2 indirekt eine Reihe von Herrschaftsmaximen für den dortigen „David“ ableiten, wenn auch eingebettet in die Theologie des AT und zuweilen höchst blumiger Sprache, die in keiner Weise an die strengen Formulierungen des Inders heranreicht.
Daniel (biblisch, gest. nach 536 BC?): Gewisse „moralische“ Ansätze, immerhin.
Xenophon (430 - 355 BC): Ihm (so er denn der wahre Autor ist) verdanken wir den staatstheoretischen Dreierschlag: „Erziehung des Kyros“ (Regentenspiegel), Hieron-Dialog (warum Tyrannis?) und den „Staat der Spartaner“ (lobend wie auch deren König Agesilaos in einem weiteren Werk), der - abgeschmeckt mit seinen ökonomischen Traktaten (über gute Hauswirtschaft und über die Staatseinkünfte) und einem über das taktische Vorgehen der Reiterei - dem Inder noch am ehesten das Wasser reichen könnte.
Isokrates (436 - 338): Keine direkte Staatstheorie, aber doch interessante staatspolitische Forderungen im Sinne Athens, gekleidet in die damalige schriftstellerische Kunstform der „Rede“ (Kunstrede zur Lektüre wie sein „Panegyrikos“).
Tacitus (55 - 115): „Annalen“, die mit Augustus, Tiberius usw. scharf ins Gericht gehen, woraus sich im Umkehrschluss die „wahre Regierungskunst“ oder „Staatsklugheit“ ableiten lässt.
Plinius der Jüngere (62 - 113) in seinem umfänglichen Briefwechsel mit Trajan, aus dem sich zumindest die Maximen der damaligen römischen Regierungs“kunst“ einigermaßen rekonstruieren lassen, z.B. in Trajans Antwort auf den berühmten „Christen-Brief“, dass man keine anonymen Anzeigen beachten (non nostri saeculi est) und nicht eigens nach Christen fahnden solle.
Marc Aurel (reg. 161 - 180): „Selbstbetrachtungen“. Eher in sich gekehrt (Stoiker), aber auch mit einer schönen Maxime:
„Hoffe nicht auf Platons Idealstaat, sondern gib dich zufrieden, wenn es ein ganz klein wenig vorangeht, und ziele auf diesen Ausgang, wie gering er auch ist.“
Agapetus (gest. 536, angeblich auch Papst): „De officio regis ad Iustinianum Caesarem“ (Kaiser Justinian I.).
Basileios (Byzanz, reg. 867 - 886): Einiges aus dem großen Gesetzessammelwerk („Basilika“), dem „Procheiron“ und der „Epanagoge“ zu Nutz und Frommen seines Nachfolgers (ob Sohn umstritten) Leo VI. ableiten ließe, dem wir wiederum eine militärlogistische Standardschrift verdanken.
Aegidius Romanus (1247-1316): Drei Bücher „De regimine principum“. Mir nicht näher bekannt.
Engelbert von Admont (1250 - 1331): „Speculum (Spiegel) virtutum moralium“ (um 1300). Auch nicht.
Die weiteren Mittelaltler sind mir ebenfalls nicht näher bekannt. Dass der Inder ein Meisterstück abgeliefert hat, vor allem, was das Abstraktionsvermögen angeht, ist wohl unstreitig. Ein gewisses Misstrauen bzw. Unbehagen bleibt doch, zumindest, was die Chronologie betrifft und die „Fundumstände“: nur ein Ex. und das rein „zufällig“ gefunden? Noch dazu auf höchst vergänglichem Material? *)
Die Geschichte der Textüberlieferungen ist immer wieder für schier unglaubliche Überraschungen gut, vgl. die Parallele in der Zeit des Humanismus, in der auch jahrhundertelang verschollene Mss. „plötzlich“ in „alten Klöstern“ entdeckt werden, danach Abschrift - und das „Original“ bleibt hinfort verschwunden.
Ein ähnlich mulmiges Gefühl beschleicht (jedenfalls mich) bei Sun Tzu („Kunst des Krieges“). 2400 Jahre zwischen dessen extrem klaren Ausführungen und einem nicht minder klaren Clausewitz?
Dennoch: Hut ab vor dem Inder! Und nochmals besten Dank an @Popeye für die Zusammenstellung und die dazu gefügten zahlreichen Links, die geradezu einen ganzen neuen Kosmos zu erschließen halfen.
Herzlichen Gruß!
*) Die Materialfrage ist ein Kapitel für sich, vor allem, was den ganzen Komplex „Finanzen und Wirtschaft“ angeht. Bei Palmblättern ist das so eine Sache, zumal in einer Monsun-Gegend, aber wer weiß?
Aus Mesopot haben wir immerhin (dank der robusten Tontafeln) inzwischen sogar die „Börse von Babylon“ in zeitlichem Ablauf (da kalenderartig) aus einer Zeit, die knapp vor dem Inder liegt, erhalten und in einer bereits hier besprochenen sauberen Arbeit rekonstruiert.
Aus der westlichen Antike zwei Beispiele:
- Umfangreiches Material bieten die umfangreichen Zenon-Papyri (3. Jh. BC, ca. 2000 Stück), die sich aber nur im trockenen Wüstensand einer Oase erhalten konnten.
- Und vor allem die griechische Epigraphik (Stein!), aus deren Zusammenstellung der große Gelehrte August Böckh seine mit Tausenden von Zahlen gespickte „Staatshaushaltung der Athener“ ab 1817 publizieren konnte (abdeckend 5./4. Jh. BC)

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